Redetext zur Ausstellung und Buchvorstellung:
mauern _Stadtmauer | Fragmente 2023
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Prof. Katja Pfeiffer
| Professorin für Kunst an der Bergischen Universität Wuppertal
Übung vor Originalen
mit Susanne Krell, Künstlerin und Patrick Holzapfel, Autor
in der Galerie am Bollwerk Neuruppin am 27. April 2023
Es gibt eine ganze Reihe von Redensarten zu Mauern und Wänden.
Man kann mit dem Rücken zur Wand stehen oder mit dem Kopf durch sie durch. Man kann den Teufel an die Wand malen, sie mit Narrenhänden beschmieren oder die Wände hochgehen. Jemanden an die Wand spielen oder gar stellen kann man leider auch. Manchmal geschieht so etwas, wenn die Wände Ohren hatten.
Wenn Wände also reden könnten, dann hätten sie viel zu erzählen.
Und vielleicht können sie das ja auch, wie wir im weiteren Verlauf des Abends versuchen werden heraus zu finden.
Jedenfalls wenn diese Neuruppiner Stadtmauer reden könnte, da fragt man sich, was die als erstes erzählen würde. Wenn ich die Ruppiner Stadtmauer wäre, würde ich auf jeden Fall erzählen, wie sie dereinst sehr brachial und hastig in Teilen eingerissen wurde, um nämlich bei dem großen Brand Zugang zum Löschwasser des Sees zu schaffen. Und vielleicht lief dieser arme Teufel, der die ganze Stadt durch Anzünden seiner Pfeife dem Inferno ausgeliefert hat, einige Jahre mit dem Kopf gegen die wieder aufgebaute Wand. Bis er seine geplagte Seele am Ende seines Lebens bei seinem Beichtvater erleichtern konnte, wie der zylinderbewehrte Stadtführer erzählt.
Dass Susanne Krell diese Mauer ins Visier genommen hat, ist bezogen auf ihr Lebenswerk jedenfalls folgerichtig, denn sie ist jeweils zutiefst verbunden mit den von ihr gewählten Orten bzw. den Orten, durch die das Leben sie führt. Da, wo sie sich aufhält, findet sie die spannendsten Oberflächen und wir blicken auf eine beachtliche Sammlung von berührten Oberflächen. Über 800 Orte in knapp 30 Ländern wurden bereist, wenn ich mich nicht irre, darunter New York, Rom, Paris, Istanbul, Jerusalem, Moskau, Teheran und Neuruppin.
Ausgerechnet Neuruppin wurde aufgenommen in die Weltreise der Frau Krell. Die Künstlerin hat sich, wie sie selbst sagt, verliebt in diese Stadt, hat sie als ihren neuen Lebensmittelpunkt gewählt und sie vermittelt durch ihre Arbeit den Betrachtenden eine subtile Möglichkeit diese Liebe zu teilen.
Dieser Wunsch, dass die Menschen Anteil haben mögen, zieht sich neben dem technischen Mittel der Frottage seit den Schlüsselwerken zu den Dolmen von Carnac in der Bretagne
durch die Arbeit von Susanne Krell. Viele ihrer Werke bergen als performatives Element unterschiedliche Möglichkeiten der Teilhabe. Eine solche Form der Partizipation ist in den bildenden Künsten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts mindestens im Gehabe der westdeutschen Malerfürsten ein eher seltenes Element.
Erst jüngst findet eine junge Künstler*innengeneration zu den Vorteilen des gemeinsamen Arbeitens zurück. Susanne Krells Arbeiten sind somit wegweisend durchlässig, denn es geht ihr vielfach darum, zur Mitgestaltung aufzufordern. Folgerichtig hat sie mich denn auch nicht eingeladen, in Form des Frontalunterrichts einen Vortrag zu halten, sondern wünschte sich eine andere Form. Zu dieser kommen wir gleich, nachdem Patrick Holzapfel einen Auszug aus seiner literarischen Verarbeitung der Ruppiner Stadtmauer gelesen hat.
Patrick Holzapfel liest aus seinem Essay
Das Format „Übung vor Originalen“ ist quasi der Montessori unter den Universitätsveranstaltungen. Nach dem Motto „Hilf Dir Dir selbst zu helfen“ lädt man die Studierenden ins Museum ein, sich vor dem Original eigene Gedanken zu machen und in der Gruppe mithilfe der Schwarmintelligenz zu neuen Erkenntnissen zu kommen.
Wenn ich hier grob den Altersdurchschnitt überschlage, komme ich zu der Erkenntnis, überwiegend nicht zu der sonst in meinen Kursen üblichen mitzwanzigjährigen woken Künstler*innengeneration zu sprechen.
Das heißt, Sie hier alle denken sich einerseits vielleicht, wieso spricht die Frau Pfeiffer Künstler*innen so komisch aus und zweitens werden die meisten hier sich fragen, wie sie Kunst denn sonst anschauen sollen wenn nicht im Original.
Das ist nicht mehr selbstverständlich. Die so genannten “digital natives“ haben zwar schon mehr Bilder in ihrem Leben konsumiert als die meisten von uns, also den vor den achtziger Jahren Geborenen. Aber sie haben sie in der Regel in digitaler Form wahrgenommen. Außer von Instagram kennen viele junge Menschen Kunstwerke nur noch aus dem Merchandising und wundern sich dann, dass die echten Seerosen von Monet doch tatsächlich nicht DIN A 3 groß sind, so wie der Wandkalender, auf dem sie üblicherweise abgedruckt werden.
Es gibt Kleinkinder, die heute versuchen die Seiten in ihren Bilderbüchern zur Seite zu wischen, anstatt sie zu blättern. Die Fähigkeiten, mit Materialien zu hantieren und am Material Erkenntnis zu gewinnen, schwinden. Dies stellt im Zuge der Digitalisierung einen echten Paradigmenwechsel dar und wir sind gerade erst dabei, die Folgen für die Menschheit kennen zu lernen.
Sie hier, so schätze ich, sind noch geübt im Umgang mit Originalen. Daher möchte ich nun Ihren Blick allmählich auf die Wände im Bollwerk richten, um mit Ihnen durch das Befragen der Bilder zum Kern der Werke von Susanne Krell zu finden. Ich mische nun also ein paar Fragen unter meinen Vortrag und würde mich freuen, wenn ein paar Unerschrockene sich dazu auch äußern.
Zunächst möchte ich Sie allerdings noch zu Ihrem Verhältnis zu Reliquien im weitesten Sinne befragen. Da der Katholizismus in dieser Region aus mehreren historischen Gründen den Geist ziemlich aufgegeben hat hier nochmal die Einordnung. Eine Reliquie ist ein Überrest vom Körper eines Heiligen oder Gegenstand, der mit ihm in Zusammenhang steht und verehrt wird. Neuzeitliche Reliquien werden manchmal in großen Auktionshäusern versteigert. Marilyn Monroes Kleid, in dem sie John F. Kennedy zum Geburtstag gratuliert hat, kam beispielsweise auf 1,27 Millionen Dollar. Der 9.500 Euro Gebrauchtgolf von Joseph Ratzinger ging hingegen, nachdem er zu Papst Benedikt geworden war, bei Ebay schon für 190.000 Euro in neue Hände über.
Daher meine kleine Umfrage – bitte zum warm werden einfach die Hände heben:
Wer von Ihnen glaubt, dass Dinge mehr sein können als ihr bloßer Materialwert?
Wie viele von Ihnen besitzen ein Ding, dem der Geist der bereits verstorbenen Verwandtschaft anhaftet?
Und wer von Ihnen wagt, eine Idee zu äußern, warum das so ist?
Was können die Gegenstände in sich bergen, das ihnen ideellen Wert verleiht?
Bemerkungen der Besucher*innen
Welche Bedeutung messen Sie in diesem Zusammenhang Gebrauchsspuren, Abnutzung und Patina zu?
Wer von Ihnen hat Spuren seiner Kinder, sonstiger Verwandter und / oder Haustiere im Haus nicht getilgt, weil sie Sie an etwas erinnern sollen?
Wer möchte ein Beispiel nennen?
Wer von Ihnen besitzt einen Gegenstand, der eigentlich ein bisschen kaputt ist, den Sie aber trotzdem behalten?
Können wir auch hierfür ein Beispiel haben?
Bemerkungen der Besucher*innen
Wir nähern uns mit diesen Fragen übrigens ein wenig dem Zen Buddhismus.
Es gibt im Japanischen ein ästhetisches Konzept, das nennt sich Wabi Sabi. Eine quasi unübersetzbare Wortverbindung aus Verlorenheit und Patina. „Im Vergänglichen das Schöne schauen“, trifft es vielleicht ganz gut. Im Zusammenhang damit steht auch das Kintsugi, die Kunst zerbrochene Schalen mit Goldverbindungen wieder zu reparieren. Hier werden die Brüche nicht etwa versteckt, sondern besonders wertvoll und auffällig. Übrigens, wer aufmerksam durch die Ausstellung streift, wird auch ein wenig solches Gold finden.
Vor diesem ganzen Hintergrund:
Was glauben Sie? Drei Fragen:
Wer oder was hinterlässt Spuren in steinernen Bauwerken?
Kann Gemäuern ein Geist innewohnen?
Können Steine Narben haben?
Irgendwelche Ideen bzw. wer kennt ein Beispiel?
Bemerkungen der Besucher*innen
Wir haben also miteinander eine Idee davon, dass Gegenstände, Gebäude und Orte eine eigenartige Speicherkapazität haben für die Vergangenheit. Für die Zeit und für die Kulturen, die mit ihnen umgegangen sind.
Die nächste Frage ist nun, wenn wir das wissen oder ahnen:
Wie können wir dieses Wissen transportieren?
Wie erklären Sie jemandem einen ideellen Wert in Abwesenheit des Objekts?
Wie tragen Sie vom Ort seiner Existenz ein Zeugnis fort?
Während Sie über die Antworten reflektieren, gebe ich das Wort noch einmal an Susanne Krell.
Susanne Krell benennt die Orte, an denen die ausgestellten Frottagen erstellt wurden
Wer von Ihnen möchte nun also erzählen, auf welche Arten und Weisen er oder sie eine Erinnerung an einen Ort nach Hause getragen hat?
Genau. Etwas mitnehmen ist eine Option. Das eingedeutschte Wort Souvenir kommt aus dem französischen, souvenir als Verb bedeutet „erinnern“.
Wir kennen außerdem das Erinnerungsfoto.
Und dann gibt es noch die Frottage.
Wir lernen im Werk von Susanne Krell dieses Medium der Frottage kennen. Das ist ein grafisches Verfahren, bei dem Papier oder Stoff auf einen strukturierten Untergrund gelegt und ein zeichnerisches Werkzeug wie Bleistift, Kohle oder Kreide darüber gerieben wird.
Max Ernst hat die Technik bekannt gemacht, Picasso und andere haben sie ebenfalls genutzt. Erfunden haben auch die Künstler der Moderne die Vorgehensweise nicht. Viel älter ist sie und um sie anzuwenden, muss man zwingend vor Ort sein. Digital geht das nicht. Bei der Frottage einer Displayoberfläche gibt es keinen Unterschied zwischen Microsoft und Apple.
Die vielen verschiedenen Orte an denen Susanne Krell ihre Papiere ausgelegt und mit Kreide und anderem darüber gerieben hat sind hingegen alle unterschiedlich. Kein Blatt gleicht dem anderen, wie kein Fingerabdruck dem anderen gleicht. Wenn Sie sich dieses Vorgehen einmal vor Augen führen – was ist der Vorteil dieser Technik?
Zu erarbeiten: Nicht invasive Form. Kleines Format. Schnelligkeit. Möglichkeit des Sammelns.
Andere Formen sind eben entweder nur ein Abbild, so die Fotografie, die mit ihrer glatten Reproduktionsoberfläche nichts vom Original birgt oder die Verfahren sind nicht so schonend. Die Europäer haben mit ihrer Freude am Souvenir ja nicht immer moralisch souverän gehandelt. Die halbe afrikanische, ägyptische und griechische Götterwelt wurde in europäische Räuberhöhlen verschleppt, die man fortan Museum genannt hat. Frottagen sind da ganz anders. Sie sind nicht invasiv und dennoch kann man in ihnen etwas ganz Eigenartiges und Einzigartiges nach Hause tragen.
Die Künstler*in, die dieses Prinzip zur Vollendung gebracht hat, ist Susanne Krell.
Wie vor einem Turiner Grabtuch können wir vor ihren Arbeiten erstaunen und denken
- Das Papier hat den Ort berührt!
Darunter sind auch Orte, an die heute keiner von uns hier mehr so leicht kommt. Dürfte schwierig für unsereins sein, derzeit nach Teheran oder Moskau zu reisen und dort an bedeutenden Bauwerken mit Papier und Bleistift herum zu hantieren.
So ist Susanne Krells Sammlung dieser Papiere, die durch alle möglichen Orte der Welt imprägniert wurden, auch ein Zeugnis für den Zustand der Welt.
Eine Reihe schöner Fragen dich ich Ihnen in diesem Zusammenhang mitgeben möchte sind folgende:
Können Kunstwerke Weltoffenheit einfordern?
Und kann das jede*r erkennen?
Welches Wissen braucht es für diese Erkenntnis?
Wird dieses Wissen der jüngeren Generation noch ausreichend vermittelt?
Bevor ich nun allerdings in einen bildungspolitischen Vortrag abrutsche, gebe ich lieber nochmal das Wort an Patrick Holzapfel und seiner Form der literarischen Erkenntnisgewinnung.
Patrick Holzapfel liest aus seinem Essay
Lauscht man diesen Worten und setzt sich ins Verhältnis zur gewählten Sprache, stößt man auf formale Entscheidungen wie in der bildenden Kunst auch.
Welche Worte werden überhaupt verwendet?
Aus welcher Perspektive wird erzählt? Und so weiter.
Zum Ende unserer Übung möchte ich daher zu den formalen Fragen der bildnerischen Umsetzung kommen. Wie macht das Susanne Krell? Welche Entscheidungen trifft sie und da bitte ich das Publikum einmal ganz genau hinzusehen. Es ist interessant, dass man die Qualität einer Künstlerin bzw. eines Künstlers häufig an der Präzision der kleinsten Entscheidungen ablesen kann.
Für welche Rahmung hat sie sich entschieden? Welches Verhältnis haben die Bilder bzw. Objekte zum Rahmen oder zur Vitrine? Wie hängen diese Rahmen überhaupt in der Galerie? Wie viel Luft haben die einzelnen Werke sich zu entfalten? Oder handelt es sich um Serien? In welcher formalen Entscheidung zeigt sich das Serielle?
Was sich über die hier sichtbaren Werke im Gesamtwerk von Susanne Krell überaus deutlich zeigt ist ihre Beharrlichkeit. Nur solche, sehr konsequent durchgeführten konzeptuellen Arbeiten sind schließlich in der Lage immense Kraft zu entfalten. Man denke an Roman Opalka. Der hat sich jeden Tag seines Lebens in derselben Pose fotografiert und jeden Tag immer blasser werdende Zahlen auf Leinwände geschrieben bis diese am Ende seines Lebens fast ephemer in der Leinwand verklungen sind. Und irgendwann mit seinem Tod bricht das Zählen ab. Hätte der mal ein paar Jahre ausgesetzt, wäre die ganze Arbeit kaputt gewesen.
Susanne Krell ist mit ihrem Werk und der weltweit größten nummerierten Sammlung an Frottagen ähnlich obsessiv. Und eine solche Obsession macht vor nichts halt. Man kann das am vorliegenden Katalog sehen. Es ist ein ziemlicher Aufwand einen Prägedruck zu erstellen. Aber mit keiner anderen formalen Geste hätte Susanne Krell sich sonst zufrieden gegeben und keine hätte stärker verdeutlichen können, um was es ihr geht:
Das hier und jetzt. Um Material und Haptik. Die Möglichkeit zur Berührung und das Phänomen dadurch eins zu werden mit dem Gegenüber und sei es nur durch die Fingerspitzen.
Wie viel Glück eine bloße Berührung verheißen kann, sieht man auch beim Besuch des Petersdoms, bzw. bei der massiven Bronzefigur des heiligen Petrus. Dessen rechter Fuß ist fast bis zur Unkenntlichkeit verkleinert, da über die Jahrhunderte so viele Pilger mit ihren Fingerspitzen darüber gefahren sind.
In diesem Sinne lassen Sie die Ausstellung auch eine Erinnerung an die Macht der Berührung sein im weitesten und im übertragenen Sinne. Zuletzt gebe ich nochmal das Wort an Susanne Krell zurück.
Susanne Krell benennt die Beteiligten an diesem Projekt und sagt Dank
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Einführung in die Ausstellung Richtung? Welche Richtung? 2023
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Dr. Katharina Popanda
| Geschäftsführerin Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur
Einführung von Dr. Katharina Popanda in die Ausstellung Richtung? Welche Richtung? mit
Arbeiten von Susanne Krell im ART Hotel Kirchheimbolanden am 22. Januar 2023
Ein berühmtes Zitat von Bernhard von Clairvaux besagt: Glaube mir, ich habe es erfahren, du wirst ein Mehreres in den
Wäldern finden als in den Büchern; Bäume und Steine werden dich lehren, was kein Lehrmeister dir zu hören gibt.
Bereits Bernhard von Clairvaux wusste, dass Steine ebenso Geschichten erzählen können wie Bücher. Geschichten, die man
nur zu hören vermag, wenn man sich dem Stein mit Ruhe und Konzentration und aufrichtigem Interesse zuwendet – so, wie es
Susanne Krell seit vielen Jahren in Ihrer künstlerischen Arbeit tut.
Susanne Krell wurde in Betzdorf im Westerwald geboren, studierte in Koblenz, Tübingen, Wolfenbüttel und Bonn u.a.
Kunsttheorie und Philosophie. Sie ist Mentorin im Netzwerk des Mentoring-Programmes für Bildende Künstlerinnen des Landes
Rheinland-Pfalz und vertritt den Berufsverband Bildender Künstler und Künstlerinnen in Rheinland-Pfalz im Beirat des
Künstlerhauses Schloss Balmoral. Heute lebt sie in Neuruppin.
Susanne Krell wurde u.a. mit dem Ida-Demel-Kunstpreis der GEDOK ausgezeichnet und sie ist regelmäßig an
Kunst-am-Bau-Projekten als Jurorin und Kuratorin beteiligt. Dass ihre Dokumentation zu den Frottage-Arbeiten aus Lemberg
in der Ukraine, auf die ich später noch zu sprechen komme, auf die Shortlist des KOLGA Tbilisi Foto Award in 2022 gekommen
sind, ist ebenfalls eine enorme Anerkennung ihrer Arbeit.
Hört man Susanne Krell über Ihre Arbeit sprechen, so wird direkt deutlich: sie ist Künstlerin mit Herz und Seele,
sie liebt was sie tut und sie hat einen anderen Blick für Baudenkmäler, Architekturen und Steinobjekte. Ich würde es fast
so beschreiben, dass Sie diese nicht sieht, sondern eher erfühlt und während Ihrer Arbeit am Objekt gleichzeitig auch der
Zeit nachspürt in der sie entstanden sind. Nie ist man dem Stein so nahe, wie bei der Frottage“ – sagt Susanne Krell, und
sie hat Recht. Und sie ergänzt: „…ohne ihn zu zerstören! – das ist ihr wichtig.
Denn sie arbeitet direkt an, bzw. auf der Oberfläche und nimmt die vorbereitete Leinwand oder ein Tuch, legt es auf und
überträgt mit Kreide die Struktur auf den Bildgrund. Diese Technik nennt man Frottage. Hierbei handelt es sich um eine
Durchreibetechnik, die in der Kunst insbesondere durch den Surrealisten Max Ernst im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts
bekannt wurde.
Dabei gibt der Untergrund selbst vor, wann die Arbeit fertig ist. Zu dem Zeitpunkt nämlich, wenn keine weiteren Strukturen
erscheinen und alles abgebildet ist, was auf der Oberfläche des Objektes zu finden ist.
Die Technik sehen Sie besonders schön an der Arbeit Barockgarten Kirchheimbolanden aus 2021 im Foyer. Links die
Frottage und rechts die Weiterentwicklung zu einer digitalen Collage in die die ursprüngliche Frottage integriert wurde.
Drei technische Schwerpunkte, die sich mit der Zeit entwickelt haben, gibt es in ihrem Oeuvre:
• Weißer Grund und schwarze Kreide – wie bei der Arbeit Barockgarten Kirchheimbolanden,
• Blau-Gelber Grund und schwarze Kreide – wie bei der Arbeit unten im Eingangsbereich zum Konrad-Adenauer-Haus
in Bonn,
• oder schwarzer Grund mit silberner Kreide – wie bei den Arbeiten aus Lemberg, die hier in Form einer
Fotodokumentation im Treppenhaus gezeigt werden.
Aber auch Arbeiten mit Tüchern sind entstanden, wie sie beispielhaft hier auf dieser Etage noch zu sehen sind.
Diese Ausstellung beschäftigt sich bei den ausgestellten Arbeiten im Treppenaufgang – insgesamt drei Serien – mit großen
und schwierigen Themen, die zum Nachdenken anregen.
Im oberen Zwischengeschoss beschreiben die Arbeiten in einer Serie sinnbildlich die angespannte politische Lage innerhalb
Europas mit dem Titel european depression. Beeindruckende Fotoarbeiten von Frottagen, die Susanne Krell an Gebäuden in
Budapest, Maastricht, Posen, Berlin und Bonn gefertigt hat – allesamt an Gebäuden, die heute nicht mehr existieren, da sie
abgerissen wurden. Die Gebäude sind zerstört und mit ihnen die Frottagen der Künstlerin. Vergänglichkeit, Zerstörung,
Zerfall – verbunden mit einer Traurigkeit über das, was man verloren hat. Ein kleiner Hoffnungsschimmer allerdings bleibt,
denn: Wo altes geht, kann neues entstehen – sagt Susanne Krell.
In einer anderen Reihe – ein Zwischengeschoss tiefer – werden Fotoarbeiten zu ihren Frottagen aus Lemberg in der Ukraine
ausgestellt. Ob die Gebäude an denen Susanne Krell gearbeitet hat den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine überstehen
werden ist ungewiss.
Der befürchtete Verlust des barocken historischen Erbes wäre immens und fürchterlich. Charakteristisch sind die barocken
Gebäude der Altstadt, die dem UNESCO Weltkulturerbe angehören. Susanne Krell hat diese Gebäude auf ihre künstlerische Weise
festgehalten und Frottagen vor Ort gefertigt. Allerdings anders als bisher, denn in Lemberg fand sie wunderbares schwarzes
Papier und feine, silberne Kreide. Beides war das Material für die Arbeiten vor Ort, beschloss sie und so entstanden
insgesamt 33 Frottagen an den historischen Gebäuden der Stadt. Die hier ausgestellte Fotodokumentation hält den Moment
des Entstehens fest. Acht der 33 Frottagen finden sich derzeit ausgestellt im Präsidialbüro der Landtagspräsidentin des
brandenburgischen Landtages. Die Arbeiten sind in jedweder Hinsicht wertvoll und sie bewahren ein Stück Geschichte der
Stadt Lemberg in der Hoffnung, dass die frottagierten Gebäude auch noch in vielen Jahren in situ diese Geschichte erzählen
zu können.
Plakativ konzentrieren sich Kritik und Frage zugleich in der nächsten Reihe im untersten Zwischengeschoss mit dem Titel
Zeigende Männer, die in unterschiedlichen Jahren entstanden sind und Teil einer Sammlung von Fotographien
historischer Denkmäler vom 17. bis zum 20. Jahrhundert umfasst. Und da sind wir bei dem Titel dieser Ausstellung Richtung?
Welche Richtung?. Eine Frage, die derzeit erschreckend aktuell ist und gestellt werden muss.
Betrachtet man die Fotographien so ist die Richtung klar. Der Blick des Betrachters wird in die entsprechende Richtung
gelenkt in die es energisch zu folgen gilt. Die Besonderheit an diesen Arbeiten liegt im Blick der Künstlerin hinter der
Kamera.
Alle Denkmäler – alle zeigenden Männer – werden in gewisser Weise fotographisch vom Sockel gestoßen – denn der Sockel
ist auf den integrierten Fotographien kaum oder nicht zu sehen. Darüber hinaus ist der Fokus der Fotos so ausgelegt, dass
nur ein Teilausschnitt zu sehen ist, der sich auf die Richtungsweisung konzentriert. Überdies werden die Denkmäler in Form
der Fotos durch sich selbst – in Form der darübergelegten Frottage – in den Hintergrund gedrängt.
Die mit dem Denkmal insgesamt beabsichtigte Erhöhung des Dargestellten wird so ins Gegenteil verkehrt und kommt einem
kleinen, historischen Sockelsturz mit Augenzwinkern gleich.
Ich kam nicht umhin zu überlegen, in wiefern es Denkmäler von zeigenden Frauen gibt. Und in der Tat ist es schwer hier
Vergleiche zu finden – wohingegen die Reihe der zeigenden Männer durchaus problemlos ergänzt werden könnte – beginnend mit
den bronzenen Reiterdenkmälern der Renaissance. Frauen findet man bis zum 19. Jahrhundert eher selten auf einem Sockel. Als
Allegorie vielleicht, als historische Persönlichkeit eher nicht.
Seit einigen Jahren wird gleichermaßen von Männern wie von Frauen ein Fokus auf die Gleichberechtigung der Geschlechter
im Kunst- und Kulturbereich gelegt. Wie wichtig auch dieser Schwerpunkt ist, hat meine Arbeit in einer EU weiten Arbeitsgruppe
zum Thema gender equality in cultural and creative sectors gezeigt.
Gerade in der Tatsache, dass es kaum bis keine weiblichen Pendants zu den zeigenden Männern in der Geschichte historischer
Denkmäler gibt, macht die Fotoserie von Susanne Krell noch spannender.
Die Reihe Zeigende Männer ist nicht bequem, sondern darf einen Diskurs über die Frage, in welche Richtung wir uns
auch in Bezug auf die Gleichstellung aller Geschlechter bewegen, anstoßen.
Nina Hruebsch aus Nürnberg hat im Rahmen ihres Projektes mit dem Titel Die Unsichtbaren sich zu diesem Thema wie
folgt geäußert: Es geht darum, auf Leerstellen aufmerksam zu machen. Jahrhundertelang wurden Frauen nicht als handelnde Subjekte
wahrgenommen und als Leistungsträgerinnen nicht gewürdigt - das hatte und hat noch immer Auswirkungen auf das heutige
Frauenbild.
Allerdings – und das war eine grundlegend wichtige Aussage des Arbeitsberichtes meiner EU-Tätigkeit – bedarf es der Vielfalt
der Gesellschaft um die Gleichstellung der Vielfalt in der Gesellschaft zu erlangen.
Ein anderer Aspekt ist allerdings auch in diesen Arbeiten enthalten, denn ein Faktum ist, alle Denkmäler zeigen Personen,
deren Namen man kennt oder historisch zumindest bestimmen kann. Ein Zitat von Walter Benjamin geht mir dabei nicht mehr aus
dem Kopf: Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist
die historische Konstruktion geweiht.
Benjamin gibt damit einen Hinweis, dass Geschichte nicht per se etwas ist, das passiert, sondern etwas, das konstruiert
bzw. rekonstruiert wird. Er sagt, dass es notwendig ist eine Geschichte zu rekonstruieren, die die Interessen der Namenlosen
berücksichtigt. Damit votiert Benjamin dafür eine Geschichte von „unten“ zu schreiben. Somit wird Abschied genommen von einer
Geschichtsschreibung, die sich nur an den Interessen und Köpfen der Reichen, Mächtigen und Großen orientiert. Die
Namenlosen – die Namenlosen in der Zeit des Nationalsozialismus, aber eben auch in der Geschichtsschreibung
generell - geraten schnell in Vergessenheit wogegen Benjamin votiert.5 All´ die Namenlosen, die Opfer des Angriffskrieges
Russlands auf die Ukraine sind, dürfen nicht vergessen werden. Ihre Geschichten müssen erzählt werden und unser aller
Aufgabe ist es, dass in der eigenen Macht stehende zu tun, um zu helfen und zu unterstützen.
Kommen wir nun zur letzten Serie an farbenfrohen und sehr ästhetischen Arbeiten, die in dieser Ausstellung gezeigt
werden:
Die Reihe Zwischendrin ist 2021 in Kirchheimbolanden entstanden und wird ab jetzt auch in Kirchheimbolanden als
Kunstwerk des Jahres 2023 bleiben. Zum Kunstwerk des Jahres gratuliere ich Ihnen, liebe Susanne Krell, und auch dem Art
Hotel Braun ganz herzlich!
Kirchheimbolanden ist reich an kulturellem Erbe, besonders der barocke Terrassengarten, der liebe- und mühevoll
ausgegraben und wieder erschlossen wird, ist hier zu nennen.
An dieser Stelle begrüße ich ganz herzlich Tatjana Fuchs, die Projektleiterin des Arbeitskreises Barocker
Terrassengarten in Kirchheimbolanden.
In 2021 jährte sich in diesem Kontext das interkulturelle Dialogprojekt der Eberhard-Schöck-Stiftung zwischen
Steinmetzen der Meisterschule aus Kaiserslautern und den Bildhauern aus Lemberg in der Ukraine zum 10. Male. Ein Projekt,
das von Frau Dr. Lydia Thorn-Wickert und Ihrer Agentur Thorn-Art initiiert wurde. Eine Kooperation, die insbesondere
den künstlerischen und fachlichen Austausch im Bereich der Steinbildhauerei zur Rekonstruktion des barocken
Terrassengartens zum Ziel hat und gleichzeitig den interkulturellen Austausch auf Fachebene förderte.
Anlässlich des damaligen Jubiläums wurde Susanne Krell nach Kirchheimbolanden eingeladen, um sich mit der Geschichte,
den Denkmälern und den Steinen Kirchheimbolandens künstlerisch auseinanderzusetzen. Frottagekünstlern ist es zu eigen,
historische Objekte, die frottagiert werden, in eine zeitgenössische Sprache zu übersetzen und so Vergangenheit in die
Gegenwart zu transportieren.
Die kleinformatigen Arbeiten aus der Reihe Zwischendrin verbinden in einer digitalen Collage Orte, Bauwerke
und auch Denkmäler aus Kirchheimbolanden durch Fotos, Stiche oder Frottagen mit Frottagen von anderen Orten, die in einem
historischen Kontext stehen. Das Archiv von Susanne Krell umfasst mittlerweile rund 1.500 Frottagen aus unterschiedlichsten
Ländern und von unterschiedlichsten Orten.
Die Arbeiten sind vielschichtig. Und genau das ist es, was Susanne Krell aufblättert – Schicht, um Schicht um Schicht,
die zunächst hoch konzentriert vor Ort am Bauwerk, am Stein, entstehen, um dann nicht selten im nächsten Schritt künstlerisch
digital in Collagen zu einem bestimmten Thema mit anderen Bildbestandteilen verwoben werden.
Neben der technischen Bearbeitung, die verschiedene Ebenen im Bild verwendet, gibt es aber noch die inhaltliche und
historische Ebene, die man nicht auf den ersten Blick in den Arbeiten von Susanne Krell sehen kann, die aber existiert.
Daher lohnt es, sich mit den Arbeiten auseinanderzusetzen und im digitalen Ausstellungsguide zu stöbern oder besser noch
mit Susanne Krell selbst zu sprechen.
Die Arbeiten aus der Reihe Zwischendrin sind schöne, kleinformatige Werke und man fragt sich, wie sie zu den
thematisch schwereren Arbeiten im Treppenaufgang passen können. Die Antwort von Susanne Krell lehnt sich an Susan Neimann
an: Schönheit ist eine Form des Widerstandes, ein Versuch, uns an unsere Ideale zu erinnern, die uns gegen Gewalt- und
Machtstreben aufbegehren lassen.
Kunst ist Ausdruck der Gesellschaft, des Lebens, der Umgebung des Moments in dem sie entsteht. Kunst kann überdauern und uns
auch Jahre später viel über die Zeit verraten aus der sie stammt. Kunst ist wichtig und wird von Künstlerinnen und Künstlern
geschaffen, die innerlich dazu berufen sind und ihr Leben der Kunst widmen.
Ihnen allen wünsche ich nun viel Freude beim Betrachten der Arbeiten, vielleicht ein wenig langsamer und intensiver als
sie es sonst tun würden mit dem Blick für die Details und einem Gedanken dazu, wie die Geschichte dahinter aussehen könnte.
Abschließen möchte ich mit einer Frage, die Susanne Krell zurecht stellt und die mich seit der Geburt meines Sohnes im
letzten Jahr hier in Kirchheimbolanden noch viel mehr bewegt: Was beschützen, pflegen oder behüten wir?[...]für die
Zukunft?.
Dankeschön Susanne Krell und herzlichen Glückwunsch zum Kunstwerk des Jahres 2023 hier im ART Hotel in Kirchheimbolanden!
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Kunst und Orte 2022
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Dr. des. Anne-Kathrin Hinz
| Kunsthistorikerin Universität Bonn
Impulsvortrag
wasser brot und kunst // 006 // Kunst und Orte
Sechster Abend der Diskussionskultur
Heute soll es also um das Verhältnis von Kunst und Ort oder Orten; von Orten und Kunst und um den KunstORT, also das Atelier,
das Museum, der öffentliche Raum und Ähnliches gehen. Dabei befinden wir schon an einem Ort, nämlich dem Künstlerinnen-Atelier
und sind dabei umgeben von Arbeiten, die an anderen Orten entstanden sind. Diese Arbeiten von Susanne Krell, die uns heute
dankenswerter Weise in ihr Atelier eingeladen hat, werden mir in meinem kurzen Vortrag als Ausgangspunkt dienen, um daran ein
paar grundlegende Überlegungen zur Bedeutung des „Ortes“ für die bildende Kunst, aber auch für die Erinnerung, das Gedächtnis
und für Geschichte anzuschließen.
Seit 1991 fertigt Susanne Krell Frottagen von Orten, von Räumen, Plätzen, Straßen und Gebäuden an. Frottagen entstehen
durch ein grafisches Verfahren, bei dem Papier oder Stoff auf einen strukturierten Untergrund gelegt und ein zeichnerisches
Werkzeug wie Bleistift, Kohle oder Kreide darüber gerieben wird. Das Ergebnis zeigt den Durchrieb der Oberflächenstruktur.
Susanne Krell geht also zu verschiedenen Orten, legt ein Papier auf einen festen Untergrund, reibt ein Stück Kreide über das
Papier und erhält so ein authentisches Bild einer Oberfläche. Es handelt sich also nicht um ein Abbild wie es zum Beispiel
durch Fotografie entsteht, sondern vielmehr um das Ergebnis eines bildgebenden Verfahrens, bei dem das Vorbild, also der
Ort, der quasi abgebildet wird, tatsächlich berührt wurde. Anschließend werden die Blätter nummeriert und mit dem Namen ihres
Ursprungsortes betitelt und in eine stetig wachsende Sammlung aufgenommen. Die Frottage ist dabei aber nicht nur eine Methode,
die es ermöglicht, ein Bild von einem Ort zu erzeugen, sondern sie ist Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit, in der die
erzeugten Formen aus Punkten, Strichen und Linien auf Papier zwar nicht in dem Sinne benennbar sind, dass sie ein Haus, eine Tür,
eine Bodenplatte darstellen würden, aber ihre Herkunft stets belegbar ist.
Wird dieser Umstand weiterverfolgt, so wird klar, dass das Interesse bei den Frottagen nicht nur den durch Abrieb von Kreiden
entstandenen ungegenständlichen Strukturen gilt. Es richtet sich vielmehr auf die Orte, an denen sie entstanden sind. Es geht um die
Vorstellungen, Ideen, Konzepte und Erinnerungen, die unsere Kultur und Geschichte den jeweiligen Orten eingeschrieben hat. Durch die
Berührung, also das Vor-Ort-Gewesen-Sein, wird die Frottage zu einem bildhaften Beleg, der die mit dem Ort verknüpften Ideen mitträgt
und sogar die Geschichte und den Zustand eines Ortes zu einem bestimmten Zeitpunkt konserviert. Wird dann der Herstellungsort benannt,
kann sich unweigerlich ein weites Feld an Assoziationen, Erinnerungen und Vorstellungen eröffnen, das sowohl durch die Nennung der
Orte als auch durch die Ästhetik der eigentlich nicht benennbaren Formen entsteht. Dieses Ineinandergreifen von ästhetischen Mitteln,
von Orts- aber auch Zeit-Bezügen liefert die Grundlage für die konzeptuelle Arbeit von Susanne Krell. Sie spürt die Ideen, Konstruktionen
und Geschichten auf, die sich mit den Orten verbunden haben.
Mit der Frottage als Medium wird es wiederum möglich, von nahezu jedem Ort, der aufgesucht wird, einen Durchrieb zu erzeugen. Das
handliche Format kann überall mit hingenommen und aufgelegt werden. Im Umkehrschluss setzt die Technik aber auch den tatsächlichen
Kontakt mit dem Ort oder der Oberfläche voraus. Das Sammeln der Frottagen ist also ein Prozess der Aneignung wie auch der Annäherung
an bestimmte Ideen, Geschichten und Realitäten, aber auch an die Orte selbst.
Ich möchte
nun gern einen Blick auf die Arbeiten werfen, von denen wir heute hier umgeben sind. Einige davon sind im Jahr 2019 entstanden,
als Susanne Krell auf Reisen in Lviv war. Wie üblich, hatte sie einen Satz Papiere und Kreiden dabei. Sie entschied sich diesmal aber
nicht wie sonst für weißes Papier und dunkle Kreide, sondern für schwarzes und eine silberne Kreide. Es entstanden insgesamt 33 Frottagen,
die wir hier an den Wänden sehen. Dazu zeigen einige Fotos die Künstlerin bei der Arbeit vor Ort – vor Ort, das heißt in diesem Fall unter
anderem das Gebäude der National Oper, das dem ukrainischen Schriftsteller gewidmete Ivan Franko Monument, die Dominikaner Kathedrale oder
das Denkmal für die Opfer des Jüdischen Ghettos. Allein anhand der genannten Orte wird deutlich, dass wir hier eine „Geschichte“ der Stadt
Lviv vor uns haben. Die Geschichte der Stadt, die heute zum UNESCO Weltkulturerbe zählt, ist geprägt von unterschiedlichen Ethnien, die dort
über Jahrhunderte gelebt und das Gesicht der Stadt maßgeblich bestimmt haben. So erklärt sich auch das Nebeneinander von Renaissance-Bau,
barockem Kirchenbau, klassizistischem Rathaus und modernem Hochhaus-Bau vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
Gegenüber sehen wir eine Frottage, die erst vor zwei Wochen an der Karlsburg (auch Vier-Türme-Haus genannt) in Bad Ems entstanden ist.
Dort unterzeichnete der russische Zar Alexander II. am 30. Mai 1876 den Emser Erlass. Dieser Erlass stellte die Verbreitung von literarischen
Publikationen in ukrainischer Sprache im Russischen Kaiserreich unter Verbot und Strafe. Auf einer Staffelei sehen wir eine weitere Frottage
– in diesem Fall auf einem gefärbten Tuch und mit bunten Kreiden ausgeführt –. Sie ist erst vor wenigen Wochen in Wien, am Sitz der Vereinten
Nationen entstanden.
Ich möchte nun gar nicht viel zu den Bezügen sagen, die allein schon aufgrund der aktuellen Situation durch die Frottagen aus Lviv und
ihrer Gegenüberstellung mit der Frottage der Karlsburg in Bad Ems aufgerufen werden. Vielleicht nur ganz knapp eine Gedanken dazu: Die Bilder
(Frottagen und Fotos) aus Lviv verdeutlichen uns die spannungsvolle Geschichte einer Stadt, die sich bis heute an unterschiedlichsten Orten
manifestiert und auch durch bestimmte Denkmäler und Monumente Teil der ukrainischen, aber auch der europäischen Erinnerungskultur sind.
Gleichwohl zeigt sich darin im allgemeinen Sinne, wie eine Stadt als Ort funktioniert: Eine Stadt und das, was sie ausmacht, also ihr
Charakter, befindet sich stets in räumlicher und zeitlicher Bewegung und entsteht immer wieder neu.
Es wird also spätestens jetzt klar, dass die im Raum vorgenommene Präsentation der Frottagen, den Ort und seine jeweilige Geschichte
zum Dreh- und Angelpunkt erklärt. Wir sehen, wie sich netzartig die komplexen Verbindungslinien zwischen den Orten ziehen lassen und
sich Referenzen und Verknüpfungen zwischen den kulturellen Ideengebäuden und Einzelgeschichten der Orte entwickeln.
Der Ort, der ja Ausgangspunkt für das weitere Arbeiten, aber eben auch stets der fixierte Ursprungsort der Arbeiten von Susanne Krell
ist, ist hierbei ein ganz zentraler Begriff, der nun schon so häufig genannt wurde und der nun noch einmal genauer betrachtet werden soll.
Mit dem Begriff sind zunächst simple Fragen verbunden: Wir können uns fragen, was definiert einen Ort? Dazu sind gerade mit Blick auf Lviv
schon einige Stichpunkte gefallen. Wir können aber auch fragen, was unterscheidet einen Ort von anderen Orten, was grenzt ihn ab und vor
allem: wer setzt die Grenzen?
Ganz grundlegend gesprochen ist ein Ort etwas Stabiles, etwas Unbewegtes, vielleicht auch ist er auch nur ein Punkt. Orte haben
unterschiedliche Funktionen: sie trennen, sie vereinen, sie dienen der Begegnung, dem Flüchtigen, dem Anonymen, der Erinnerung, sie dienen
dem Durchgang, dem Transit.
Auch in der bildenden Kunst – nicht nur bei der, von der wir heute umgeben sind – hat der Ort eine spezielle Funktion: Kunst benötigt
einen räumlich definierten Ort, um in Erscheinung zu treten. Das kann, wie wir heute an verschiedenen Formen der zeitgenössischen Kunst
sehen, auch ein virtueller Raum sein. Traditionell handelt es sich dabei aber um einen physischen Ort. Dieser Erscheinungsort von Kunst
wird wiederum von anderen Orten abgegrenzt, z. B. in dem er, wie das Museum, spezifisch für die Präsentation von Kunst geschaffen wurde,
oder wie das Atelier als Ort der künstlerischen Produktion definiert wird.
Gerade das Atelier ist ein besonderer Ort der Kunst. Es ist ein Ort der künstlerischen Praxis, an dem Ideen umgesetzt werden und das
meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aber das Atelier ist – und das sehen wir heute und an diesem Wochenende im Rahmen der Offenen
Ateliers – auch ein sozialer Raum, an dem Besucherinnen und Besucher, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Sammlerinnen und Sammler, andere
Künstlerinnen und Künstler empfangen werden und einen Einblick in die künstlerische Praxis erhalten. Trotz dieser zeitweiligen Öffnung
bleibt das Atelier wie so viele andere Räume ein abgegrenzter und teils auch verschlossener Ort. Dieses Definieren und Abgrenzen eines
Ortes ist ein fundamentaler kultureller Akt.
Wie wir im Fall der Kunst von Susanne Krell sehen, gibt es Kunst, die sich wiederum mit eben diesem Phänomen der kulturellen Bestimmung,
der Definition und Abgrenzung von Orten befasst. Derartige Kunst wird häufig mit dem Begriff der Ortsbezogenheit überschrieben. Wie der
Begriff Ort, ist auch Ortsbezogenheit in der Kunst nicht ganz eindeutig bestimmt – insbesondere in der deutschen Sprache nicht. Im Englischen
gibt es hingegen die Abgrenzung von site-specific und place-specific, die jeweils unterschiedliche Formen der Ortsbezugs beschreiben.
Ortsbezogenheit charakterisiert und beschreibt ganz unterschiedliche künstlerische Arbeiten, die sich zum Beispiel aufgrund der Installation
an einem bestimmten Ort mit dem Ort und seinen spezifischen Eigenschaften befassen. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit dem Ort, für den
das Kunstwerk geschaffen wurde – worin man streng genommen auch eine Gegenposition zu den für Kunst geschaffenen Museumsräumen, also das
institutionalisierte Kunstsystem sehen kann. Die Ortsbezogenheit meint in solchen Fällen also eine besondere Eigenschaft des Kunstwerks.
Wenn wir jetzt aber von diesen räumlichen Beziehungen absehen, dann umschreibt Ortsbezogenheit aber auch Kunst, die sich mit den
räumlichen und sozialen Bestimmungen eines Ortes auseinandersetzt. Derartige Formen der bildenden Kunst befassen sich, wie auch die Arbeit
von Susanne Krell, mit den gesellschaftlichen Aspekten, die zur Bestimmung eines Ortes geführt haben. Es geht also um historische, kulturelle
und soziale Fragen und ganz grundsätzlich um die Frage, welche Funktionen diese Orte, die häufig öffentlich oder zumindest halböffentlich sind,
erfüllen.
In derlei Kunstwerken geht es immer auch um eine Benennung und ein Aufzeigen von An- und Abwesendem. Das heißt, es werden im Werk Dinge
mitgedacht, die wir sehr wahrscheinlich an dem physischen Ort, auf den sie verweisen oder an dem sie auch entstanden sind, nicht sehen können.
Dennoch haben sie (diese Dinge unterschiedlichster Art – soziale, historische etc.) die Funktion und die Erscheinung des Ortes bestimmt.
Um diesen Aspekt des An- und Abwesenden zu verdeutlichen, bietet sich wohl das Beispiel der Denkmäler oder Mahnmale an. Sie erinnern an
einem bestimmten Ort, der z. B. historisch determiniert sein kann, an eine Person oder Ereignis der Vergangenheit. Aber häufig werden wohl
die Spuren des Ereignisses, an das erinnert wird, nicht sichtbar sein. Und auch die Erinnerung an eine Person wird häufig auf nicht mehr
greifbare oder nicht unmittelbar präsente Taten verweisen oder auch auf Verdienste ideeller Art zielen.
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PROJEKT NATUR UND KUNST 2021
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Adina Guarnieri
| Kunsthistorikerin Bozen
Ausschnitt aus
Einführung Klang Farben Atelier 2021 – Alexander von Humboldt
Interdisziplinäre Kunstprojektwoche Villa Oberrauch St. Konstantin | Völs Südtirol
Susanne Krell
Was Susanne Krell macht, ist einen Teil der Landschaft mit nach Hause nehmen. Seit 30 Jahren fertigt sie Frottagen von Wänden, Böden oder Steinen an. Begonnen hat sie damit, als sie die Menhire in Carnac gesehen und sich gefragt hat, weshalb die Menschen diese Felsskulpturen über 4.000 Jahre lang erhalten haben. Diese Frage hat sie mittlerweile auf die gesamte gebaute Umgebung übertragen, weshalb sie die Frottagen als Fingerabdruck eines Ortes abnimmt, um die Idee hinter dem Raum, dem Gebäude oder dem Platz einzufangen. Hinter Architektur steckt immer eine Absicht, denn würden wir uns nicht darum kümmern oder stets das „Unkraut entfernen“, wie Susanne Krell es definiert, dann würde die Natur innerhalb weniger Jahre die Oberhand gewinnen. Der Fingerabdruck einer Wand der Villa Oberrauch ist ihre 741-igste Frottage. Ebenso hat sie Pflanzen gesammelt und mit einem goldenen Alter Ego versehen, was die Frage nach dem Wert der Natur in den Raum stellt.
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Adina Guarnieri
| Storica d‘arte Bolzano
PROGETTO NATURA E ARTE
Tratto da
Introduzione Klang Farben Atelier 2021 – Alexander von Humboldt
Progetto interdisciplinare Villa Oberrauch a San Costantino | Fiè allo Sciliar (BZ)
Susanne Krell
Susanne Krell ha trovato un modo per portare a casa frammenti dei paesaggi che più la colpiscono. Da 30 anni realizza frottage di pareti, pavimenti o pietre. Ha iniziato questa sua attività dopo aver visto le statue steli di Carnac in Francia, risalenti a oltre 4.000 anni fa. Come mai le persone le hanno conservate? L’artista ha poi esteso questa domanda a tutto l’ambiente circostante, cercando una risposta nella realizzazione di frottage, intesi come una sorta di impronta digitale in grado di catturare l’idea determinante di un luogo, un edificio o una piazza. Le architetture non sono mai casuali: sono sempre intrise di intenzioni umane. Se non ci prendessimo cura del costruito – „togliere le erbacce” a detta dell’artista – nel raggio di poco tempo la natura si impossesserebbe nuovamente dello spazio abitato. L’impronta di una parete di Villa Oberrauch è il 741-esimo frottage di Susanne Krell. Inoltre, ha raccolto piante e le ha dotate di un aureo alter ego, il che pone la domanda del valore in natura.
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Gesammelte Geschichte – Zur Kunst von Susanne Krell | Kat. 2020
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Anne-Kathrin Hinz
| M.A. Bonn und Jena
Gesammelte Geschichte – Zur Kunst von Susanne Krell
in:
Katalog zur Ausstellung zur zeit hier | Roentgen-Museum Neuwied | Kat. 2020
I. Abnahmen
Die Frottage ist ein grafisches Verfahren, bei dem Papier oder Stoff auf einen strukturierten Untergrund gelegt und ein zeichnerisches Werkzeug wie Bleistift, Kohle oder Kreide darüber gerieben wird. Das Ergebnis zeigt den Durchrieb der Oberflächenstruktur. Für Susanne Krell ist die Frottage jedoch nicht nur eine Methode, die es ermöglicht, ein authentisches Bild von Oberflächen zu erzeugen. Sie ist Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit, in der die erzeugten Formen aus schwarzen Spuren, Punkten, Strichen und Linien auf weißem Papier zwar nicht benennbar sind, aber ihre Herkunft belegbar ist.(1)
Seit 1991 fertigt die Künstlerin Frottagen von Orten, von Räumen, Plätzen, Straßen und Gebäuden an, die, nummeriert und betitelt mit dem Namen ihres Ursprungsortes, Teil einer stetig wachsenden Sammlung sind. Ihr Interesse gilt dabei also nicht vornehmlich den durch Abrieb von Kreiden entstandenen ungegenständlichen Strukturen. Es richtet sich vielmehr auf die Vorstellungen, Ideen, Konzepte und Erinnerungen, die die menschliche Kultur und Geschichte den jeweiligen Orten eingeschrieben haben. Durch Berührung, das Vor-Ort-Gewesen-Sein, wird die Frottage dabei zu einem Beleg, dessen Strukturen die mit dem Ort verknüpften Ideen mittragen, sogar die Geschichte und den Zustand eines Ortes konservieren.
Ausgehend von den Frottagen, die eine Sammlung von Orten ergeben, gelingt es Susanne Krell, Geschichte und Geschichten zu erzählen. Dabei spürt sie Ideen und Konstrukten nach, erforscht selbst die mit verschiedenen Orten verbundenen Erinnerungen und zeigt den Betrachter*innen ihre Ergebnisse in unterschiedlichsten Ausdrucksformen wie Malerei, Video und Installation. Künstlerische Arbeitsgrundlage bleiben dabei stets die Frottage und die Charakteristik des offenen Kunstwerks, die nicht nur Raum für Assoziationen lassen, sondern auch der Künstlerin die Möglichkeiten zu Variation, Wiederaufnahme und Neuinstallation von einzelnen Werkkomplexen bieten. Gleich ob es sich um die Einzelblätter der „Schwarz-Weiß-Frottagen“, die Frottagen auf blau-gelb grundierter Leinwand oder um raum- und projektbezogene Arbeiten handelt, leiten das künstlerische Konzept drei Begriffspaare, die in einem wechsel- und spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen und auf unterschiedliche Weise Eingang in die Werkkomplexe finden: Welt- und Wirklichkeitsaneignung, Sammlung und Archiv, Idee und Ort.
Erstmals im Jahr 1991 wandte Susanne Krell an den Les Pierres-Plates in Carnac die Technik der Frottage an. Sie legte weißes Papier auf die jungsteinzeitlichen, gravierten Dolmen und rieb ihre Oberflächen mit dunkler Kreide durch. Sie sah darin die Möglichkeit, etwas von der Erscheinung des Ortes mitzunehmen, ohne ihn zu beschädigen; etwas von seiner Einzigartigkeit einzufangen, was ihr mit den Mitteln der Zeichnung oder der Fotografie nicht möglich erschien. Damit gelang eine Annäherung an den Ort, das Schaffen eines Belegs, quasi einer Reliquie, die am Ort gewesen ist, ihn berührt hat, seine Spuren trägt und selbst eine Spur von ihm ist.
Der in der Kunstgeschichte geläufige, im Jahr 1977 von Günter Metken geprägte Begriff Spurensicherung(2) scheint sich hierfür als eine mögliche Kategorisierung der künstlerischen Arbeitsweise anzubieten. Metken fasste damit eine Reihe parallel entstandener Werke verschiedener Künstler und Künstlerinnen, die sich teils (natur-)wissenschaftliche Techniken und Methoden aneigneten und umschrieben, um sich mit Kultur, Geschichte und Erinnerung auseinanderzusetzen. Doch wird mit Blick auf das in den 1990er Jahren weiterentwickelte Werk Krells schnell deutlich, dass der Begriff ihre Arbeitsweise nur unzulänglich beschreibt. Allenfalls sind Parallelen zu Arbeiten Dorothee von Windheims zu ziehen, die beispielsweise mit Tüchern Abdrücke herstellt oder Abnahmen von Hauswänden schafft, damit jedoch Leerstellen hinterlässt.(3)
Doch gerade die Destruktion, das tatsächliche, auch zerstörerische Entfernen von Spuren, sucht Susanne Krell mit ihren Frottagen zu vermeiden. Es geht der Künstlerin nicht um eine quasiwissenschaftliche Annäherung oder gar um eine Verneinung der künstlerischen und ästhetischen Qualitäten ihrer Arbeit. Vielmehr werden mit dem Mittel der Frottage grundlegendere Fragen gestellt: Diese richten sich einerseits an die Auseinandersetzung mit kulturellen Vorstellungen und Entwicklungen, die in der Geschichte eines Ortes gespeichert sind, andererseits an die Befragung der bildnerischen Mittel beziehungsweise die basale Frage, was das hergestellte Bild (die Frottage) ist und kann.
Allein die künstlerische Technik betrachtend, lässt sich dabei eine kunsthistorische Traditionslinie bis in das frühe 20. Jahrhundert vor allem zu Max Ernst, aber auch zu Edvard Munch und Pablo Picasso ziehen. Die Künstler erkannten den Strukturen der Frottage einen eigenen Bildwert zu. Ernst, als Pionier auf diesem Gebiet, nutzte die Technik zur Fertigung seiner „histoire naturelle“ (1926), in der er Frottagen von Muscheln, Hölzern, Bindfäden und anderen Materialien kombinierte. Im Bild zusammengefügt wurde die Frottage zum „ikonographischen Element“ und damit die Ungegenständlichkeit ihrer Struktur in eine „neue Gegenständlichkeit“(4) überführt.
Anders als Ernst schreibt Krell den unbestimmten, durchgeriebenen Strukturen jedoch eine eigene Bedeutung durch die Verbindung zu ihrem Ursprungsort zu. Ihre eindeutige Referenz erhalten die Punkte, Striche und Linien somit zwar durch die Herkunftsbezeichnung, doch bleiben sie auch weiterhin ästhetisch unbestimmt.(5) Unweigerlich öffnet sich den Betrachter*innen so ein weites Feld an Assoziationen, Erinnerungen und Vorstellungen, das sowohl durch die Nennung der Orte als auch durch die Ästhetik der nicht benennbaren Formen entsteht. Mit der Rezeption der Frottagen tritt noch ein weiterer, wesentlicher Aspekt der künstlerischen Arbeit hervor: Zeit. Es verschränken sich verschiedene Ebenen von Zeitlichkeit in den Bildern: die des Ortes, von dem sie stammen; der Zeitpunkt der Entstehung der Frottage und die Gegenwart, in der sich die Frottagen befinden, sie betrachtet und mit weiteren Inhalten verbunden werden. Dieses Ineinandergreifen von ästhetischen Mitteln, Orts- und Zeit-Bezügen liefert die Grundlage für das konzeptuelle Arbeiten Susanne Krells. Darin spürt sie die Ideen, Konstruktionen und Geschichten auf, die sich mit den Orten – den Ideengebäuden – verbunden haben. Das Sammeln und Bewahren der durchgeriebenen Spuren auf Papier ermöglicht dabei nicht nur das Ziehen von Parallelen und Verbindungen zwischen Einzelgeschichten und einzelnen Orten sowie die Transformation und Weiterverarbeitung der Frottage in andere Medien und komplexe Projekte, sondern auch die stete Befragung, Reflexion und Entwicklung des künstlerischen und inhaltlichen Konzepts.
II. Sammlung
Die seit 1991 entstehenden „Schwarz-Weiß-Frottagen“ bezeugen das kontinuierliche Sammeln von Spuren. Im immer gleichen Format von 29,7 mal 42 Zentimetern sind zwischenzeitlich 698 Orte aus 28 verschiedenen Ländern zusammengetragen. Nachdem die Frottagen von Außen- oder Innenwänden, von öffentlichen Plätzen, Straßen, Wegen oder auch Fußböden abgenommen wurden, werden sie mit einer Nummer versehen und mit dem Herkunftsort bezeichnet. So erfolgt die Aufnahme in das Verzeichnis der Frottage-Sammlung als Teil des Archivs der Künstlerin. Zur Präsentation werden die Blätter entgegen ihrer querrechteckigen Ausrichtung während des Durchreibens in die Vertikale gedreht. Die Drehung wandelt ihre Wirkung entscheidend: Aus der Ferne vermeint man abstrakte Zeichnungen zu betrachten. Erst beim Herantreten sind die ungegenständlichen Strukturen als Spuren von Kreide auf Papier lesbar.
Einen Eindruck der Dimension der Sammlung gewinnt man besonders dann, wenn die Arbeiten, dicht nebeneinander gehängt, eine ganze Ausstellungswand füllen. Und mehr noch: Im Moment des Nebeneinanders werden die Heterogenität, die Vielgestaltigkeit, die Modulationen in der Strukturdichte und im Helldunkel der Frottagen sichtbar. Es bilden sich spannungsvolle Beziehungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Blättern heraus, die ein vergleichendes Sehen und eine instinktive, assoziative Suche nach bestimmbaren Formen provozieren. Dieses Spinnen von Verbindungslinien zwischen den einzelnen Spuren wird noch verstärkt, wird ihnen ihre Herkunft zugeordnet. Es erscheinen Titel wie „035 Dom Köln D“, „040 Via delle Scuole Pompeji I“, „053 Panthéon Paris F“, „192 Fridericianum Kassel D“, „465 Preußisches Geheimes Staatsarchiv Berlin D“ oder „654 Armenierviertel Hofdurchgang zur Kathedrale Lviv U“. Schnell wird klar, dass die Wahl der Orte nicht zufällig erfolgt. Die Künstlerin sucht, teils gezielt, teils auf Reisen entdeckt, kulturell und historisch bedeutsame Orte auf. So vermitteln allein schon die hier genannten eindrücklich, um was es bei Sammlung der Abnahmen geht: kulturelle und ideelle Werte und Konstruktionen von Gesellschaften, die sich in der Geschichte bestimmter Orte manifestieren. Diese Ideengebäude werden mit der Frottage eingefangen, ja konserviert und in der Sammlung bewahrt. Nebeneinander stehen so Orte unterschiedlichster ideeller, kultureller und politischer Prägung; Orte, deren Geschichte weit zurückreicht („168 Gräberfeld Sphinx Gizeh ET“), oder die vergleichsweise junge Zeugen der Geschichte sind („178 Top of the rock, Rockefeller Center, 67th floor USA“) und auch Orte, die nicht mehr existieren („022 Palast der Republik Berlin D“).
Mit der Frottage hat Susanne Krell ein Medium gefunden, das es ihr ermöglicht, von nahezu jedem Ort, den sie aufsucht, einen Durchrieb zu erzeugen. Das handliche Format kann überall mit hingenommen und aufgelegt werden. Im Umkehrschluss setzt die Technik aber auch den tatsächlichen Kontakt mit dem Ort beziehungsweise der Oberfläche voraus. Das Sammeln der Frottagen ist damit als ein Prozess der Aneignung wie auch der Annäherung an bestimmte Ideen, Geschichten und Realitäten, aber auch an die Orte selbst gekennzeichnet. Dass dieser Prozess der Weltaneignung äußerst voraussetzungsreich im Sinne der Erreichbarkeit von Orten ist, belegt eine zweite Frottage-Sammlung.
Neben den Papierarbeiten wächst seit dem Jahr 2000 die Zahl der Objekte in der „Sammlung Blau-Gelb“. Es handelt sich dabei um Leinwände, die in mehreren Schichten mit den Farben Blau und Gelb grundiert wurden und anschließend als Träger der Frottage dienen. Entsteht hier ein visuell spannendes Verhältnis zwischen den Farbmodulationen und Mischtönen des Bildgrundes und den durchgeriebenen Strukturen, besitzen die Arbeiten noch eine weitere Besonderheit. Einige der Frottagen wurden entgegen den Papierarbeiten nicht durch den direkten Kontakt mit einem Ort, sondern durch den Kontakt mit einem Stück von einem Ort erzeugt. Die Künstlerin bat Freunde, Steine von ihren Reisen mitzubringen, die ihr anschließend als Grundlage dienten. So finden sich Arbeiten wie „059 Kuala Lumpur Straßenstein Malaysia“ oder „075 Fundstein Pokhara Nepal“. Die auf diese Weise entstandenen Strukturen unterscheiden sich durch den Modus ihrer Erzeugung von den durch direkten Ortskontakt erzeugten. Durch das Umlegen der ungespannten Leinwand auf den Stein bilden sich kaum merklich Variationen in den Strukturen heraus, die sich wellenförmig oder in fast kreisenden Bewegungen über die Leinwand auszubreiten scheinen.
Neben dem Wechsel der Ausgangsmedien von Papier und Kreide zu farbig grundierter Leinwand und Kreide und damit einer wesentlichen Weiterentwicklung im Œuvre bezeugt die „Sammlung Blau-Gelb“ jedoch auch die Erweiterung der Möglichkeiten Susanne Krells. So entstand die Idee, sich Bruchstücke von unterschiedlichsten Orten mitbringen zu lassen, vor allem aus der Erwartung, niemals auch nur einen Bruchteil der „mitgebrachten Orte“, der Sehnsuchtsorte, selbst erreichen zu können. Dass sich dies im Lauf der letzten 20 Jahre deutlich änderte, bezeugt die Sammlung der „Schwarz-Weiß-Frottagen“, aber auch die wachsende „Sammlung Blau-Gelb“, in die zwischenzeitlich auch auf Reisen entstandene Frottagen eingegangen sind.
III. Ortsbezug
Ein Ort oder dessen Bruchstück ist eine notwendige Bedingung für die Entstehung der Frottagen. Er ist und bleibt ihr Ursprung und Bezugspunkt. Er ist jedoch auch der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus sich netzartig die konzeptuellen Verbindungslinien der künstlerischen Ideen entwickeln und sich die Referenzen und Verknüpfungen zwischen den kulturellen Ideengebäuden und Einzelgeschichten der Orte ziehen lassen. Der Ort mit all seinen inhärenten Konzepten, Vorstellungen und Konstruktionen wird damit zu einer unumstößlichen Referenz, die im umfassenden Sinne essenziell für alle künstlerischen Projekte Susanne Krells ist.
Mit der Frottage als Abnahme eines Ortes erhält die Künstlerin ein Bild von einem Ort, das sich in vielfältiger Weise in ein Geflecht von Beziehungen setzen lässt. Wie vielfältig und unterschiedlich in ihrer inhaltlichen und medialen Aufbereitung diese Verbindungen sein können, wird insbesondere in raumbezogenen Projekten, aber auch in Ausstellungen deutlich. Hier wird schnell klar, dass die Arbeiten nicht einfach nur an einem Ort wie dem Museum oder der Galerie gezeigt werden. Vielmehr offenbaren sie ihre Verflechtungen untereinander und treten häufig in Beziehung mit dem Präsentationsort selbst.
Äußerst anschaulich demonstriert das eine räumliche Gegenüberstellung zweier Sammlungen und einer Video-Arbeit: die „Schwarz-Weiß-Frottagen“, die Stein-Sammlung und das Video „Beschränkungen“, in dem die Künstlerin jeweils einen Stein in die Hand nimmt und seinen Herkunftsort nennt. Bilder (als Frottage und Film-Bild) und Bruchstücke von Orten treten hier in Beziehung. Sie ermöglichen damit die grundlegende Befragung nicht nur ihres eigenen visuellen wie materiellen Aussagewertes, sondern auch die Frage, was das Wissen über ihre jeweilige Referenz im Betrachtenden auslöst: Sind es persönliche Erinnerungen, die angesprochen werden? Werden die Bedeutungen und die Geschichte der Orte hinterfragt? Während die Fragen von der Künstlerin intendiert und provoziert sind, werden die Antworten bewusst offen beziehungsweise der Betrachter*in überlassen.
Ebenso spannungsvoll zeigt sich die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Orten in der Installation „9/11 – siebenundfünfzig andere Möglichkeiten“. Ein Papierflieger, zusammengesetzt aus 57 Frottagen von kulturell, historisch und politisch bedeutsamen Orten wie dem Brandenburger Tor in Berlin, dem Palazzo Vecchio in Florenz oder der Kremlmauer in Moskau, weist mit der Spitze auf einen Leuchtkasten, in dem sich eine Frottage des Ground Zero in New York befindet. Besonders deutlich zeigt sich hier die Auseinandersetzung mit den kulturellen und ideellen Werten, die Gesellschaften in unterschiedlichen Orten bündeln. Wie verwund- und angreifbar derlei Orte als Ziele terroristischer Angriffe sind, bezeugt der Terroranschlag vom 11. September 2001. Dass solche „verwundbaren“ Orte überall auf der Welt zu finden sind, demonstriert die Auswahl von 57 anderen, potenziellen Zielen für terroristische Akte.
Auch das Museum muss als ein solcher Ort gesehen werden, an dem sich nicht nur kulturelle Werte einer Gesellschaft bündeln, sondern solche auch geschaffen und verbreitet werden. Als eine Besonderheit der Ausstellung Susanne Krells im Kreis-Museum Neuwied erweist sich daher die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes in zweifacher Hinsicht: zum einen bezogen auf das Museum selbst, zum anderen auf die (Kultur-)Geschichte Neuwieds.
Die Geschichte des heute unter dem Namen „Roentgen-Museum“ bekannten Ausstellungshauses mit seiner Sammlung von Möbeln von Abraham und David Roentgen reicht bis in das Jahr 1928 zurück. Zu Beginn wurden in den Ausstellungsräumen Objekte der archäologischen Sammlung präsentiert. Noch heute zeugt die Architektur der Museumsräume u. a. mit eingelassenen Wand-Vitrinen von der ursprünglichen Sammlungspräsentation. Während jedoch der überwiegende Teil der archäologischen Sammlung heute nicht mehr zu besichtigen ist, befindet sich ein Objekt – wenn auch meist bedeckt – an zentraler Stelle: der sogenannte „Engerser Jung“ (Susanne Krell). Ein in einer Tischvitrine eingerichteter Skelett- und Grabbeigaben-Fund der Rheinischen Becherkultur (2200–1900 v. Chr.) aus Engers (Stadtteil von Neuwied). Dass sich dieser Fund noch heute im Museum befindet, war der Künstlerin Anlass genug, sich mit seiner Geschichte zu befassen. Sie suchte den Fundort des Hockergrabes, das Engerser Feld, auf und fertigte eine Frottage an. Digitalisiert und auf Folie gedruckt, bedecken die Spuren des Fundortes nun kurzzeitig wieder die archäologischen Ausgrabungsstücke im Museum. Damit holt die Künstlerin nicht nur die Geschichte des Neuwieder Kreis-Museums zurück in das Bewusstsein, sondern verweist zugleich auf den speziellen Charakter der „Geschichtsaneignung“ und Wirklichkeitsinszenierung durch archäologische Sammlungen und Formen ihrer Präsentation.
Eine weitere Verbindung zum Ort Neuwied zeigt sich in der Verknüpfung eines im Jahr 2016 begonnenen Werkkomplexes mit dem Fürstenhaus zu Wied. Die nordbrandenburgische Stadt Neuruppin beging 2019 den 200. Geburtstag Theodor Fontanes (1819–1898). Zum umfassenden Kulturprogramm trug auch Susanne Krell mit einem komplexen Projekt bei, in dem sie den Lebens- und Wirkungsorten Fontanes u. a. in Neuruppin, Swinemünde, Berlin und London nachspürte. Nach den ersten Arbeiten in Farbe mit der „Sammlung Blau-Gelb“ wurde Malerei dabei zu einem wesentlichen Medium. Dafür transformierte sie die Frottagen durch Vergrößerung kleiner Ausschnitte und deren anschließende Überlagerung. Im Bild „Fontane 3 London–Neuruppin“ kommen so beispielsweise die Frottage des Geburtshauses Fontanes und die seines Londoner Aufenthaltsortes 52 St. Augustineʼs Road zusammen. Jedem Ort werden dabei bestimmte Farben zugewiesen, sodass sie weiterhin unterscheidbar bleiben.
Verdeutlichen sich damit einerseits die räumlichen Beziehungsgeflechte der Lebens- und Wirkungsorte des deutschen Schriftstellers, offenbart sich damit andererseits das komplexe kulturgeschichtliche Ideen- und Wertekonstrukt, das sich in einer einzelnen Person und ihren Wirkungsorten bündelt. Die Verbindung zu Neuwied wird wiederum durch eine Installation der Fontane-Arbeiten zusammen mit einer im Jahr 2003 entstandenen Papierarbeit zum Fürstenhaus zu Wied hergestellt. Scheint diese Verknüpfung zunächst willkürlich, so werden mit einem genaueren Blick auf die wechselnde Kombination der Frottage des Neuwieder Schlosses mit historischen Porträt-Ausschnitten der Prinzen, Fürstinnen und Fürsten zu Wied zeitliche wie inhaltliche Überschneidungen deutlich. So kreuzen sich die Lebensdaten einiger der Mitglieder des Fürstenhauses mit jenen Fontanes. Vor allem aber gibt es eine Verbindung zur Schriftstellerin Carmen Sylva, eigentlich Prinzessin Elisabeth zu Wied (1843–1916), über die Fontane 1882 eine lobende Rezension verfasste.(6) Dass Susanne Krell zudem einige Fontane-Arbeiten mit Aquarell auf historischem Hadernpapier (19. Jahrhundert) fertigte, vermag diese zeitliche und inhaltliche Verbindung nur zu stärken.
Gleichwohl wird mit den in der Neuwieder Ausstellung geschaffenen „doppelten“ Ortsbezügen deutlich, dass die Arbeiten Susanne Krells, gleich ob es die unterschiedlichen Sammlungen oder raum- und projektbezogenen Arbeiten betrifft, nie in Gänze abgeschlossen sind. Stets bleiben sie offen für situative und ortsabhängige Erweiterungen sowie Beziehungsgefüge. Dies ermöglicht die Erschließung neuer Bedeutungsebenen durch Variation und bietet ebenso Raum für die Entwicklung neuer, aber auch für die Wiederholung bekannter Fragen. Somit ergeben sich diverse Zusammenhänge und Erzählstränge, in denen die Ideengebäude unterschiedlichster Orte und Zeiten aufeinandertreffen. Susanne Krells Kunst gibt damit immer wieder von Neuem Anlass zur Reflexion, zum Nachdenken über kulturelle Werte und Ideen, über Geschichte und Erinnerung und ist dabei selbst eine aktuelle, künstlerische Form der Auseinandersetzung mit unserer Erinnerungskultur. Sie ist gesammelte Geschichte und sie ist zur zeit hier.
1) Krell, Susanne: https://susanne-krell.de/index.html
2) Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977.
3) Vgl. Metken, Günter: Dorothee von Windheim. Warum ziehst du mich ab von mir selber? Wand als Haut, in: ders.: Spurensicherung – Eine Revision. Texte 1977–1995, Amsterdam 1996, S. 187–195.
4) Spies, Werner: Max Ernst. Frottagen, Stuttgart 1968, S. 6.
5) Vgl. Boehm, Gottfried: Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 199–212, hier S. 200–203, S. 209.
6) Fontane, Theodor: Carmen Sylva: Jehova, in: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes vom 20. Mai 1882.
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Anne-Kathrin Hinz
| M.A. Bonn and Jena
Collected history – On the art of Susanne Krell
in:
Catalog of the Exhibition currently and further | Roentgen-Museum Neuwied | Cat. 2020
I. Captures
Frottage is a graphic process in which paper or fabric is placed over a structured surface. Afterwards a drawing tool, such as a pencil, charcoal or chalk, is used to rub over the chosen surface. Caused by the rubbing process, the result shows the surface’s structure. For Susanne Krell, however, frottage is not just a method that makes it possible to create an authentic image of surfaces. It is the starting point for her artistic work, in which the forms generated from black traces, dots, dashes and lines on white paper are unnameable, but for which their origins are verifiable.(1)
Since 1991, the artist has been crafting frottages of places, squares, streets and buildings, which, numbered and entitled with the name of their place of origin, form part of an ever-growing collection. Her interest thus does not primarily apply to non-representational structures produced by chalk abrasion. Instead, her interest revolves around the images, ideas, concepts and memories that human culture and history have inscribed in these respective places. Through touch and the fact of having been on-site, the frottage becomes a document of proof that captures and preserves the place's impression, structures and even its history.
Based on the rubbings that result in a collection of places, Susanne Krell succeeds in telling history and stories. Thereby, she traces ideas and constructs, explores memories associated with different places, presenting results of her efforts to the beholder in a very wide array of forms of expression, such as painting, video and installation. Her artistic work is always based on the frottage and the characteristics of the open artwork, which does not only leave room for associations but also offers the artist opportunities to vary, resume and reinstall individual complexes of work. Whether this concerns the individual sheets of the ‘Black and white frottages’, the frottages on blue-yellow primed canvas or her spatial and project-based works, the artistic concept is guided by three pairs of terms that exist in an eventful and exciting relationship to one another and find their way into the work complexes in different ways: Appropriation of world and reality, collection and archive, idea and place.
On the Les Pierres-Plates, in Carnac, France, Susanne Krell applied the technique of frottage or rubbing for the first time, in 1991. She laid white paper over the Neolithic, engraved dolmens and rubbed their surfaces with dark chalk. She saw this as a way to take something of the appearance of the place along with her, but without damaging it; to capture something of its uniqueness that to her seemed beyond the reach of drawing or photography. This permitted an approach of the place, the creation of evidence – a relic, so to speak – that has been at this place, touched it, bears its traces and is itself a trace of that specific place.
The familiar art-historical notion of ‘securing the traces’ [‘Spurensicherung’], that was coined by Günter Metken in 1977(2) seems to present itself as one way to categorise this approach to artistic work. This is how Metken subsumed a series of works created in parallel by a variety of artists, works that in some cases appropriated and outlined (natural-) scientific techniques and methods with which culture, history and memory could be broached. Krell’s work evolved further in the 1990s, however, and as a consideration of that work quickly makes clear, the notion of ‘securing the traces’ fails adequately to describe her working method. At best, parallels must be drawn with Dorothee von Windheim's work. She, for example, uses cloths to produce prints or creates detachments of the surface of house walls but leaves empty spaces at the same time.(3)
And yet it is precisely this destruction – this actual and even corrupting removal of traces – that Susanne Krell seeks to avoid with her rubbings. The artist is not interested in a quasi-scientific approach or even in denying the artistic and aesthetic qualities of her work. Instead, the means of frottage are used to pose more fundamental questions: These questions are directed, on the one hand, at the effort to grapple with cultural images and developments that are stored in the history of a place. On the other hand, at an interrogation of the artistic media and the fundamental question of what the image produced (the frottage or rubbing) is and what it can accomplish.
If one considers this artistic technique as such, an art-historical tradition can be traced back to the early 20th century, and particularly to Max Ernst, but also to Edvard Munch and Pablo Picasso. These artists vested the structures of rubbings with an image value of their own. Ernst, a pioneer in this field, used this technique to produce his ‘histoire naturelle’ (1926) in which he combined frottages of seashells, woods, twine and other materials. Combined in an image, the rubbing became an ‘iconographic element’, and, in the process, the non-representational nature of its structure was transposed into a ‘new representation’.(4)
Unlike Ernst, however, Krell ascribes a meaning of their own to the indefinite, rubbed structures due to the connection to their place of origin. The points, dashes and lines are thus preserving their unique reference by virtue of their designation of origin, and yet they remain aesthetically undetermined.(5) This inevitably presents the beholders with a wide range of associations, memories and ideas that arise both through the naming of the places and through the aesthetics of the unnameable forms. Through reception of the rubbings, another essential aspect of the artistic work emerges: Time. Different levels of temporality intersect in the images: levels of the place from which they originate, of the time of creation of the frottage, and of the present in which the frottages are located, viewed and linked with other content. This interweaving of aesthetic means and references to location and time forms the basis for Susanne Krell’s conceptual work. In it, she traces the ideas, constructions and stories that have conflated themselves with the places – the buildings of ideas. The collection and preservation of the rubbed traces on paper permits not only the drawing of parallels and connections between individual stories and individual locations and the transformation and further processing of the rubbing into other media and complex projects, but also the continuous interrogation, reflection and development of the artistic and substantive concept.
II. Collection
The ‘Black-and-white frottages’ that have emerged since 1991 are testimony to the continuous collection of traces. Always in the same format of 29.7 by 42 centimetres, a collection of 698 places from 28 different countries have been compiled since then. Once the rubbings have been taken from exterior or interior walls, from public squares, streets, paths or even flooring, they are given a number and labelled with their places of origin. This is how a rubbing is included in the directory of the frottage collection, as a part of the artist’s archive. For presentation, the sheets are turned to a vertical position, counter to their transversely rectangular orientation during the rubbing process. The rotation works a decisive change in their effect: Viewed from afar, one would think one is looking at abstract drawings. Only when approached do these non-representational structures become legible as traces of chalk on paper.
One gains an impression of the dimension of the collection particularly when the works, hung closely together, fill an entire exhibition wall. And what is more: It is at the moment of juxtaposition that the heterogeneity, the diversity, the modulations in structural density and in the light-darkness of the frottages become visible. Exciting relationships, similarities and differences emerge between the individual sheets, provoking comparative vision and an instinctive, associative search for definable forms. This spinning of connecting lines between the individual traces is further intensified when their origin is ascribed to them. Titles appear, such as ‘035 Dom Köln D’, ‘040 Via delle Scuole Pompeji I’, ‘053 Panthéon Paris F’, ‘192 Fridericianum Kassel D’, ‘465 Preußisches Geheimes Staatsarchiv Berlin D’ or ‘654 Armenierviertel Hofdurchgang zur Kathedrale Lviv U’. As quickly becomes clear, the choice of places is not random. The artist visits places that are culturally and historically important, at times systematically seeking these loci out and at times discovering them in the course of her travels. Even the locations mentioned here impressively convey what the act of collecting these rubbings is about: cultural and ideological values and constructions of societies that manifest themselves in the history of certain places. These buildings of ideas are captured with the frottage, preserved and stored in the collection. In this manner, locations with very different ideological, cultural and political characteristics stand side by side; places the history of which dates back a long time (‘168 Gräberfeld Sphinx Gizeh ET’), or which are comparatively young witnesses of history (‘178 Top of the rock, Rockefeller Center, 67th floor USA’) as well as places that no longer exist (‘022 Palace of the Republic of Berlin D’).
The frottage has given Susanne Krell a medium that allows her to create a rubbing from practically every place she visits. The convenient format can be taken and overlaid everywhere. Conversely, however, this technique also presupposes actual contact with the location or the surface. The collection of frottages is thus marked as a process not only of appropriation but also of approximation to certain ideas, histories and realities, as well as to the places themselves. That this process of world appropriation is an exceedingly rich prerequisite to the accessibility of places is proven by a second collection of rubbings.
Alongside the artist’s works on paper, the number of objects in the ‘Blue-and-yellow collection’ has also been growing since 2000. These are canvases which are primed in several layers with the colours of blue and yellow and subsequently used as substrates for frottages. What arises here is a visually exciting relationship between the colour modulations and mixed colours of the image background and the textures rubbed through, but the works have another special feature as well. In contrast to the works on paper, some of the rubbings are produced not through direct contact with a place but through contact with a piece taken from a place. The artist asked friends to bring stones from their travels, which she then used as a basis for her works. This results in works such as ‘059 Kuala Lumpur Straßenstein Malaysia’ or ‘075 Fundstein Pokhara Nepal’. The structures produced in this way differ in the mode of their production from those produced through direct, local contact. Moving the unstretched canvas on the stone forms scarcely discernible variations in the textures that then seem to spread across the canvas in undulating or nearly circular movements.
In addition to the change in source media from paper and chalk to coloured, primed canvas and chalk – and hence a significant evolution in the œuvre, the ‘Blue-and-yellow collection’ is also a testimony to the growth in possibilities for Susanne Krell. This gave rise to the idea of having fragments brought along from a wide variety of places, above all from an expectation of never reaching even a fraction of the ‘places brought along’, the ‘places of longing’ herself. That this has changed significantly over the course of the past 20 years is borne out by the collection of ‘Black-and-white frottages’, but also by the growing ‘Blue-and-yellow collection’ to which frottages collected on trips have also been added.
III. Geographical reference
A place or a fragment thereof is a necessary condition for the emergence of these rubbings. The place is and remains its origin and point of reference. The place is also, however, the pivotal point from which the conceptual connecting lines of artistic ideas can be developed in a net-like fashion, with references and linkages traced between the cultural buildings of ideas and individual stories of the places. This is how the place, with all its inherent concepts
images and constructions, becomes an irrefutable reference that, in the broad sense, is essential to all of Susanne Krell’s artistic projects.
With the frottage as the rubbing of a place, the artist gains a picture of a place that can be situated in a fabric of relationships in a variety of ways. Just how varied and different these connections can be in terms of their substantive and media preparation is particularly evident in spatially based projects, but in exhibitions as well. What quickly becomes clear is that these works are not simply shown in a place such as a museum or gallery. Instead, they disclose their interdependencies and often enter into a relationship with the very venue in which they are presented.
This is demonstrated with extreme clarity by a spatial confrontation of two collections and a video work: the ‘Black-and-white frottages’, the collection of stones and the video entitled ‘Beschränkungen’ [German for ‘Restrictions’], in which the artist picks up one stone at a time and identifies its place of origin. Images (as rubbing and film image) and fragments of places enter into a relationship with each other. They thus permit not only a fundamental interrogation of their own visual and material meaningfulness, but also the question of what knowledge of their respective reference triggers in the observer: Is it personal memories that are addressed? Are the meanings and history of the places called into question? While the questions are intended and provoked by the artist, the answers are deliberately left open-ended or up to the viewer to answer.
Equally suspenseful is the effort to tackle the significance of places in the installation ‘9/11 – siebenundfünfzig andere Möglichkeiten’. The tip of a paper aeroplane composed of 57 rubbings of culturally, historically and politically significant locations such as the Brandenburg Gate in Berlin, the Palazzo Vecchio in Florence or the Kremlin Wall in Moscow, points towards a light box in which a rubbing of Ground Zero in New York is located. Particularly evident here is the examination of the cultural and ideological values that bring societies together in different places. Just how vulnerable and susceptible to attack places like these are as targets of terrorist attacks can be seen in the terrorist attack of 11 September 2001. The fact that such ‘vulnerable’ places can be found all over the world is demonstrated by the selection of 57 other potential targets for terrorist acts.
The museum must also be seen as a place where a society’s cultural values are not only pooled but created and disseminated as well. A special feature of Susanne Krell’s exhibition at the Kreis-Museum Neuwied is thus the examination of the history of the place in two respects: relative to the museum itself, and relative to the (cultural) history of Neuwied.
The history of the museum now known as the ‘Roentgen-Museum’, with its collection of furniture by Abraham and David Roentgen, dates to 1928. In the beginning, objects from the archaeological collection were presented in the exhibition rooms. To this day, the architecture of the museum rooms – its walls fitted with display cases, among other things – is a testimony to the presentation of the original collection. However, while the majority of the archaeological collection can no longer be viewed today, one object – albeit usually covered – has a central location: the so-called ‘Engerser Jung’ (Susanne Krell). Laid out in a table display case is a find of skeletal remains and burial objects dating to the Rhenish Beaker Culture (2200–1900 B.C.) and discovered in Engers (a district of Neuwied). That this find is still in the museum today was reason enough for the artist to engage with its story. She went to the site of the crouched burial, the Engerser Feld, and made a rubbing. Digitised and printed on film, the traces of the location of the find now once again serve as a temporary cover for the finds of the archaeological excavations in the museum. In doing so, the artist not only brings the history of the Neuwieder Kreis-Museum back to mind but also references the special character of the ‘appropriation of history’ and the staging of reality through archaeological collections and the forms of their presentation.
Another connection to the town of Neuwied can be seen in the linkage to a complex of works begun in 2016 with the Princely House of Wied. In 2019, the northern Brandenburg city of Neuruppin celebrated the 200th anniversary of Theodor Fontane's birth (1819–1898). Susanne Krell also contributed to the comprehensive cultural programme around the commemoration with a complex project in which she traced the places in which Fontane lived and had an impact on – in Neuruppin, Swinemünde, Berlin and London, among others. After the first works in colour with the ‘Blue-and-yellow collection’, painting became an essential medium. To this end, she transformed the rubbings by enlarging small sections and then superimposing them. The picture ‘Fontane 3 London–Neuruppin’, for example, combines rubbings taken from Fontane's birthplace and from his London residence at 52 St. Augustineʼs Road. Each location is assigned certain colours to keep them distinguishable from one another.
If, on the one hand, this highlights the spatial interrelationships of the places in which the German writer lived and had an impact on, on the other hand, it reveals the complex cultural-historical construct of ideas and values that is bundled up in a single person and his or her places of impact. The connection to Neuwied, in turn, is established by an installation of the Fontane works together with a paper work created in 2003 and dealing with the Princely House of Wied. If this link seems arbitrary at first, closer inspection reveals the temporal and substantive areas of overlap in an alternating combination of the rubbing of the palace in Neuwied with excerpts of historical portraits of the princes, countesses and counts of Wied.
This is how the biographical data of some of the members of the royal house intersect with those of Fontane. Above all, however, there is a connection with the writer Carmen Sylva, actually Princess Elisabeth zu Wied (1843–1916), in praise of whom Fontane composed a review in 1882.(6) The fact that Susanne Krell also produced several Fontane works with watercolour on historic rag paper (19th century) can only strengthen this temporal and substantive linkage.
Nevertheless, as the ‘double’ geographical references created in the exhibition in Neuwied make clear, Susanne Krell’s works – whether concerning the different collections or her spatial and project-related works – are never completed in their entirety. They always remain open to situational and location-based expansions and relationship structures. This permits development of new levels of meaning through variation and also offers room for the development of new as well as the repetition of known questions. This results in a variety of contexts and narrative threads in which the buildings of ideas of different places and times converge. Susanne Krell’s art thus repeatedly gives occasion for reflection, thought about cultural values and ideas, on history and memory, and is itself a contemporary, artistic form of dealing with our culture of memory. This is collected history and it is zur zeit hier.
1) Krell, Susanne: https://susanne-krell.de/index.html
2)Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Cologne 1977.
3)Cf. Metken, Günter: Dorothee von Windheim. Warum ziehst du mich ab von mir selber? Wand als Haut, in: id.: Spurensicherung – Eine Revision. Texte 1977–1995, Amsterdam 1996, pp. 187–195.
4)Spies, Werner: Max Ernst. Frottagen, Stuttgart 1968, p. 6.
5)Cf. Boehm, Gottfried: Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: Id.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, pp. 199–212, here pp. 200–203, p. 209.
6)Fontane, Theodor: Carmen Sylva: Jehova, in: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes of 20 May 1882.
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Grußwort | Kat. 2020
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Bernd Willscheid
| Direktor Roentgen-Museum Neuwied
Grußwort
in:
Katalog zur Ausstellung zur zeit hier | Roentgen-Museum Neuwied | Kat. 2020
Die in Betzdorf/Sieg geborene Künstlerin Susanne Krell mit Atelier in Aegidienberg wirkt sowohl im Rheinland als auch international. Der Raum Neuwied ist ihr vertraut, hier lebte sie viele Jahre. Das Roentgen-Museum Neuwied stellt schon seit 1991 ihre Werke in Einzel- und auch in Gruppenausstellungen aus. Wie sie gerne betont, bedeuten Neuwied und die Region ein Stück Heimat für sie. So ist es nicht verwunderlich, dass sie für das Foyer des Kreishauses Neuwied, Sitz der Kreisverwaltung, im Rahmen eines „Kunst am Bau“-Wettbewerbes die Wandgestaltung „Ohne Titel“ ausführte: Frottagen mit Abrieben von historisch bedeutenden Bauwerken aus den acht kreisangehörigen Verbandsgemeinden und der Stadt Neuwied, eingearbeitet in Fischblasenformen, die sie den neugotischen Maßwerkfenstern des Eingangsportals entlehnte.
Immer wieder widmet sich Susanne Krell der durch Max Ernst bekannt gewordenen Technik der Frottage. Auf ein historisch oder kulturpolitisch wichtiges Gebäude legt sie Papier oder Leinwand auf, bearbeitet dies mit Kreide und nimmt so die Struktur des Gebäudeteiles auf. Unabhängig von der gegenständlichen Darstellung will die Künstlerin mit ihren Frottagen, einer aus der katholischen Kirche bekannten „Anrührreliquie“ gleich, so ein Stück von einem bedeutenden, aber auch unbedeutenden Ort entnehmen, – Orte, die der Künstlerin begegnen -, ohne diese zu beschädigen. Dokumentiert und gesammelt, verarbeitet sie diese Abreibungen zu Kunstwerken: Kunstwerke, in denen Susanne Krell den jeweiligen Ort nicht abbildet - die Kunstwerke leben den Ort.
Mit der in dieser Schrift dokumentierten Ausstellung „zur zeit hier“ möchte das Roentgen-Museum nicht nur der Entwicklung von Susanne Krells künstlerischem Werk nachgehen. Die Künstlerin setzt sich hier darüber hinaus mit der Geschichte eines Museums auseinander, das nicht nur das älteste im Landkreis Neuwied ist, sondern auch als eines der ältesten am Mittelrhein gilt; ein Museum, in dem bereits seit drei Jahrzehnten ihre Werke präsentiert werden.
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Bernd Willscheid
| Director Roentgen-Museum Neuwied
Welcoming remarks
in:
Catalog of the Exhibition currently and further | Roentgen-Museum Neuwied | Cat. 2020
Artist Susanne Krell was born in Betzdorf/Sieg and has a studio in Aegidienberg. She works both in the Rhineland region and internationally. She is familiar with the Neuwied area, where she lived for many years. The Roentgen-Museum Neuwied has been exhibiting her works in solo exhibitions and as part of group exhibitions since 1991. As she is fond of pointing out, Neuwied and the region mean a piece of home to her. It therefore comes as no surprise that she carried out the wall installation ‘Untitled’ for the foyer of the district hall in Neuwied, which is the seat of the district administrative authority, as part of an ‘art in architecture’ [‘Kunst am Bau’] competition: Frottages with rubbings of historically significant buildings from the eight municipalities that belong to the district, and from the City of Neuwied, are incorporated into vesica piscis shapes that the artist modelled after the Neo-Gothic tracery windows of the entrance portal.
Time and again, Susanne Krell devotes herself to the technique of frottage that became well-known through the work of Max Ernst. She lays paper or canvas on a building of historical or cultural significance and processes it with chalk to record the structure of the building section. Regardless of any representational depictions, in a manner similar to the ‘touching of relics’ familiar from the Catholic Church, with her frottages the artist seeks to take a piece from an important or insignificant place – places that the artist encounters – without causing any damage. Documented and collected, she processes these rubbings into works of art: Works of art in which Susanne Krell does not depict the respective place – the works of art live that place.
With the exhibition ‘zur zeit hier’ captured in this document, the Roentgen-Museum seeks not only to investigate the development of Susanne Krell’s artistic work. But the artist also broaches the history of a museum that is not only the oldest in the District of Neuwied but is also considered one of the oldest in the Middle Rhine region – a museum in which her works have already been presented for three decades.
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Susanne Krell: zur zeit und weiter im Kunstmuseum Bonn | Kat. 2020
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Dr. Barbara J. Scheuermann
| Leiterin der Grafischen Sammlung Kunstmuseum Bonn
Susanne Krell: zur zeit und weiter im Kunstmuseum Bonn
in:
Katalog zur Ausstellung zur zeit und im Kunstmuseum Bonn 2020
Susanne Krell zählt zu jenen Künstler*innen, die bereits seit Jahrzehnten mit großer Kontinuität und Konsequenz ihr künstlerisches Werk verfolgen. Mit Fug und Recht ist bei ihr von Beharrlichkeit zu sprechen. Ihre Fokussierung auf ein bestimmtes Thema – Standortbestimmung – und eine bestimmte Technik – die Frottage – mag sogar obsessiv erscheinen. Aber es ist ja bekannt, dass Obsession und Kunstschaffen oftmals Hand in Hand gehen. Hier ist eine Künstlerin auf einer (nicht nur künstlerischen) Mission. Als Betrachter*innen haben wir die Chance, sie dabei ein Stück zu begleiten und Einblick zu erhalten in das fokussierte, aber dennoch vielfältige Schaffen Susanne Krells.
Susanne Krell hat ihre Ausstellung im Kunstmuseum Bonn „zur zeit _und weiter“ betitelt, ein für sie typisches Sprachspiel, das sowohl auf Zeit als abstraktes Konzept als auch auf die Gegenwart, auf das Jetzt, in dem wir uns befinden, verweist. Als Individuen in einer bestimmten Zeit lebend sind wir geprägt von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren, wir genießen bestimmte Privilegien oder sie bleiben uns verwehrt, wir haben einen (kulturellen) Erfahrungshorizont und sind eingebunden in ein soziales Gefüge, welches zur Zeit geltenden geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen gehorcht. Alles, was wir über unsere Welt wissen und über sie erfahren, ist diesem zeitlichen Rahmen unterworfen. Wir werden bestimmt von der Zeit, in der wir leben.
Den größten Teil der Ausstellung im Kunstmuseum Bonn nimmt die titelgebende neue Installation „zur zeit“ ein: eine Art Parkour von zehn Aluminiumständern, auf denen 88 Tücher mit Frottagen aus 23 Ländern hängen. Es ist das erste Mal, dass dieser Werkkomplex in so einem großen Umfang gezeigt wird. Die Künstlerin erläutert im Gespräch: „Die Spuren zeigen den Abdruck, den die Oberfläche gibt. Kleine und größere Tücher, wie eine zweite Haut haben sie Wand oder Boden bedeckt und ihn berührt. Ich übertrage die Spuren der Oberfläche auf den Zeichengrund, meine Zeichnungen werden gelenkt, keine Freiheit, nicht aus einem Inneren heraus, der Stein bestimmt mein Tun. Die Oberfläche zeigt sich. Ästhetisch interessieren mich bei der Spurenabnahme die entstehenden Spuren, Punkte, Striche, Linien auf dem Stoff, nicht benennbare Formen, aber mit belegbarer Herkunft. Sie zeigen einen Abdruck und sind individuell und einzigartig für den Ideenort, von dem sie stammen, einem Fingerabdruck ähnlich.“
In Vorbereitung für diese Ausstellung hat Susanne Krell zudem drei Lebensorte von Ida Dehmel besucht: ihr Geburtshaus in Bingen, ihr Wohnhaus in Berlin und das heute von der gleichnamigen Stiftung unterhaltene Dehmelhaus in Hamburg. Entstanden sind drei Frottagen, die hier in schwarzen Rahmen präsentiert werden, sowie ein Video, das Krells Gang durch das weitgehend erhaltene Dehmelhaus nacherlebbar macht – wir können die Künstlerin gleichsam bei ihrer Spurensuche begleiten.
Ida Dehmel, Bohemienne und Kunstförderin, Initiatorin verschiedener Frauengruppen und Ehefrau des berühmten Dichters Richard Dehmel, der 1920 starb, war Jüdin. Die zunehmenden Drangsalierungen und die damit einhergehende Isolation unter der Nazi-Herrschaft überstand sie nicht, 1942 beging sie Suizid. Vier weiß gerahmte Nesseltücher, schlicht benannt „Vier Tücher“, bearbeitet mit Eisenchlorid, Beize, Acryl und Kreiden, nehmen in der Ausstellung Bezug auf diese dunkle Zeit. Sie enthalten Frottage-Zeichen, Abdrücke und andere Spuren von Steinen. Diese waren Teile von Baracke, Wegbefestigung, Rampe und Gaskammer in Auschwitz beziehungsweise Birkenau.
Wer um diese Orte, die den Frottagen zugrunde liegen, nicht weiß, kann trotzdem etwas sehen und spüren: Muster, Strukturen, Farbe, die Energie aus dem Arbeitsprozess – Reiben, Drücken, Ätzen, Beizen –, aber auch, bei genauem Hinschauen, dass hier eine Spur von etwas zu sehen ist, was tatsächlich irgendwo ist oder einmal gewesen ist, ganz konkret.
Der Wunsch der Künstlerin Erlebtes und Gesehenes bewahren zu wollen, Zeit einzufangen, die Essenz eines Ortes sichtbar zu machen, haben sie Anfang der 1990er Jahre veranlasst, Spuren von Orten, Gebäuden, Plätzen und Räumen zu sammeln. Dafür hat sie die Frottage, eine Form der druckgrafischen Technik, für sich als Medium entdeckt – um das Typische, die „Energie, das Konzept, die Kraft eines Ortes“ festzuhalten und zu bewahren.
Susanne Krell selbst kann sehr anschaulich davon erzählen, wie sie vor inzwischen über 25 Jahren diese Technik als ihre Technik erkannte. Es gibt ein Foto von ihr, aufgenommen Anfang der 1990er Jahre in Carnac in der Bretagne an einem der berühmten Dolmen: Da steht die junge Künstlerin in Gesellschaft ihrer Familie, hält ein DIN A 3-Blatt auf einem Dolmenstein fest und einen Stift und strahlt in die Kamera.
Zu dem Zeitpunkt wusste Susanne Krell wohl noch nicht, dass dies das erste Blatt von annähernd 700 Blättern mit Frottagen aus aller Welt sein würde. Aber vielleicht hat sie es geahnt. Wenn sie heute davon erzählt, dann erwähnt sie die Energie und Kraft, die sie dort verspürte und dass ihr alle erprobten Abbildungsverfahren – Foto, Zeichnung, Aquarell – unpassend erschienen, um das, was sie dort wahrnahm, einzufangen. Die Frage, die sie sich stellte, war: „Was kann ich von diesem Ort mitnehmen, ohne ihn zu zerstören?“ Erst bei ihrem zweiten Besuch in Carnac hatte Susanne Krell Papier und Stift dabei und konnte in der direkten Berührung mit dem Ort seine Spuren sammeln und aufzeichnen, ohne ihn zu zerstören – und das alles in einem - scheinbar- sehr einfachen Vorgang. Dies war also der Anfang von Susanne Krells „Sammlung von Orten“. Seither entstehen Spuren von Orten aus der ganzen Welt, vom Petersdom, der Klagemauer, ihrem Elternhaus oder der Imam-Moschee in Isfahan.
Die Frottage – von franz. frotter, „abreiben“ – ist eines der ältesten Vervielfältigungsverfahren zum Übertragen erhabener bzw. reliefierter Strukturen von Stein, Keramik, Holz oder Metall. Die bekannteste Möglichkeit der Abreibung, welche auch Susanne Krell nutzt, ist die Auflage von Papier auf ein Relief, welches mittels Graphit, Kohle oder Kreide durchgerieben wird. An den erhabenen Stellen bleibt mehr Farbmaterial haften, Vertiefungen erscheinen heller, so dass am Ende des Prozesses der dreidimensionale Charakter des abgeriebenen Gegenstandes in einer zweidimensionalen Darstellung erscheint. Je nach Stärke des Anpressdrucks wird dabei jedoch auch das Papier selbst zum Relief: Erhöhungen drücken sich durch und wölben die Blattoberfläche, an Vertiefungen entstehen konkave Stellen. Das Ergebnis ist eine Abbildung des abgeriebenen Objektes, welches rein optisch und oberflächlich betrachtet große Unterschiede zum Original aufweist – so etwa in der Farbigkeit, die naturgemäß der des Durchreibemediums entspricht –, in seiner haptischen Struktur jedoch näher am Gegenstand liegt, als es dies die meisten anderen Reproduktionsmedien, wie etwa die Fotografie, sein könnten. In gewisser Weise ähnelt die Erstellung einer Frottage mehr einem bildhauerischen als einem malerisch-zeichnerischen Prozess, denn die dreidimensionale Struktur ergibt immer auch eine neue ebensolche.
Im Gegensatz zu anderen Abdruckverfahren, etwa dem Gipsabguss, wohnt der Frottage allerdings eine malerische Grundkomponente inne. Der Duktus des Stiftes auf dem Papier tritt zwar in der Gesamtstruktur zurück, bleibt aber immer prägend für das Endergebnis. Die Frottage ist damit im Gegensatz zu fotomechanischen Vervielfältigungsverfahren stets ein Original. Sie erfordert Anwesenheit und Körpereinsatz der Person, welche ein spezifisches Ergebnis erreichen möchte, das aber nur bedingt beeinflussbar ist.
Für die Kunst hat in den zwanziger Jahren Max Ernst die Frottage entdeckt und virtuos eingesetzt. Interessanterweise hat auch er die Technik in der Bretagne entdeckt – er allerdings inspiriert durch einen stark gemaserten Holzfußboden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Max Ernsts Verfahren und dem von Susanne Krell ist der, dass Ernst aus den abgenommenen Mustern und Formen neue Formen und Figuren entwickelte, die Frottagen in Gemälden zu etwas anderem transformierte. Susanne Krell hingegen setzt die Frottage ein als das, was sie ist.
Sie selbst versteht die Frottage auch gar nicht unbedingt als Medium, denn es ist nicht die Frottage, die hier im Wortsinne eine Idee der Künstlerin vermittelt. Vielmehr ist die Künstlerin selbst das Medium, die Mittlerin zwischen den besuchten Orten, an denen die Frottagen entstanden sind und nach wie vor entstehen, und deren Betrachtern. Ihr Ziel ist es, die Essenz der Entstehungsorte unmittelbar einzufangen, zumindest einen Teil davon mitzunehmen und durch Neukontextualisierung zum Klingen zu bringen.
Krell bezeichnet ihre Frottagen mitunter als „Nicht-Bilder“, die „sicherlich einen ästhetischen Reiz haben, unter deren Oberfläche aber auch etwas steckt. Das Bild ist zwar eine Oberfläche, aber mit diesem Abrieb, mit diesen Frottagen wird ja ein Ideenkonzept aufgenommen, als Fingerabdruck, als einzigartige Spur von diesem Ort.“
Susanne Krell ist es wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass ihre Blätter, ihre Erinnerungsstücke von so vielen Orten auf der Welt, die jeweiligen Orte, Gebäude, berührt haben. Die Blätter lagen auf oder besser: wurden gepresst auf einen Untergrund. Hier kam es zu einer relativ kurzen, aber intensiven Berührung. Das Blatt beziehungsweise das Tuch ist jeweils die Membran zwischen Künstlerinnenhand und Untergrund. Es kann auch als Membran zwischen den Zeiten verstanden werden: Die Künstlerin ist zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt vor Ort gewesen. Dort hat sie die Spuren zum Teil sehr großer Zeitspannen aufgenommen. Zu einem späteren Zeitpunkt können die Betrachter*innen diese Spuren der Zeit auf dem Trägermaterial sehen und erleben – so kommen verschiedene Zeiten auf der Bildoberfläche zusammen, nicht nur der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern auch der Zukunft.
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Dr. Barbara J. Scheuermann
| Head of the Graphic Collection Kunstmuseum Bonn
Susanne Krell: zur zeit und weiter im Kunstmuseum Bonn
in:
Catalog of the Exhibition currently and further at Kunstmuseum Bonn 2020
Susanne Krell ranks among those artists who have been pursuing their artistic work with great continuity and consistency for decades. Where she is concerned, one can justifiably speak of tenacity. Her focus on a particular topic – location determination – and a particular technique – frottage – may even seem obsessive. But it is well known that obsession and the act of artistic creation often go hand in hand. Here is an artist on a (not just artistic) mission. As viewers, we have the opportunity to accompany her for a while and to gain insight into the focussed yet wide-ranging work of Susanne Krell.
Susanne Krell entitled her exhibition at Kunstmuseum Bonn ‘zur zeit _und weiter’ [‘currently_and further’] – a play on language that is typical for her, referring not only to time as an abstract concept but also to the present, to the now in which we find ourselves. As individuals living in a certain time, we are characterised by numerous internal and external factors; we enjoy certain privileges or have these denied to us; we have a (cultural) horizon of experience and are integrated into a social structure that obeys the written and unwritten laws currently in force. Everything we know and experience about our world is subservient to this time frame. We are determined by the time in which we live.
The greatest part of the exhibition at Kunstmuseum Bonn is occupied by the new installation, ‘zur zeit’, after which the exhibition is named: a kind of parkour of ten aluminium stands from which 88 cloths with frottages from 23 countries are hanging. This marks the first time that this complex of works has been shown on such a large scale. In an interview, the artist explains: ‘The traces show the impression that the surface creates. Small and larger cloths; like a second skin, they covered the wall or floor and touched it. I transfer the traces of the surface to the drawing surface. My drawings are directed, no freedom, not from some within; the stone determines my actions. The surface presents itself. Aesthetically, what interests me when collecting traces are the tracks, dots, dashes and lines that appear on the fabric; the shapes have no names at all, but they have verifiable origins. They show an impression; they’re individual and unique to the location of the idea from which they come, like a fingerprint.’
In preparation for this exhibition, Susanne Krell also visited three places in the life of Ida Dehmel: the house in which she was born in Bingen, her residence in Berlin and Dehmelhaus in Hamburg, which today is maintained by Dehmelhaus Foundation. She created three frottages that are presented here enframed in black, along with a video that makes Krell’s walk through the largely preserved Dehmelhaus accessible to the viewer – we can accompany the artist in her search for traces, as it were.
Ida Dehmel, bohémienne and patronne of art, initiator of various women’s groups and wife of renowned poet Richard Dehmel, who died in 1920, was a Jew. Unable to withstand the increasing harassment and the accompanying isolation under Nazi rule, she committed suicide in 1942. In the exhibition, there are four cotton cloths framed in white and entitled simply ‘Four Cloths’. Processed with iron chloride, stain, acrylic and chalk, the works reference this dark period . They contain frottage marks, impressions and other traces of stones. These were parts of the barracks, paving stones, ramp and gas chamber in Auschwitz and Birkenau.
Anyone unfamiliar with these places that underlie the frottages can still see and feel something: patterns, textures, colour, the energy of the work process itself – rubbing, pressing, etching, staining – but also, upon close inspection, the fact that a trace can be seen here of something that actually exists somewhere or once did, in a very concrete way.
In the early 1990s, the artist’s desire to preserve what has been experienced and seen, to capture time, to render the essence of a location visible, prompted her to collect traces of places, buildings, squares and spaces. For this purpose, she discovered frottage, a form of technique used in graphic printing, as a medium for herself – in order to capture and preserve the typical, the ‘energy, the concept, the power of a place’.
Susanne Krell herself can tell a very vivid narrative about how she identified this technique as her technique, now more than 25 years ago. There is a photograph of her taken in the early 1990s in Carnac in Brittany, at one of the famous dolmens: In the photo, the young artist stands with her family, holding a DIN A 3 sheet of paper on a dolmen stone and a pen, and beaming into the camera.
Susanne Krell probably did not know at the time that this would be the first sheet of nearly 700 sheets with frottages from all over the world. But perhaps she sensed it. When she talks about it today, she mentions the energy and power she felt there and that all of the tried and tested methods for imaging – photo, sketch, watercolour – struck her as ill-suited to capturing what she perceived there. The question she asked herself was: ‘What can I take from this place without destroying it?’ It was only on her second visit to Carnac that Susanne Krell brought paper and pen and was able to collect and record its traces in direct contact with the place without destroying it, all in a – so it would seem – very simple process. This marked the beginning of Susanne Krell’s ‘collection of places’. Since then, traces of places from all over the world have emerged – from St. Peter’s Basilica to the Wailing Wall, from her parents’ house to the Imam Mosque in Isfahan.
The frottage – from the French infinitive ‘frotter’, meaning ‘to rub or scrub’ – is one of the oldest reproduction methods for the transfer of raised or relief textures on stone, ceramics, wood or metal. The most familiar method for creating a rubbing – which Susanne Krell also uses – is to lay paper over a relief which is rubbed through using graphite, coal or chalk. More colouring material adheres to the raised areas, and depressions look brighter, and at the end of the process the three-dimensional character of the rubbed object emerges in a two-dimensional representation. But depending on the strength of pressure during contact, the paper itself becomes a relief as well: Elevations press through and bulge the surface of the paper, while concave points form in the depressions. The result is an image of the rubbed object that, if viewed purely visually and superficially, reveals major differences to the original – in the colour, for example, which naturally reflects that of the rubbing medium – but with a tactile structure that comes closer to capturing the object than most other reproduction media, such as photography, could ever come. In a certain way, the creation of a frottage more closely resembles a sculptural process than a pictorial-sketching process, because here, a three-dimensional structure always generates a new one of the same genre.
Unlike other impression methods, however, such as the plaster cast, the frottage entails a basic component that is also pictorial. The flow of the pen over the paper is withdrawn in terms of the overall structure, and yet it always remains a characteristic component of the final result. In contrast to photomechanical methods of reproduction, then, the frottage is always an original. It requires presence and the direct bodily involvement of the person who seeks to achieve a specific result but who can influence that result only up to a point.
Max Ernst discovered the frottage for the art world in the 1920s and put it to masterful use. Interestingly, he, too, discovered the technique in Brittany – but in his case was inspired by the deep grain of a wooden floor. An essential difference between Max Ernst’s method and Susanne Krell’s is that Ernst developed new shapes and figures from the patterns and shapes he captured, in his paintings then transforming these frottages into something different. Susanne Krell, on the other hand, employs frottage for what it is.
She herself does not necessarily view the frottage as a medium, because here it is not the frottage that conveys an idea of the artist in a literal sense. Instead, the artist herself is the medium, a broker between the visited sites in which the frottages emerged and continue to emerge, on the one hand, and their beholders on the other. Her aim is to capture directly the essence of the places of origin, taking at least a portion of this essence along with her and making it resound through re-contextualisation.
Krell herself refers to her frottages as ‘non-pictures’ that ‘certainly have a certain aesthetic appeal, yet something also lurks beneath their surface. While the picture is a surface, this rubbing or these frottages incorporate a concept, a fingerprint, a unique trace of this particular place.’
For Susanne Krell, it is important to recall, time and again, that her sheets, her souvenirs of so many places throughout the world, actually touched the respective places, buildings. The sheets lay – on, better: were pressed against – a surface. They are the record of relatively brief yet intense contact. Each sheet or piece of cloth formed a membrane between the artist’s hand and the surface. It can also be understood as a membrane between the times: The artist was on location at a very specific point in time. There, she retrieved the traces of what in some cases are very long periods of time. At a later point in time, viewers can see and experience these traces of time on the substrate material – with different times converging on the surface of the image, not only times past and present but the future as well.
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Vom Künstlerhaus zum Kunstwerk - Spurensammlung in Blankenese 2019 | Kat. 2020
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Dr. Carolin Vogel
| Vorstandsmitglied der Dehmelhaus Stiftung Hamburg
Vom Künstlerhaus zum Kunstwerk - Spurensammlung in Blankenese 2019
in:
Katalog zur Ausstellung zur zeit und weiter im Kunstmuseum Bonn 2020
„Ich sammle Spuren von Orten, von Gebäuden,
Plätzen und Räumen. Ich sammle die Oberfläche
und das, was unter ihr liegt, die Geschichte und die
Geschichten, die Ideen und das Konzept eines Orts.“
Susanne Krell
„Wir bauten uns ein steinern Kleid“ schrieb das Künstlerpaar Richard und Ida Dehmel 1912 über sein gemeinsames Haus: Ein Gesamtkunstwerk im Geiste des Aufbruchs in die Moderne, ein Treffpunkt bedeutender Maler, Schriftsteller und Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dieses steinerne Kleid umgab den damals in ganz Europa berühmten Dichter und Entwerfer Richard Dehmel und die bedeutende Kunstförderin und angewandte Künstlerin Ida Dehmel wie eine zweite Haut, es war ihr Repräsentationsraum und ihr Refugium, ein Anziehungspunkt für Künstler und ein Kristallisationspunkt der Künste, Schauplatz individueller Lebensgeschichten und allgemeiner Geschichte. Hundert Jahre später war das Dehmelhaus hinter einer dunklen Blätterwand verschwunden und stand vor dem Verfall. Buchstäblich in letzter Minute gelang die Rettung. Inzwischen ist das Haus mit dem originalen, vom Dichter entworfenen Mobiliar restauriert.
Susanne Krell macht Richard und Ida Dehmels steinernes Kleid wieder sichtbar und holt es zurück in die Welt der Kunst: Forschen Schrittes und mit sicherem Blick nähert sie sich dem Haus, umschreitet es, lässt die Augen über die Fassade wandern. Bald schon findet sie die Stelle, aus der kurz darauf ihr neues Werk entsteht. Über die raue Struktur des alten Putzes legen sich Papier und Kreide, unter den geübten Strichen ihrer Künstlerhand erscheinen flirrende Schatten auf dem Blatt. Schwarz zeichnen sich die Höhen und Flächen der Hauswand ab, bilden zugleich die Ränder der Tiefen und Zwischenräume, die im unbestimmten Weiß verbleiben. Mit der Frottage überführt Susanne Krell die Materialität der Architektur in eine neue Daseinsform als Kunstwerk. Überraschend fein und regelmäßig ist das Muster, das sich im Bild zu einer neuen Ästhetik verselbstständigt und so in neu Räume vorstößt.
Zugleich erscheint die Frottage als eine Lebensspur des Hauses, die sich auf dem Blatt abzeichnet. Sie steckt voller Geheimnis, nichts außer dem Bildtitel verweist den Unbeteiligten auf die Herkunft und das Zustandekommen dieser rätselhaften Struktur. Er ist zum Denken herausgefordert. Anders als beim schnellen Bildkonsum der Medienwelt erzwingt die Frottage die Nahsicht und die Konzentration. Die Zuordnung zu einem Gebäude wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Zwar wächst vor dem inneren Auge die Mauer, deren Existenz das Bild bezeugt. Im Wissen um den Ursprung dieser Frottage glaubt der Betrachter womöglich, den rauen Putz unter seiner Handfläche zu spüren. Doch verrät diese künstlerisch abstrahierte Form der Spiegelung nichts über die Gestalt des Gebäudes. Sie ermöglicht weder die optische Klassifizierung noch die inhaltliche Verknüpfung, sondern stimuliert das Auge zu anderen Betrachtungsweisen. Dabei kann sich der Blick vom Haus lösen oder zu ihm hinführen, wenn das Gesehene das Wissen und die Fantasie des Betrachters berührt. Er weiß, dass das Haus hinter dem Papier kein Zufall ist, sondern für eine Idee steht. Unversehens gerät er selbst hinein in die Geschichte dieses Ortes, auf eigene Weise und eigenen Wegen. Alles was war, seit dieses Haus erbaut wurde, scheint nun wie in einem Fingerabdruck auf Papier gebannt.
Susanne Krells künstlerisches Prinzip der Serie stellt sowohl das einzelne Blatt als auch das einzelne Haus in einen neuen Kontext. Einzelstrukturen verbinden sich zu einem großen Gewebe mit unterschiedlichen Rhythmen. Frei von Raum und Zeit reiht sich das Dehmelhaus ein in eine fiktive Stadt, deren Straßen dem Lebensweg der Künstlerin folgen und damit auch etwas über die reisende Archivarin erzählen. Die Einzelgeschichten der Häuser werden zu einem großen Strom der Geschichten, der sich mit Susanne Krells Kunst in die Ausstellungsräume ergießt und durch die wir uns treiben lassen.
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Dr. Carolin Vogel
| Member of the Board Dehmelhaus Foundation Hamburg
From artist’s house to artist’s work – Collecting traces in Blankenese 2019
in:
Catalog of the Exhibition currently and further at Kunstmuseum Bonn 2020
‘I collect traces of places, of buildings, squares and
spaces. I collect the surface and what lies beneath it,
the history and the stories, the ideas and the concept
of a place.’
Susanne Krell
‘We built ourselves a garment of stone’, as artist couple Richard and Ida Dehmel wrote in 1912 about the house they shared: A total work of art in the spirit of a journey into modernity, a meeting place for important painters, writers and composers of the 20th century. This garment of stone was draped over poet and designer Richard Dehmel – renowned throughout Europe at the time – and major art patron and fine artist Ida Dehmel like a second skin. It was their representative space and their refuge, an attraction for artists and a point of crystallisation for the arts, a backdrop for individual biographies and general history. A hundred years later, the Dehmelhaus had vanished behind a dark, leafy wall and was on the verge of dereliction. The rescue succeeded at what was literally the last minute. The house has since been restored with the original furnishings designed by the poet.
Susanne Krell makes Richard and Ida Dehmel’s garment of stone visible again and returns it into the art world: With a brisk gait and steady eye, she approaches the house, walks around it, lets her eyes wander over its façade. She soon locates the place from which her new work will emerge. Paper and chalk are draped over the rough texture of the old plaster, and flickering shadows begin to appear on the sheet beneath the skilled strokes of the artist’s hand. The protrusions and surfaces of the house wall stand out in black, at the same time creating the edges of the recesses and interstices, which are left in an unspecified white. With the frottage, Susanne Krell transforms the materiality of architecture into a new form of being as a work of art. The pattern that takes on a life of its own in the image, advancing into new spaces in the process, is surprisingly fine and regular.
At the same time, the frottage appears as a sign of life of the house as this stands out on the sheet. It is full of mystery, and nothing but the title of the picture is there to remind the uninitiated of the origin and creation of this mysterious structure. The viewer is challenged to think. Unlike the rapid consumption of images in the media world, the frottages force the viewer to concentration and a close-up view. To ascribe the work to a building raises more questions than it answers: The wall to the existence of which the work is a testimony rises up in the mind’s eye. And knowing the origin of this frottage, the viewer may feel the rough plaster beneath his or her palm. And yet this artistically abstract form of reflection reveals nothing about the shape of the building. It permits neither visual classification nor substantive linkage and instead stimulates the eye to other modes of observing. The view can detach itself from the house or - if what is seen touches the knowledge and the imagination of the beholder - lead to it. The beholder knows that the house behind the paper is not a coincidence and represents an idea instead. Unexpectedly, the beholder him- or herself enters into the story of this place, in the beholder’s own manner and along his or her own paths. Everything that has happened since this house was built now seems to be captured like a fingerprint on paper.
Susanne Krell’s artistic principle of the series situates both the single sheet and the individual house in a new context. Singular structures combine to form a large fabric with different rhythms. Free from space and time, Dehmelhaus takes its place in a fictitious city the streets of which follow the artist’s path of life and, in the process, have something to say about the travelling archivist. The individual stories of the houses merge to create a vast current of stories – a current that, with Susanne Krell’s art, pours into the exhibition rooms, and a current on which we ourselves drift along.
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Spuren in die Zukunft | Kat. 2020
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Dr. habil. Ursula Toyka
| Präsidentin GEDOK Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Kunstfördernden e. V.
Spuren in die Zukunft
in:
Katalog zur Ausstellung zur zeit und weiter im Kunstmuseum Bonn 2020
Zum ersten Mal vergibt der Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Kunstfördernden e. V. in diesem Jahr den Ida Dehmel-Kunstpreis der GEDOK, der 2020 von drei ehemaligen Präsidentinnen, Dr. Renate Massmann, Katharina Kaaf und Ingrid Scheller, als Zeichen der Solidarität zwischen Künstlerinnen und ihrem Publikum gestiftet wird. Den besonderen Anlass bietet der 150. Geburtstag der Frauenrechtlerin und Kunstförderin Ida Dehmel (1870-1942). Sie gründete die GEDOK als ersten überregionalen Verband von Künstlerinnen aller Fachdisziplinen und ehrenamtlichen Kunstfördernden. Dieses Netzwerk ist heute das größte seiner Art in Europa und dient der Anerkennung und Chancengleichheit von Künstlerinnen, die im Kunstbetrieb immer noch mit signifikanter Ungleichheit konfrontiert sind. Die GEDOK e. V. sieht sich der Freiheit und Autonomie der Künste verpflichtet und setzt sich für die Gestaltung einer weltoffenen, friedlichen Zukunft ein. Aus diesem Grund steht das Jubiläumsjahr 2020 unter dem Leitthema „Künstlerinnen für die Zukunft – Transdisziplinäre Aktionen im Öffentlichen Raum“ und stellt kreatives Engagement für eine gerechte Gesellschaft und eine lebenswert zu erhaltende Umwelt in den Mittelpunkt.
Im Rahmen eines bundesweit ausgelobten Wettbewerbs wählte eine unabhängige Fachjury Susanne Krell zur ersten Trägerin des Ida Dehmel-Kunstpreises. Mit ihr wird eine Künstlerin ausgezeichnet, die sich über Deutschland hinaus Renommee erworben hat. Ihr Werk hebt sich durch vielschichtige Setzungen und Verdichtung der ästhetischen Ausdeutungen hervor. Auf Basis eines genuinen historischen Interesses und zugleich kritischer Betrachtung der Gegenwart finden ihre Arbeiten auch in transdisziplinären Facetten Inspiration und Ausdruck. Vor allem aber kreist ihr künstlerisches Schaffen um Spuren, die die Zeit in die Oberflächen steinerner Bauwerke gravierte, und um die mit Orten verbundenen „Ideengebäude“, die sich in solchen Spuren kondensieren. Die Künstlerin begibt sich persönlich an nahe und ferne Orte der Welt und nähert sich dort den baulichen Zeugnissen materieller Kultur aus denkbar nächster Nähe: Sie reibt mit schwarzer oder farbiger Kreide auf Papier oder Stoff die Risse, Kerben, Kratzer und Narben auf der Oberfläche des Steins ab. Eine solche akribisch abgenommene Frottage ergibt abstrakte Strukturzeichnungen auf einer hellen Schaufläche im Sinne einer objektiven Zustandsaufnahme im Hier und Jetzt. Diese von Hand geschaffenen Datensammlungen zum sinnlichen „Abtasten“ werden zum einen minimalistisch ins Bild gesetzt und spielen mit den Wahrnehmungen der Betrachtenden vom Trugschluss der Übereinstimmung bis hin zu nur im Detail erkennbaren Unterschieden. Andere Abdrucke erfahren ästhetische Ausdeutung im Sinne einer kreativen „Datenverarbeitung“ und werden von Susanne Krell mit mehreren Farbschichten überlagert, die die Spurenzeichnung dichter verhüllen und der Vorstellungskraft stärkere Impulse versetzen.
Stets sind die Arbeiten, die von zitathaften Ausschnitten zu Großformaten wechseln, mit einer genauen örtlichen Zuordnung verbunden. Diese setzt im virtuellen Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachtenden Reflexion voraus und stößt sie an, wobei die Künstlerin ihre Intervention mit subtilen Mitteln und zugleich eindrucksvoller Beharrlichkeit einbringt. Sie insistiert mit minutiösem Blick und dem Nachdruck von Wiederholungen auf der Wertigkeit des Faktischen und der Pflege von Erinnerungskultur. Zeitebenen verschmelzen in interkulturellen und heimatbezogenen Kontexten. Die transformativen Prozesse verweisen auf die Bedeutung von Ursprung und Herkunft sowie auf Fragen der Gegenwart und Perspektiven der Neugestaltung. In der Sprache unserer Zeit lässt sich ihre künstlerische Modifizierung als Datentransfer vom Ursprungsmaterial über die Idee von der Funktion des Bauwerkes zur Matrix eines übergreifenden Zeitkonzeptes verstehen.
Susanne Krells Installationen interagieren stets mit der ästhetischen Umgebung und mit den Gegebenheiten des Raumes. Im Zentrum ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Bonn stehen erstmals zu sehende farbige Arbeiten auf Stoff in rhythmisch das Rauminnere füllenden Gruppierungen. Die mit leichten Klammern locker an Metallständern fixierten Tücher erinnern an das alltägliche Szenario aufgehängter Wäsche, die beim Luftzug leicht ausschwingt. Das mit den Werkkonstellationen in den Raum gestellte Thema Bewegung gehört untrennbar zur Erfahrung des Ausstellungskonzeptes. Am Anfang und Ende bekräftigen die in Schleifen laufenden Video-Bilder als stilles, aber eindringliches Perpetuum das Postulat der Zukunftsgestaltung. Auf die multiplen Möglichkeiten transformativer Prozesse verweist beim Durchschreiten des Raumes das Erfordernis ständiger Blickwechsel. Die beweglichen Frottagen unterschiedlichster Provenienz im Zentrum setzen einen zunächst lapidar anmutenden Parkours in Szene, der Weltoffenheit auf Augenhöhe einfordert. Einzelne Situationen, wie zum Beispiel die eigens für diese Ausstellung geschaffene Sektion in Erinnerung an das Schicksal Ida Dehmels, an Orte des Grauens und der unmenschlichen Tötungsmaschinerie des NS-Regimes, fokussieren auf die Gefahr politischer Entartungen wie Radikalisierung, Ausgrenzung und Intoleranz.
Wir danken den drei Preisstifterinnen sowie der Stiftung Kunstfonds und allen, die dieses Projekt unterstützt haben. Besonderer Dank gilt dem Kunstmuseum Bonn, das die Ausstellung bisher unveröffentlichter und neuester Arbeiten Susanne Krells in seinen Räumen ermöglichte. Zeitgleich präsentiert das Roentgen-Museum, Neuwied, in der Ausstellung „zur zeit_hier“ Entwicklungen im Schaffen der Künstlerin über die vergangenen drei Jahrzehnte. Basierend auf der Frottage entfaltet sich in den Medien Malerei, Installation, Fotografie und Video somit erstmals ein vielfältiges Gesamtwerk. Seine Überzeugungskraft findet mit dem Ida Dehmel-Kunstpreis der GEDOK 2020 eine gebührende Auszeichnung, zu der wir Susanne Krell herzlich gratulieren!
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Dr. habil. Ursula Toyka
| President GEDOK Federation of Associations of Women Artists and Patrons of the Arts
Traces into the future
in:
Catalog of the Exhibition currently and further at Kunstmuseum Bonn 2020
For the first time this year, the GEDOK Federation of Women Artists and Patrons of the Arts (Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Kunstfördernden e. V.) is presenting the Ida Dehmel Art Prize of GEDOK, which in 2020 is donated by three former presidents, Dr. Renate Massmann, Katharina Kaaf and Ingrid Scheller, as a sign of solidarity between women artists and their audience. The special occasion is the one hundred fiftieth anniversary of women’s rights activist and patron of the arts Ida Dehmel (1870-1942). She established GEDOK as the first national federation of women artists of all disciplines and volunteer patrons of the arts. This network is the largest of its kind in Europe today and fosters recognition and equal opportunities for women artists who still face significant inequalities in the art sector. GEDOK e. V. is committed to the freedom and autonomy of the arts and is dedicated to shaping a cosmopolitan, peaceful future. With this in mind, the guiding theme for the anniversary of the birth year 2020 is ‘Women artists for the future – Transdisciplinary actions in the public space’. The campaign highlights creative commitment to a just society and the effort to maintain an environment that is worth inhabiting.
As part of a nationwide competition, an independent jury of experts selected Susanne Krell as the first recipient of the Ida Dehmel Art Prize. She receives this award as an artist who has gained renown beyond Germany. Her work is distinguished by complex assertions and a condensation of aesthetic interpretations. Based on a genuine historical interest and at the same time a critical consideration of the present, her works also find inspiration and expression in transdisciplinary facets. Above all, however, her artistic work revolves around traces that time has etched into the surfaces of stone structures, and around the ‘idea buildings’ that are associated with places and condensed in such traces. The artist personally travels to places in the world near and far, approaching the structural testimonies of material culture from as close up as possible: Using black or coloured chalk, she rubs the cracks, notches, scratches and scars from the surface of the stone onto paper or fabric. Such meticulously removed rubbings create abstract structural drawings on a bright showcase surface in the sense of an objective status assessment in the here and now. These collections of data, created by hand for sensory ‘scanning’, on the one hand, are minimalist in appearance and play with the beholders’ perceptions based on the fallacy of correspondence that extends down to the differences discernible only in the details. Other prints are aesthetically interpreted in the sense of creative ‘data processing’ and are superimposed with several layers of colour by Susanne Krell, more densely concealing the drawing of traces and sending stronger impulses to the power of the imagination.
The works that range from quotation-like samples to large formats are always linked to a precise assignment of location. This assignment presupposes and initiates reflection in the virtual dialogue between the work of art and its beholder, with the artist contributing her intervention with the aid of subtle means and an impressive tenacity at the same time. With a meticulous eye and an emphasis of repetition, she insists on the value of the factual and the cultivation of a culture of remembrance. Strata of time merge in intercultural and homeland-related contexts. The transformative processes reference the importance of origins and provenance as well as questions of the present and perspectives of redesign. In the language of our time, her artistic modification can be understood as data transfer from the original material, via the idea of the function of the structure, to the matrix of an overarching concept of time.
Susanne Krell’s installations always interact with the aesthetic surroundings and the circumstances of the space. The focus of her exhibition at Kunstmuseum Bonn is on colour works on fabric, shown here for the first time and displayed in rhythmic groupings that fill the interior of the room. The cloths loosely fastened to metal stands with light clamps are reminiscent of the everyday scenario of laundry that has been hung out to dray, swaying gently in the breeze. The theme of movement that these constellations of works situate in space is inextricably linked to the experience of the overall exhibition concept. At the beginning and end, the video images running in endless loops reinforce the postulate of the future as a silent yet insistent perpetuum. The need for constant shifts in perspective as the visitor moves through the room references the multiple possibilities of transformative processes. The kinetic frottages of a wide variety of provenances in the centre set the stage for what would initially appear to be a lapidary parkour that insists upon cosmopolitanism on an equal footing. Individual situations, such as the section created expressly for this exhibition in memory of Ida Dehmel’s fate, of loci of horror and the inhuman killing machinery of the Nazi regime, focus on the dangers of forms of political degeneration such as radicalisation, exclusion and intolerance.
We would like to thank the three donors of the prize, Stiftung Kunstfonds, and all those who have supported this project. We are much obliged to Kunstmuseum Bonn, which made it possible to exhibit previously unpublished and very recent works by Susanne Krell in its exhibition spaces. At the same time, the Roentgen-Museum in Neuwied presents developments in the artist’s work over the past three decades in the exhibition ‘zur zeit_hier’. Based on the frottage and embodied in the media of painting, installation, photography and video, her varied body of work is displayed for the first time as a whole. Its persuasiveness is fittingly recognised in the form of the Ida Dehmel Art Prize of GEDOK 2020, for which we congratulate Susanne Krell!
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Ein Abbild des Himmels – Spiritualität und Ästhetik | Kat. 2018
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Prof. Dr. Frank Günter Zehnder
| Ehemaliger Direktor LVR_LandesMuseum Bonn
Ein Abbild des Himmels – Spiritualität und Ästhetik. Eine kunsthistorische Betrachtung.
in
BALDACHIN Im Verborgenen | Ein Edelstein hinter der Mauer | S. 32 – 35 | Dreifaltigkeit Bern Kat. 2018
Wer – von wo auch immer – in den Hof seitlich der Dreifaltigkeitskirche eintritt oder hineinschaut, sieht sofort ein hier zunächst fremd wirkendes Objekt. Zwischen all den Steinfarben auf dem Plattenboden und an den Wänden der Gebäude hebt es sich signalartig, leuchtkräftig, ja geradezu wundersam von der gesamten architektonischen Umgebung ab. Dieses Objekt setzt einen unübersehbaren Akzent zwischen den geschlossenen Kuben und den grauen bis gelbroten Flächen ringsum. Während der Hof sich nach oben öffnet, gibt sich das mit vier Stützen gesetzte Objekt oben anscheinend geschlossen. Es steht dort, ohne dass sich Sinn und Funktion sofort erschließen, aber es weckt Neugierde und vermittelt dem Betrachter sozusagen intuitiv, dass er etwas Besonderem gegenübersteht. Dieser affektiven Wahrnehmung folgt bei näherer Betrachtung die kognitive, die das Gesamte und die Details durchliest und analysiert.
Die sich vom architektonischen Umraum sowohl absetzende als auch mit ihm korrespondierende Form ist ob der Stützen und des Daches ein kleines offenes Gebäude. Es assoziiert einen Baldachin, eine Pathos- oder Hoheitsformel, wie sie in der Bau, Kunst- und Liturgiegeschichte in vielen Formvarianten realisiert wurde. Ein Baldachin, der unter anderem als Thronarchitektur, als Nische für Skulpturen, als Portal-Anlage, als Himmel (bei der Fronleichnamsprozession), als Fassung von Reliquien oder als paradiesischer Ort von Heiligen in Gemälden seine Verwendung findet, überhöht stets die Personen und Dinge, die sich unter seinem Dach befinden. Besonderes Material oder ausgesuchte Schmuckformen erhöhen sehr oft noch seine symbolische Bedeutung. Unser Baldachin mit seinem Dach zwischen Schweben und Hängen wirkt leicht und erinnert auch an ein Zelt, das ja stets an etwas Vorübergehendes denken lässt. Von zahlreichen Zitaten im Alten Testament bis zur zeitgenössischen Kirchenarchitektur – Zelt Gottes unter den Menschen – ist dies ein geläufiges Symbol. Neben der Form zählt das Material: Glas mit seiner Fragilität und Transparenz steht den steinernen Wänden ringsum gegenüber, deren Fenster, Glastüren und Durchgänge im Wandel des Lichtes Spiegelreflexe und Korrespondenzen erzeugen. Die gläserne Decke bietet darüber hinaus eine Blickerweiterung und die Sicht auf den Himmel. Die Form des Objektes lässt zwischen Hoheitsformel und Zeltdach noch an einen weiteren mobilen Bedarfszweck denken, nämlich an den Pavillon, der die Aufgaben von Unterstand, Angebot, Werbung, Verkauf bis hin zum Car Port bedient. Haben alle diese aufgezählten Assoziationen, Anklänge und Parallelen von Form und Funktionen ihren Sinn, so trifft doch keine präzise. Fern jeden Zweckdenkens handelt es sich um ein reines Kunstwerk. Das Bild vom „geschliffenen Edelstein“ passt gut, verbindet er doch die Idee des ganz Besonderen mit dem Einsatz als Schmuckform, mit ausgesuchtem Material, ausgefallener Technik, ästhetischer Strahlkraft und der Schönheit als höchstem Selbstzweck und Gottesbild. Stahl, Glas, Farbe und Licht sind die materiellen, immateriellen und symbolischen Bestandteile dieses Kunstwerkes, das in seiner Einzigartigkeit von Idee, Konstruktion, Position, Ikonografie und Wirkung weit über jede bisherige Begrifflichkeit hinausgeht.
Bei näherer Betrachtung, beim Durchschreiten, beim Außeneindruck, aus der Vogelperspektive und in der Untersicht erschließen sich nacheinander weitere formale, ikonographische, symbolische und spirituelle Gestaltungselemente. Die bei diesem Objekt mutig aufgesetzte, technisch neuartige, bruchsichere und für das Formerlebnis so wichtige Glashaube ist wegen ihrer Zweischaligkeit von beeindruckender Wirkung. Die übereinander gelagerten, seitlich abgewinkelten Glasflächen erlauben einen Blick auf und durch die Glasmalereien, damit sind sie zugleich räumlich und perspektivisch. Bei Tageslicht, bei Sonnenschein, bei Kunstlicht, unter Außenbestrahlung und auch bei Kerzenlicht erscheint der Aufbau als Corpus und als Folie. Das Aufschauen und das Draufschauen vermitteln grundverschiedene sinnliche Erlebnisse. Die zarten, sich mit zunehmendem Abstand ganz ins Diffuse wandelnden Farbreflexe auf den umstehenden Mauern, Glasflächen und Böden schaffen eine fast poetische Stimmung. Es ist keine Beleuchtung, es ist eine Licht-Erfahrung. Die vor allem im Gegenlicht sichtbaren floralen und geometrischen Formen sind keine Dekoration, sondern Ornamentik. Sie sind genetisch durchaus verwandt der Ornamentmalerei im Kreuzgewölbe der Kirchenvorhalle und in mutierter Form hier als Zitat, Bezug oder Betonung eingesetzt. Diese mehrfarbigen Kreuze, Blätter, Blumen, Gestirne und geometrischen Zeichen sind bedeutungsstarke Symbole, sie bilden einen eigenen Kosmos, meinen Abbild des Himmels und sind zentral sinngebend für unser räumliches Objekt. Gleichzeitig werden auf diese stille Weise unaufdringliche Dialoge sowohl zwischen Kirchenbau und Baldachin als auch zwischen Baldachin und beispielsweise den Schmuckformen des gelb-roten Klinkerbaus gegenüber der Schmalseite geführt. Hier werden Bezüge geweckt, die einander stützen und die der Betrachter mehr unbewusst als bewusst wahrnimmt. Es gibt aber einen auffallenden Bezug, der sowohl kunsthistorisch als auch regionalgeschichtlich, formal wie spirituell bedeutsam ist: Die Blütenpracht des Baldachins hat eine lange vorher entwickelte Parallel-Erscheinung. Es sind die Millefleurs-Tapisserien des ausgehenden fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts, die besonders im Großraum Schweiz, Elsass, Burgund und Breisgau beliebt waren. Das Historische Museum Bern besitzt ja mit dem berühmten „Tausendblumenteppich“ aus der Burgunderbeute eines der schönsten Stücke weltweit. Mit ihren stilisierten Pflanzen und Ranken, Blüten und Sternen meinen diese Wandteppiche in der Marienikonographie den sog. Hortus conclusus (verschlossenen Garten Mariens) und symbolisieren das Paradies. Diese Art der Blumenpracht und Symbolik bezog sich in der mittelalterlichen Buch- und Tafelmalerei stets auf himmlische Zusammenhänge (z. B. Stefan Lochner, Altar der Kölner Stadtpatrone, um 1450, im Dom zu Köln). Die Bemusterung der gläsernen Baldachin-Haube kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie ist neben den materiellen Bestandteilen des Baldachins – Stahl, Glas, Farbe und Elektrizität – die prägende Kraft: das Spirituelle.
Schönheit war schon immer eine Metapher für Himmel, Gott, Heil und Ewigkeit, sie wurde in der Kunst gerne durch Goldglanz, Symbole und Sphärisches vorgetragen. Traditionen verschwinden oder leben durch Wandel fort. So entstehen – wie hier – neue Zusammenhänge von Form, Inhalt und Botschaft. Die spirituelle Dimension ist es, die das mit den technischen Mitteln unserer Tage errichtete kleine Gehäuse nicht als eine luxuriöse Haltestelle, trendigen Messestand oder ausgefallenes Gartenhäuschen definiert, sondern durch ausstrahlende Sinnhaftigkeit zu einer Stätte des Staunens, der inneren Betrachtung und des Aufschauens werden lässt. Diese gläserne Skulptur markiert im künstlerischen Sinn einen Ort der Begegnung von Empfindung und Erfindung, der schöpferischen Integration von Geist und Materie.
Susanne Krell ist bekannt geworden mit ihren Frottagen von Mauern berühmter und berüchtigter Bauten in vielen Ländern der Welt. Sie hat ihre so unterschiedlichen Blätter und Bögen von kultischen und säkularen Gebäuden aus verschiedenen Kontinenten in zahlreichen Ausstellungen zu ungewöhnlichen Gegenüberstellungen, Kontexten und Installationen zusammengeführt. Diese besonders ausführliche Werkreihe lehrt das genaue Hinschauen und vergleichendes Sehen, macht nachdenklich, verstört und rückt sozusagen schärfste ideologische, religiöse und politische Gegensätze zusammen. Ihre Arbeiten berühren das breite künstlerische Feld der Spurensicherung und erfahren stets eine treffende installative Umsetzung, ob es 100 gläserne Säulen mit 148 Frottagen wie im Historischen Gewölbe des Mittelrhein-Museums Koblenz (2008), eine Installation von 106 haubenförmigen Frottagen aus aller Welt und der Lausitz im Sorbischen Museum Bautzen (2012) oder die surreal-märchenhafte Installation auf Schloss Schönstein/Sieg (2014) waren. Sie verbindet in ihren ungewöhnlichen Projekten Zeiten und Geschichten, Traditionen und Aufbrüche, sie bleibt – trotz der oft schwierigen Materie – immer nahe am Menschen und versteht es, ihn als Teilnehmer zu gewinnen. Kryptisches, Geheimnisvolles werden gegenwärtiges Erlebnis und damit auch Erkenntnis. Ihre konzeptuellen Arbeiten, Einzelwerke und Werkreihen, sind präzise geplant, haben mehrere Zugangsebenen, berühren und machen Spiritualität handfest erlebbar.
Mit dem Berner Kunstwerk, ihrer jüngsten und völlig anders gearteten Schöpfung, zeigt Susanne Krell, wie einfallsreich und zugleich pragmatisch, wie zweckfrei und zugleich inhaltlich tief ihre Formensprache ist.
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GOTT IST LICHT (1 Joh 1,5) | Kat. 2018
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Uwe Augustinus Vielhaber OP
| Dipl.-Theologe lic., Akadem. Gemälderestaurator und Kunstwissenschaftler, Fribourg / Schweiz
GOTT IST LICHT (1 Joh 1,5) – Versuch einer theologisch-kunstwissenschaftlichen Annäherung
in:
BALDACHIN Im Verborgenen | Ein Edelstein hinter der Mauer | S. 24 – 27 | Dreifaltigkeit Bern Kat. 2018
Der Prophet Jesaja kündigt in seiner Botschaft etwas Grosses an: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf.“ (Jes 9,1) Will man ein zentrales Thema aufgreifen, das die gläserne Freiplastik der Künstlerin Susanne Krell im Kryptahof der Dreifaltigkeitsbasilika in Bern bestimmt, so stösst man unwillkürlich auf das Sujet „Licht“: Licht und dessen Einwirken auf die physisch erfahrbare Trägermaterie des Kunstwerks BALDACHIN Im Verborgenen | Ein Edelstein hinter der Mauer. Das Licht ist nach dem Buch Genesis das Erste der göttlichen Schöpfungswerke. Die Farben, ein kostbares Geschenk der Schöpfung, haben ihren Ursprung im Licht, dieses hat seine Quelle in Gott selbst, so der Heilige Bonaventura, der bedeutende Philosoph und Franziskaner-Theologe der Scholastik im 13. Jahrhundert.
Mit dem Berner Kunstwerk präsentiert sich Krell als Botschafterin des Lichtes, das im christlichen Verständnis auf Gott selbst verweist. Das Glasobjekt, so die Künstlerin, nimmt Bezug auf die unterschiedlichen Lichtsituationen, Perspektiven und Ansichten der historisch-gewachsenen Innenhofsituation der opulenten Dreifaltigkeitsbasilika: „Die Farben im Glas leuchten. Bei bedecktem Licht passt sich die aufwendig mit Glasmalerei, Drucken und Antikglas gestaltete Glasfläche perfekt in die Hofsituation ein. (...) Bei Dunkelheit leuchtet die Glasform selbst, strahlt prachtvoll aus sich heraus.“ Der Baldachin mit den farbig bemalten Gläsern also als eine Art „Katalysator“, der spezifische Licht-Situationen im Tages- und Jahresverlauf gegenwärtig setzt („Lichtzauber“), ohne selbst verbraucht zu werden. Wenn dem so sein sollte, dann wird hier neben der Berufung Krells als Kunstschaffende wohl auch die Sehnsucht Gottes, unter den Menschen zu wohnen, als spirituelles Anliegen der Künstlerin sinnlich erfahrbar ins Bild gesetzt: Gottes Gegenwart in Licht und Schatten unseres Lebens.
In der biblischen Überlieferung, der jüdischen wie der christlichen, wird an zahlreichen Stellen das Licht in Verbindung mit der Wirklichkeit Gottes gebracht. „Gott ist Licht, keine Finsternis ist in ihm“, schreibt der Autor des 1. Johannesbriefes, in dem er sogar so weit geht, Licht als das Wesen Gottes zu bezeichnen. Susanne Krell eröffnet den Menschen mit ihrem Kunstwerk einen Zugang zur Dimension Gottes, und dies unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis, ob sie nun Christen, Juden, Moslems sind oder auch einer anderen Religion angehören. Die Künstlerin nimmt den Betrachter des gläsernen Baldachins ernst, nimmt ihn als Rezipient aktiv mit ins Bild-Geschehen hinein, denn, so Krell, „alle Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach Schönheit und Liebe, die sich entfalten will“. Weil es ihr bei ihrer Kunst um Empfindungen und nicht nur um pure Rationalität und Logik geht, muss man weder gläubiger Mensch noch Intellektueller sein, um die Botschaft der Berner Freiplastik zu erfahren.
Krell lädt den Betrachter zur Kontemplation ein – zum beschaulichen Sich-Versenken. Insofern erfahren wir als Betrachter den Baldachin zu Recht auch als sakrales Kunstwerk, das über die schlichte Vordergründigkeit hinausweist in die Dimension der Transzendenz; dies aber auf eine leise unaufdringliche und offene Art und Weise, ohne Propaganda und missionarischen Eifer. Den heutigen (noch) vielfach religiös geprägten Besucher lädt der BALDACHIN zur geistlichen Betrachtung, vielleicht sogar zum Gebet ein. Oder ist der BALDACHIN selbst schon bildgewordenes Gebet, wie das die Ikonenmaler für ihre Werke in Anspruch nehmen? Wir dürfen uns diese Frage stellen.
Was beutet das im theologischen Horizont? In dem Buch „Letzte Gespräche mit Peter Seewald“ aus dem Jahre 2016 erklärt Josef Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., „Theologie ist Nachdenken des uns von Gott Vorgedachten.“ Mein Mitbruder, der Heilige Dominikanertheologe Thomas von Aquin (um 1224–1274), ist zeitlebens diesen Weg des theologischen Nachdenkens gegangen. Bereits auf den ersten Seiten seiner „Summe gegen die Heiden“, auf Latein „summa contra gentiles“, begegnet uns die Metapher „Licht“. Es ist die Metapher, mit der Thomas den Prozess der Erkenntnis Gottes beschreibt. Das Bildwort steht sowohl für einen intellektuellen als auch für einen spirituellen Weg des fortschreitenden Erkennens hinein in eine immer tiefere Wahrheit und Weisheit. Thomas nimmt Bezug auf Aristoteles, wenn er zu Beginn der „summa“ schreibt, dass der Mensch „geleitet vom Licht der natürlichen Vernunft“ („ducti naturalis lumine rationis“; I,3) sich eine immer grössere Erkenntnis aneignen kann.
Dabei beschränkt sich diese Erkenntnis im Licht der natürlichen Vernunft nicht allein auf sinnlich erfahrbare, irdische Dinge. Sie umfasst auch spirituelle Dimensionen, also Erfahrungen, die sich nicht primär sinnlich erfassen lassen. Vernunft und Glaube stehen sich bei Thomas nicht einander ausschliessend gegenüber. Das Licht der Vernunft ermöglicht uns Einblicke in die Wahrheit der uns umgebenden natürlichen und sozialen Umwelt. Sie kann auch Einsichten in Dinge des geistlichen Lebens vorbereiten. Das Licht des Glaubens wiederum gewährt dem, der sich dem Licht in der Kontemplation (Thomas spricht viel davon) anvertraut, Einblicke in die geistlichen Wahrheiten von Gott und dessen Wirken in der Welt.
Es bleibt die Frage der Motivation! Warum realisieren wir überhaupt Kunst für und in der Kirche, also beispielsweise auch in den Pfarrgemeinden am Ort? Gemäss dem Sendungsbefehl unseres Stifters Jesus von Nazareth ist es der Kirche aufgetragen, „in alle Welt, bis an die Grenzen der Erde“ zu gehen. Mit diesem gleichsam missionarischen Auftrag ist nicht allein die rein geographische Ausbreitung des Christentums gemeint ist, sondern auch so etwas wie die qualitative Dimension unseres Glaubens angesprochen: Weil der Mensch darauf angelegt ist, sich ästhetisch zu artikulieren, gehört Kunst nicht nur in die Exklusivität der Kunstmuseen, Künstlerateliers und Kunstausstellungen, sondern eben auch in die Gemeinden vor Ort, also dorthin, wo sich das (Glaubens)Leben der Menschen manifestiert. Der Heilige Johannes Paul II. bringt es in seinem vielbeachteten Brief an die Künstler vom April 1999 auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Kirche braucht die Kunst“.
Kirche und Kunst gehören geschwisterlich zusammen, sie sind – bildlich gesprochen – wie die beiden Flügel ein und derselben Lunge zu verstehen, die die Befriedigung der geistlichen Bedürfnisse der Gläubigen sicherzustellen helfen. Der Predigerorden des Heiligen Dominikus, dessen Mitglied ich sein darf, versteht sich von Beginn an bis auf den heutigen Tag als Förderer der Künste. Es wäre einem anderen Beitrag vorbehalten, dies im Einzelnen auszuführen. Ziehen wir die Linie direkt in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) und die daran anschliessenden Jahrzehnte und lassen den Konzilstheologen und Dominikanerkardinal Yves Congar OP (1904–1995) zu Wort kommen. Im Sinne des Vatikanum II die „Zeichen der Zeit“ zu suchen, bemerkte er in einem 1983 erschienenen Artikel im Osservatore Romano: „Die Dominikaner sind in ihnen zu Hause, sie waren und sie sind darin aktiv. Die Dominikaner haben eine Art von Naturverwandtschaft mit den Künstlern.“
Wenn die dominikanische Ordensdevise „Laudare, benedicere, praedicare“ (frei übersetzt: „Gott loben, die Menschen segnen und ihnen das Evangelium verkünden“) lautet, so schliesst dieses „praedicare“ auch die Verkündigung durch die Kunst mit ein, in der die dominikanische Spiritualität sichtbar wird. Sie funktioniert, wie der Dominikanerpater Ulrich Engel OP es formuliert hat, „nicht monologisch, sondern allemal nur dialogisch, kommunikativ, brüderlich-schwesterlich, demokratisch“. An Stelle einer abschliessenden Definition, die im Widerspruch zur vorhandenen Vielfalt stände, betont Pater Engel: „Dominikanische Spritualität ist dabei immer ‚work in progress’ – oder sie ist es eben nicht“, – genauso wie der Susanne Krell- BALDACHIN, könnten wir ergänzend hinzufügen.
Der Prophet spricht: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf.“ (Jes 9,1) Möge dieses Licht seinen Weg durch die Dunkelheit der Welt finden und die Besucher des BALDACHIN Im Verborgenen | Ein Edelstein hinter der Mauer zur Erkenntnis Gottes und seines guten Willens geleiten – dies insbesondere in den Jahren zum Reformationsgedenken und der Ökumene sowie dem Zeitalter des Dialogs zwischen religiösen Traditionen.
ans Licht | Text zur Installation 2018
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Dr. Bernhard Spies
Kaufmännischer Direktor Haus der Kunst München
ans Licht
Gesprochener Redetext zur Eröffnung der Ausstellung
Eine Installation von Susanne Krell im Rahmen des 150-jährigen Jubiläumsjahres der TUM 2018 |
Vernissage 21. Juni 2018 |
TUM.Archiv | Gebäude Bestelmeyer Süd 1. Stock | TUM Hauptgebäude | Arcisstraße 21 | 80333 München |
Liebe Frau Krell, wir beide haben den langen Weg von Bad Honnef-Aegidienberg auf uns genommen, um hier heute Ihre Ausstellung ans Licht zu eröffnen.
In Ihrer Projektbeschreibung erhoffen Sie sich individuelle Assoziationsmöglichkeiten. Ich bin somit nicht gezwungen, zu versuchen, Sie und Ihre Gedanken zu interpretieren, sondern kann Ihnen allen meine Assoziationen mit auf den Weg geben.
Der Ausstellungsort “Bestelmeyer Süd“ trägt allein vom Namen, von der Architektur und der Entstehungsgeschichte her Assoziationen in die deutsche Vergangenheit mit sich. Ich bin seit nunmehr drei Monaten Geschäftsführer des Hauses der Kunst hier in München, in einem Gebäude, in dem die Architektur Geschichte jeden Tag erleben lässt. Zumindest nach drei Monaten lässt einen diese Geschichte noch nicht unberührt.
Ich hoffe, dass Sie keinen Fehler gemacht haben, als Sie einen kaufmännischen Direktor gebeten haben, in Ihre Ausstellung _ans Licht einzuführen. Als Kaufmann könnte man versucht sein, eine Kosten-Nutzen-Analyse anzustellen, um den Wert dieser Ausstellung zu ermitteln. Ich will versuchen, mich dem Thema dieser Ausstellung auf eine andere Art und Weise zu nähern. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich das nicht als Kunsthistoriker oder Kunstsachverständiger tun werde, denn das bin ich nicht.
Das Archiv der TU München lagert Studentenakten seit 1868, also Akten aus einer Zeit schon vor Beginn des deutschen Kaiserreichs. 150 Jahre ist dies nunmehr her. Wir alle können uns daran nicht mehr erinnern.
Aber an die Ereignisse 100 Jahre später – und gestatten Sie mir die nun notwendige Eselsbrücke – also an das Jahr 1968, da können sich einige von uns noch sehr genau an Ereignisse erinnern.
Ich stamme aus Bremen: Wir haben 1968 bei den Bremer Straßenbahnunruhen demonstriert – die Ausstellung ist gerade im Bremer Rathaus zu sehen. Egal wo man `68 und in den Folgejahren politisch stand: Es ging immer um die gesellschaftspolitische Relevanz des eigenen Handelns, aber auch der von Bildung, Wissenschaft und Kunst. Alle, die damals nächtelang diskutiert haben, sind auch heute oft noch geprägt von den damaligen Erfahrungen.
So, jetzt bin ich wieder beim Thema: Liebe Susanne Krell, die gesellschaftspolitische Relevanz ist genau das, was Ihre Arbeiten für mich auszeichnet. Seien es die Frottagen, mit denen Sie Spuren von Orten, Plätzen und Räumen sammeln und zusammenbringen und so die Geschichte dieser Orte „ans Licht“ bringen und dabei auch räumliche, ideologische und religiöse Grenzen überwinden.
Oder auch die heutige Ausstellung _ans Licht hat diese hohe gesellschaftspolitische Relevanz: 80.000 Akten - 80.000 Namen und Daten - 80.000 Geschichten - 80.000 Nummern - 80.000 mal werden Individuen mit ihrer Geschichte wieder sichtbar.
Das ist die eine Seite: Individuen werden wieder sichtbar, sie kommen wieder „ans Licht“. Die andere Seite begegnet uns – den heute Lebenden – täglich: Wir Individuen werden zu Nummer, ob Personenkennziffer, IBAN, Sozialversicherungsnummer, Steuer-ID. Während die Sozialversicherungsnummer noch das eigene Geburtsdatum enthält und die IBAN Rückschlüsse auf die regionale Herkunft zulässt, verschwindet unser Individuum in der Steuer- ID völlig. Name, Vorname Geburtsdatum, Geschlecht und alle anderen Merkmale, die ein Individuum ausmachen, verschwinden in einer einzigen Identifikationsnummer: Mit dem Finanzamt kommunizieren wir nur noch als Nummer und nicht mehr mit unserem Namen.
Liebe Frau Krell, ich habe Sie als Künstlerin vorher nicht gefragt was Sie sich dabei gedacht haben nach dem Motto: „Was wollen Sie mir mit ihrer Kunst sagen?“. Für mich ist immer die wichtige Frage beim Betrachten von Kunst “Was empfinde ich dabei und welche Gedanken mache ich mir?“ Aber das sind ja auch die von Ihnen gewünschten „individuellen Assoziationen“.
Mich hat Ihre Projektidee, die hinter den Nummern stehenden Individuen wieder „ans Licht“ zu holen, sehr bewegt. Gerade auch, weil wir in der heutigen Zeit darüber nachdenken müssen, wie wir trotz aller Nummern als Individuen sichtbar bleiben können. Aber es gibt einen weiteren Aspekt in Ihrer Arbeit, über den ich lange nachgedacht habe. 80.000 Nummern auf Fluchtwegschildern: diese grünen Tafeln mit dem Pfeil, genormt in Höhe, Breite und Lichtstärke.
Nehmen Sie z.B. einmal die Elbphilharmonie: Ein wunderschöner Raum, der abgedunkelt sehr beeindruckend wirkt, wenn, ja wenn nicht über jeder Tür dieses scheußliche grüne Licht wäre!
Für einen Verwaltungsleiter eines Ausstellungshauses sind diese Schilder ein ständiger Kampf mit Ausstellungsmachern, Kuratoren und Künstler, die diese grünen Schilder in ihrer Ausstellung auch fürchterlich finden und am liebsten verbannen würden. Aber ja, die Schilder müssen sein, sie müssen in jedem Raum den Weg nach draußen „ans Licht“ zeigen. Diese Schilder sind notwendig, denn sie können lebensrettend sein.
Sie, Frau Krell, zeigen in Ihrer Ausstellung auf Schildern, die „ans Licht“ führen 80.000 Nummern, um damit Geschichten aus 80.000 Akten wieder „ans Licht“ zu bringen.
Auf diese Art und Weise holen Sie zum 150-jährigen Jubiläum der TUM die in den Tiefen des Gebäudes gelagerten Akten symbolisch „ans Licht“: eine Metapher der Wertschätzung für alle, die hier im Laufe der Jahre für Ihr Leben geprägt wurden.
Meine Damen und Herren, machen Sie sich selber ein Bild, machen Sie sich Gedanken über diese Ausstellung, ich wollte nur einige Anregungen in Form einer individuellen Assoziation geben. Ich wünsche dieser Ausstellung viel Erfolg, viele Besucher und anregende Diskussionen.
materiell | immateriell | Text zur Ausstellung 2018
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Dr. Gabriele Uelsberg
Direktorin LVR-LandesMuseum Bonn
materiell | immateriell
Gesprochener Redetext zur Eröffnung der Ausstellung
Ein Projekt von Susanne Krell im Rahmen der Festwoche der beiden Theologischen Fakultäten, des Alt-Katholischen Seminars und des Zentrums für Religion und Gesellschaft (ZERG) anlässlich des 200-jährigen Universitätsjubiläums 2018 |
Vernissage mit Vorträgen und Empfang |
Katholisch-Theologische Fakultät | Universität Bonn | 27. Januar - 23. Februar 2018
Susanne Krell arbeitet mit Erinnerung, aber diese Erinnerung ist nicht nur eine einfache, eine anekdotische, sondern sie zielt eigentlich auf unser aller kollektives Gedächtnis ab. Ein kollektives Gedächtnis, das wir irgendwo alle in uns tragen, das man aber so schwer benennen kann, das kollektive Gedächtnis, das sicherlich auch stark mit der religiösen Anbindung zu tun hat. Ein kollektives Gedächtnis, das in uns liegt und das wir pflegen müssen, weil Gedächtnis etwas sehr Subtiles, etwas Fragiles ist. Es ist etwas, was ganz schwer zu fassen ist und für das wir immer wieder neue Impulse brauchen, um uns damit erneut intensiv zu befassen.
Die Erinnerung ist gleichzeitig immer kombiniert mit dem Vergessen. Diese beiden sind quasi zwei Pole, die miteinander ringen. Das Sich-Erinnern und das Vergessen gehören als Gedächtnisleistung zusammen und gerade bei schwierigen Fragestellungen sucht der Mensch oftmals den Weg des geringsten Widerstands und flüchtet sich ein Stück weit ins Vergessen, ins Relativieren, ins Verändern, während die Erinnerung so vielleicht erträglich, auf der anderen Seite aber immer schwieriger wird.
Dagegen kämpft, so will ich das formulieren, Susanne Krell mit ihren Arbeiten an. Wir haben alle unendlich viele Erlebnisse, gemeinsame, isolierte, sehr persönliche und diese Erinnerungen haben bei uns Bilder hinterlassen. Manchmal sind es abstrakte Bilder, meistens sind es konkrete Bilder, aber sie sind nicht so konkret, dass wir nachher sagen können, sie sind echt, sondern sie sind in unserer Erinnerung verhaftet und sie überlagern sich mit anderen Erinnerungen, sodass sich in uns eine Art von Teppich, von Flickenteppich aus unterschiedlichen Akzenten bildet, die dann das ausmachen, was wir Gedächtnis oder Erinnerung nennen.
Es ist ganz persönlich, ganz privat, das kann sicher jeder von Ihnen nachvollziehen. An manche Dinge erinnert man sich ganz gut, obwohl man weiß, das war gar nicht so. An andere Dinge erinnert man sich überhaupt nicht, obwohl sie einen ganz wichtigen Akzent im eigenen Leben gesetzt haben. Aber so funktioniert oftmals auch diese kollektive, diese gemeinsame Erinnerung. Und mit der umzugehen hat sich Susanne Krell ganz unterschiedlicher Arbeitsweisen bedient.
Ganz am Anfang stand die sogenannte Frottage. Die Frottage, die Technik, die zum Beispiel Max Ernst verwendet hat, mit der er seine unbewussten Bilder hervorgeholt hat. Aber bei Susanne Krell ist es eine andere Art von Frottage, es ist keine Frottage, die die Basis ist, um dann damit gestalterisch surreale Bilder zu schaffen.
Ich erinnere mich noch sehr gut, fast hätte ich gesagt an eine gemeinsame Aktion mit Pastellkreiden, wo ich Susanne Krell zwei Tage in Krakau begleiten durfte und wir die Spuren auch des Holocaust in dieser Stadt aufgenommen haben, und ich quasi immer Schmiere stand, wenn sie am Wawel oder an anderen Orten auf dem Boden kniete oder an Wänden und Mauern gestanden hat, und diese Orte abgerieben hat auf bunten Bändern, die dann später in einer Installation, die sowohl in Krakau wie in Brauweiler zu sehen gewesen ist, als Bänder der Erinnerung abgehängt wurden und so den ganzen Raum erfüllt haben.
Das war für mich ein besonderes Erlebnis, das vielleicht auch dem Umstand geschuldet ist, dass wir als Kunsthistoriker nicht die Tuenden sind, sondern immer nur die Analysierenden. Es war für mich ein ganz besonderes Erlebnis, weil ich als Akteurin miteinbezogen war, nicht im künstlerischen Schaffen, sondern im Bänder halten, im Bänder aufrollen, im Aufpassen und im Versuch, die Polizisten davon abzuhalten uns herauszuschmeißen, wobei es fast nie passiert ist und ich gespürt habe, dass eben in diesen Erinnerungen, die durch diese Frottagen von den Orten, von den Ereignissen, von den Gebäuden ausgehend aufgenommen werden etwas mehr noch drinsteckt, als nachher zu sagen, es ist genau diese Spur, die diese Wand, diese Kirche, dieses Monument, dieser Gedächtnisort hinterlassen hat.
Es ist auch die Geste, die Geste der Verbeugung, vor dem Ort, vor der Geschichte, das Knien, weil die meisten Frottagen macht man nicht im Stehen, die meisten zwingen den Akteur dazu, sich hinzuknien, sich zu verbeugen. Und das ist ein Stück weit bereits der erste Schritt dieser Erinnerungsleistung, die hier gebracht wird, dass man sich dem Ort nähert und ihn mit einem besonderen Respekt versucht einzufangen und in ein Bild umzusetzen.
Wir haben in der Vitrine hier ein paar andere Aktionen in Erinnerung präsentiert. Ich möchte besonders auf das attigit-projekt verweisen, das ich nur durch einen Text begleitet habe. Es wäre viel zu aufwändig gewesen, dies in natura zu tun. In diesem Projekt hat Susanne Krell die großen Weltreligionen wirklich mit ihren Hauptorten, der großen Moschee in Kairo, dem Petersdom in Rom und der Klagemauer in Jerusalem verbunden. Es ist einige Zeit her und ich glaube, heute wäre es nicht mehr zu schaffen. Heute wäre es unmöglich, und es ist für mich immer noch ein so tolles Gefühl, dass bei allen Widerständen und Fragezeichen dieses Projekt entstanden ist. Heute wäre es gar nicht mehr möglich Frottagen zu machen an den großen Orten der Weltreligionen, diese zusammen zu bringen und damit zu zeigen, es geht nicht darum, welche Religion gegen welche kämpft, sondern es geht darum, dieses kollektive Gedächtnis, dieses Bedürfnis nach Erinnerung, nach gemeinsamem Verstehen, nach Bezogenheit auf eine Welt jenseits der realen, dass dies ein menschlicher Faktor ist, der uns allen eigen ist und der nur verbinden sollte und überhaupt nicht trennen.
In den Arbeiten, die Susanne Krell jetzt für diese Präsentation gemacht hat, kombiniert sie in einer ganz besonderen Art und Weise Frottage und Fotografie von Orten, weil wir nicht nur die Oberfläche, die Taktilität als Erinnerungsspur in unseren Köpfen und in unseren Herzen tragen, sondern auch die Bilder, die damit verbunden sind. Sie schichtet Fotos von den Gebäuden in einer sich fast auflösenden Form mit den Frottagen, dann auch mit Überblendungen mit Pergaminpapier, was die Ebene ein bisschen mehr verschwommen macht. Fast hätte ich gesagt, ein bisschen, wie es bei uns im Kopf aussieht, wo die Dinge miteinander zusammen abgespeichert sind, manchmal in verschiedenen Dateien und je nachdem, welche Erinnerung hochkommt, werden dann die verschiedenen Bilder übereinandergelegt. So kann man sich das vorstellen, so kann man das auch immer wieder gut nachvollziehen, dass wir, wenn wir uns erinnern, wenn wir mit dem Begriff des Gedächtnisses arbeiten, natürlich nicht nur das eine Bild im Kopf haben, was ein endgültiges ist, sondern da ploppen auf einmal ganz viele Bilder auf. Und das ist ja auch wichtig und gut.
Ich bin ja seit 3 Jahren die Vorsitzende der Bürgerstiftung für verfolgte Künste in Solingen. Da sind wir mit dieser Fragestellung unterwegs und waren in diesem Kontext vor ein paar Monaten in Krakau und eben auch in Auschwitz und Buchenwald und wenn man dann ganz aktuell in der Presse liest, dass deutsche Schüler ab einem gewissen Alter davon überhaupt keinen Begriff mehr haben, dann ist man erschrocken, denn man weiß, auf der einen Seite wird in den Schulen der Gedächtnisfaktor erarbeitet und trotzdem haben diese jungen Menschen wahrscheinlich einfach keine Bilder und das ist das Problem. Etwas zu erzählen, einen Ort, von ihm zu berichten, ist nicht dasselbe, als ihn einmal gesehen zu haben, dort gewesen zu sein und diese Bilder vergisst man nicht mehr.
Susanne Krell arbeitet mit ihren künstlerischen Bildwerken daran, für die alle, die natürlich gar nicht die Möglichkeit haben, die Orte alle zu besuchen, Bilder zu schaffen von Gedächtnisorten und sie sind ganz unterschiedlicher Provenienz. Da sind auch nette dabei, wie das Geburtshaus von Angela Merkel, da ist jetzt keine Schreckenserinnerung mit verbunden. Aber es gibt natürlich auch wieder die Orte, die mit Verbrechen und mit Religion und Geschichte verbunden sind. Es gibt einen breiten Fächer von Orten und Ereignissen, die wichtig sind und die ihren Platz in unserem Gedächtnis haben.
Ganz erstaunlich sind die neuesten Arbeiten, die hier zu sehen sind. Wer Susanne Krell wie ich schon länger begleitet, weiß, sie hat auch farbig gearbeitet, eben mehr in der Monochromie, mit ganz bestimmten Strukturen. Neu ist die Verwendung von ganz farbigen Bildern, wie sie hier zu sehen sind, und das ist ganz bezeichnend, aus sogenannten Stills. Das heißt, es sind feststehende Bilder, die aber aus einem Video entnommen sind, die eine andere Qualität haben wie ein ruhig gemachtes Foto. Sie haben eine Art von Flüchtigkeit, von Unschärfe, von Prozess und das ist genau ein sehr schönes Anlog zu dem, wie bei uns Gedächtnis und Erinnerung funktioniert, nämlich wie ein Film, der ständig vorbei geht und wo man nur ab und zu den Versuch starten kann, ein Bild anzuhalten, es sich genauer zu betrachten und dann vielleicht die Erinnerung daran zu beleben.
Diese Stills von Orten kombiniert sie mit Frottagen, die sie digital einbindet, die aber dann nicht mehr einen ersten Blick setzen, sondern eigentlich einen zweiten, so wie eine Hintergrundfolie, die sich hier in der Kombination ergibt und da sind es wieder ganz verschiedene Orte, die fotografiert sind, von Berlin bis New York und von Isfahan bis Jinan und natürlich auch wieder ganz unterschiedliche Erinnerungsorte, Erinnerungszeiten, Erinnerungsereignisse realisieren.
Wenn man sich mit Susanne Krell unterhält, dann spürt man, hier ist nichts artifiziell, hier ist alles sehr aus dem wirklich inneren Bedürfnis heraus entstanden, genau dies zu tun, um es zu tun, es richtig zu tun, weil man es nicht anders tun kann.
Deshalb ist es eine Ausstellung, die nicht nur dem Auge Futter gibt, sondern die bei uns ganz viele Assoziationen, Gedächtnisleistungen, Gedanken und ein ganz tiefes Gefühl von Demut gegenüber Geschichte auslöst. Dafür danke ich dieser Künstlerin immer wieder, weil es immer wieder Freude macht, sich damit auseinander zu setzen.
materiell | immateriell: Susanne Krell und die Bonner katholische Theologie | Text zur Ausstellung 2018
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Prof. Dr. Albert Gerhards
Professor em. für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn
materiell | immateriell
Ein Projekt von Susanne Krell im Rahmen der Festwoche der beiden Theologischen Fakultäten, des Alt-Katholischen Seminars und des Zentrums für Religion und Gesellschaft (ZERG) anlässlich des 200-jährigen Universitätsjubiläums 2018 |
Vernissage mit Vorträgen und Empfang |
Katholisch-Theologische Fakultät | Universität Bonn | 27. Januar - 23. Februar 2018
Text zur Ausstellung
Dass sich die Kunstgeschichte mit Kunst befasst, ist eine Selbstverständlichkeit – womit denn sonst? Aber die Theologie? Warum sollte sie sich, einmal abgesehen von der christlichen Kunst, mit „weltlicher“ Kunst auseinandersetzen? Nun finden seit ca. 25 Jahren in den Räumen der Katholisch- theologischen Fakultät Ausstellungen statt, die meist thematisch frei oder doch nur sehr mittelbar christlich-religiös orientiert sind. Seit 2011 hängt am Kopfende des Ausstellungsgangs das für viele verstörende Bild „Saul (Torso)“ des Aachener Malers und Pfarrers Dr. Herbert Falken, dessen Maxime lautet „Du sollst keine christliche Kunst machen!“. Warum diese Provokation? „Kunst soll stören, Wissenschaft verbindet“ – dieses George Braque zugeschriebene Zitat machte sich kein Geringerer als Papst Benedikt XVI. zu Eigen. Es geht Herbert Falken – und es geht bei dem Projekt „Kunst an der Fakultät", das mit einer Falken-Ausstellung 1993 begann – um die „Chance im Konflikt(1)." Konflikte gehören zum Leben wie die Luft zum Atmen, auch an der Universität. Nur wenn man sich ihnen stellt, kommt man weiter. Religionsgemeinschaften haben stets die Tendenz, sich abzukapseln und eine Nischenkultur zu bilden. Nicht zuletzt um dies zu verhindern, wurde die Bonner Universität vor 200 Jahren mit zwei paritätischen theologischen Fakultäten gegründet. Theologie und Glaube müssen sich im akademischen Alltagsbetrieb bewähren.
Geisteswissenschaften haben die Aufgabe, innerhalb der Universität Spannungen auszumachen und auszuhalten und Konflikte, etwa zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Positionen, so auszutragen, dass sie sich für alle Seiten produktiv auswirken. Die Theologien sind hier aufgrund ihrer singulären staatskirchenrechtlichen Stellung zwischen Religion und Gesellschaft besonders herausgefordert. Dies geschieht durch wissenschaftliche Reflexion und interdisziplinären Disput, aber auch durch ästhetische Bildung. Diese ist für die Theologie kein Luxusartikel, sondern integrativer Bestandteil ihrer Erkenntnissuche.
Die Künstlerin Susanne Krell befindet sich mit ihrer Thematik „materiell | immateriell“ im Zentrum dieser Bemühungen. Ihr künstlerisches Ausdrucksmittel, die Frottage, hat sie in vielen Jahren immer weiter entwickelt und mit immer neuen technischen Mitteln und medialen Ausdrucksmöglichkeiten verbunden. Gemeinsam ist allen Arbeiten der im Titel zum Ausdruck gebrachte Gegensatz. Es geht ihr um das im Materiellen sich manifestierende Konkrete, Haptische, dessen Präsenz aufgrund räumlicher oder auch zeitlicher Distanz aber nicht mehr physisch, sondern quasi symbolisch in der „Berührungsreliquie“ des Abriebs erfahren wird, der Frottage. Diese aber wird in einen neuen Kontext gebracht und vergegenwärtigt so das Objekt, also das Gebäude oder Monument, damit auf neue Weise. Diese Rekontextualisierung geschieht in den Arbeiten von Susanne Krell auf unterschiedliche Weise. Dazu bedient sie sich einerseits verschiedener Techniken wie der Collage, der Fotomontage oder computergesteuerter Verfahren. Andererseits setzt sie unterschiedliche Objekte auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung.
In der Vitrine sind zwei solcher Verfahren dokumentiert. 2008 veranstaltete das ZERG eine EUROPEAN Summer School zum Thema „sacred spaces“. Wir konnten dazu im Dialograum für christlichen Kult und zeitgenössische Kultur "Kreuzung an Sankt Helena" in Bonn eine Ausstellung „attigit.projekt“(2) realisieren, das drei heilige Orte der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam in Jerusalem, Rom und Kairo miteinander buchstäblich in gegenseitige Berührung brachte(3). Mit dieser eindrucksvoll dokumentierten Aktion nahm die Kunst die von der Theologie angestrebte coincidentia oppositorum vorweg. Das 2016 in Königswinter realisierte Projekt „Anschauen_Verbinden“ variierte das Thema mit anderen Mitteln – in diesem Fall der Videoinstallation – auf lokaler Ebene, indem die Sakralräume der beiden christlichen Konfessionen und einer muslimischen Gemeinde miteinander in einen Dialog gebracht wurden(4).
Im Sommersemester 2010 richtete Susanne Krell in der Fakultät eine Ausstellung „Gedächtnisorte – heilig unheilig“ ein. Es handelte sich um Frottagen von Orten der Erinnerung unterschiedlichster Art: Orte des Krieges, des Kommerzes, des Terrors, aber auch des Sports und des menschlichen Lebens insgesamt, insbesondere auch der Weltreligionen. Der Ausstellungsweg endete mit einer textilen Arbeit, die Abriebe und Spuren der baulichen Relikte von Auschwitz und Birkenau aufwies.
Drei Jahre später hieß eine weitere Ausstellung Susanne Krells „Auf Tuchfühlung mit dem Heiligen“. Es handelte sich um einen Beitrag der Fakultät zum nationalen Eucharistischen Kongress 2013 in Köln. Die Frottagen „Heiliger Orte“ verbanden unterschiedliche Religionen, Weltanschauungen und Leidenschaften miteinander. Die Ausstellung präsentierte die textilen Spuren (sowie Papierarbeiten) des Besonderen und fragte nach den sinnstiftenden Faktoren pluraler Gesellschaften.
Die derzeitige Ausstellung „materiell | immateriell“ setzt den eingeschlagenen Weg fort, wobei die künstlerischen Mittel wiederum weiterentwickelt sind. Die 10 in Mischtechnik gefertigten Arbeiten (Fensterseite) erhalten durch die Schichtungen und die Kombination unterschiedlicher Materialien und Techniken eine Vieldimensionalität, die die Zeitstruktur augenfällig macht: Die sich nach vorn schiebenden Frottagen vergegenwärtigen die in den Gesamt- und Detailfotos repräsentierten Objekte. Die schemenhaft-immateriellen Gebäude werden in den Frottagen, die das Vor-Ort-Gewesen-Sein der Künstlerin dokumentieren, gleichsam materialisiert. Hier wird die Bedeutung von Erinnern und Vergegenwärtigen im symbolischen Vollzug, zentrale Funktion der Religionen, manifest.
Demgegenüber bilden die Frottagen in den 11 Digitalprints (Türseite) scheinbar die Basis der farbigen Straßenszenen, die hier vordergründig und ephemer wirken. Auch hier ist die Frottage das entscheidende Interpretament. Sie fragt nach dem Beständigen, Identitären in der flüchtigen Moderne, die sich zunehmend ent-materialisiert und virtualisiert. Der Touchscreen ersetzt personale Begegnung und analoge Berührung, die in den Frottagen vorausgesetzt ist. Die Orte scheinen zufällig zusammengewürfelt, wurden jedoch in einem längeren Verfahren ausgewählt. In der Auswahl kommen Spannungen unterschiedlicher Art zum Vorschein: politische, religiöse, weltanschauliche, ästhetische – das Spektrum unserer realen Welt.
Und was hat das mit Theologie zu tun? Sakrale Orte sind unter den ausgestellten Arbeiten nur wenige zu sehen, stattdessen einige problematische Gedenkorte. Die Digitalprints sind zwar teilweise an bedeutenden Orten entstanden, zeigen meist aber eher Banales. Das könnte bedeuten: Begegnung mit dem Anderen ist an jedem Ort möglich. Hier ist die Bedeutung, ja die Notwendigkeit der Künste für das Selbstverständnis der Theologie anzusetzen: Sie öffnen die Augen und Ohren, also die Sinne und den Verstand für die Spuren Gottes in der Welt – und für die Erfahrung seiner Abwesenheit. Damit werden die Theologinnen und Theologen auf ihr Kerngeschäft verwiesen: auf die radikale Suche nach Erkenntnis, statt im eigenen Saft zu schmoren. Ihr Auftrag ist es, Menschen auf der Suche nach dem Sinn, dem tiefsten Geheimnis ihres Lebens zu begleiten und mit ihnen die Spuren der Gegenwart des Transzendenten in der Welt zu entdecken: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt ans Licht“ (Joh 3,19). So gesehen können die Künste eine kathartische Funktion gegenüber der Theologie und der kirchlichen Praxis in Verkündigung und Liturgie(5) ausüben. Sie leisten einen unverzichtbaren Dienst – freilich nur dann, wenn man ihnen ihre Autonomie zugesteht.
1) Vgl. Albert Gerhards (Hg.), Die Chance im Konflikt(1). Der Maler Herbert Falken und die Theologie (Bild-Raum-Feier. Kirche und Kunst im Gespräch 2), Regensburg 1999,
2) Vgl. Susanne Krell, attigit.projekt, hg. von LVR-Rheinisches LandesMuseum, Bonn, Gabriele Uelsberg/ Universität Bonn, Seminar für Liturgiewissenschaft, Albert Gerhards. Wienand Verlag Köln 2008.
3) Vgl. Susanne Krell, ORTE | Weiter Raum. Arbeiten in sakralen Räumen, hg. von Künstler-Union Köln, Prälat Josef Sauerborn, 2009.
4) Vgl. Susanne Krell, Anschauen_Verbinden. Christuskirche | Sankt Remigius | Moschee Königswinter, hg. von Tom Macke, Königswinter 2016.
5) Vgl. Albert Gerhards, Ars celebrandi. Die Bedeutung der Künste für die Liturgie, in: HerKorr spezial – Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Freiburg 2012, 11–16; ders., Kirche und Kunst der Gegenwart. Eine Wiederbegegung auf den Spuren von Papst Paul VI/ La chiesa e l'arte contemporanea. Un nuovo incontro sulle orme di Paolo VI, in: Giorgio Della Longa, Antonio Marchesi u.a. (Hg.), Arte Architettura Liturgia. Esperienze internazionali a confronto. Atti dell'8 Convegno Internazionale Venezia 21 e 22 ottobre 2010, Lavis 2014, 117-135.
ANSCHAUEN_VERBINDEN | Kat. 2016
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Prof. Dr. Dieter Ronte
| ehemaliger Direktor Kunstmuseum Bonn
ANSCHAUEN_VERBINDEN
Christuskirche | Sankt Remigius | Camii Königswinter | Königswinter 22. – 25.09.2016
Text zur Ausstellung
Für Susanne Krell sind Räume nicht nur geometrische Konstruktionen, sondern immer auch soziale Einheiten, die von Menschen benutzt werden. Für die 15. Kunsttage Königswinter im September 2016 hat sie in Königswinter drei sakrale Räume für den monotheistischen Glauben miteinander verbunden: Christuskirche, Königswinter Camii, Sankt Remigius.
Ihr Konzept beschreibt sie wie folgt: „Drei Sakralräume. Drei Anschauungen. Drei Wege. Drei Orte. Drei Räume. Dreimal Licht und Schatten. Die drei Orte liegen nahe beieinander. Aber: Betritt man den Raum des anderen?
Räume sind Bedeutungsträger in historischen, kulturellen, ästhetischen, vielen weiteren und natürlich auch religiösen Zusammenhängen. Der Ort des anderen birgt Fragen: Wie sieht es dort aus? Was geschieht dort? Was tut der andere? Und auch: Gibt es ein Geheimnis?
Installative Verbindungen schaffen die Möglichkeit der Aufhebung des Hier- und Dortseins und der Gleichzeitigkeit und der Vorstellung vom Geschehen am anderen Ort.“
Durch die heutige politische Situation mit den Problemen der Fremdenfeindlichkeit, des Hasses, der internationalen Flüchtlingsprobleme, dem Status der Immigranten, der Unsicherheit ihrer persönlichen, beruflichen und glaubensbezogenen Existenz, den vielen Kriegen mit ungezählten Toten und mehr ist diese Arbeit der Künstlerin als wichtig und sehr aktuell einzuordnen. Hier bezieht die Kunst wieder zu Fragen des Alltags Stellung, fordert ein Kunstwerk dazu auf, neu zu sehen und mitzudenken, Toleranz zu entwickeln, indem man auf den anderen, den Fremden zugeht, um durch mehr gesehenes Wissen ihn besser zu verstehen. Das gilt auch für die katholischen und evangelischen Kreise, nicht nur für die Moscheebenutzer.
Die installative Technik fungiert mit Kameras und Bildschirmen. Jeder Ort hat zwei Bildschirme für die beiden anderen Räume und eine Kamera, die ihre Aufnahmen an die beiden anderen Orte sendet. Die Kameras sind nach oben hin zu den Fenstern gerichtet. Sie zeigen die unterschiedlichen Räumlichkeiten, nie aber Personen. Sie sind keine Überwachungskameras, sondern Bildträger in einem kulturellen Projekt, das, ohne Menschen zu zeigen, die Menschen miteinander verbinden soll. Die ausgerichteten Kameras werden medial zusammengeführt und in eine zeitliche Gleichheit der verschiedenen Bilder überführt. Technik überbrückt Distanzen zwischen den geistigen Mauern. Sie öffnet Grenzen, sie lässt wertneutral in die anderen religiösen Lager schauen – allerdings immer friedlich, immer ohne Aggression, ohne auch nur einen Funken von eventueller Spionage, sondern schlichtweg aus menschlicher Neugier. Wunderbar, dass die Träger der drei Räume ihre Zustimmung gegeben haben.
Die drei Räume in Königswinter sind die evangelische Christuskirche, eine neugotische Architektur mit einem relativ schlichten Inneren sowie die katholische Sankt Remigius, ein spätbarocker, frühklassizistischer Bau. Die Camii, die Moschee, die von der DITIB getragen wird, begann 1991 in einer geschlossenen Gastwirtschaft, bis 2001 der Neubau daneben dazu kam, der durch eine große Kuppelarchitektur mit Minarett und zahlreichen Elementen islamischer Dekoration sich sehr farbig gibt. Durch ANSCHAUEN_VERBINDEN werden sie zu einem gemeinsamen geistigen Raum zusammengefügt.
Susanne Krell liebt Räume, liebt Verortungen. Mit der von Max Ernst favorisierten Technik der Frottage nimmt sie auf Papier Raum-Eigenschaften von Innen- und Außenwänden auf und verortet sie an anderen Räumen zu einer neuen Gemeinsamkeit. So kann Sankt Peter im Vatikan mit der Klagemauer in Jerusalem und der Al Azhar Moschee in Kairo kommunizieren. Besonders gerne arbeitet sie in spannenden, mit Ausdruck geladenen Räumen, also häufig in sakralen Räumen.
Schon in dem attigit.projekt zeigt sie mit ihren Frottagen die wesentlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens auf, die Kultur und die Religion. Und die Kirchen, die sich beteiligen, werden wieder, wie vor vielen Jahrhunderten und für viele Jahrhunderte, Träger der ästhetischen Avantgarde . Eine Frottage von einem Ort erstellen heißt für Susanne Krell eine Idee sichtbar zu machen, ein (Ideen-) Gebäude zu berühren und durch eine Durchreibung die jeweilige Struktur festzuhalten (siehe S.K., attigit.projekt, Köln 2008, S.11 ). In der Struktur verbirgt sich die Geschichte, der Ideenreichtum und die Kultur des ursprünglichen Bildträgers, der seine Eigenschaften auf das Papier überträgt. Susanne Krell hat ein riesiges internationales Archiv angelegt und publiziert, das auf wunderbare Weise Räume so miteinander verbindet, dass eine neue Erklärbarkeit der Welt entsteht ( S.K., BEWAHREN, Archivlandschaft Rheinland LVR Köln 2015 ).
Die Grundidee zu ANSCHAUEN_VERBINDEN ist somit schon vor Jahren entstanden. Doch statt der nicht immer ungefährlichen Abenteuer der Frottageerstellung an besonders bewachten und geschützten Orten wird das Zeichnen durch die moderne Medientechnik fortgeführt und ergänzt. Die Frottagen sind auf Erhalt mit Mitteln der Kunst gedacht. Das Projekt in Königswinter verzichtet auf diese Zukunft, es ist auf drei Tage angelegt und findet seine Zukunft hoffentlich in den Köpfen und Herzen der Besucher. Doch es wäre gut und sinnvoll, wenn dieses Projekt auch an anderen Orten und vielleicht für eine etwas längere Zeit durchgeführt werden könnte. Krells Projekt ist eine ästhetische, erweiterte Ökumene, die in der Kultur der bildenden Kunst leichter herzustellen ist als in den religiösen Gremien. Kunst verbindet. Kunst kann unendliche Distanzen überbrücken. Sie kann viele Menschen, die sich noch nicht kennen, zusammenbringen. Sie kann Brücken des Geistes bauen. Sie kann unterschiedliche Traditionen und differente Geschichten in der Gegenwart für die Zukunft zusammenführen.
Doch trotz der Gemeinsamkeit des Verbindens der drei Orte bleibt die Rezeption des Kunstprojektes ein individuelles Erlebnis. Jeder Betrachter bringt andere Konnotationen und Erfahrungen, ein anderes Wissen mit in das Projekt hinein, das für den freien Bürger erdacht worden ist: der hohe Abstraktionsgrad von ANSCHAUEN_VERBINDEN, der Verzicht auf Figuren, zeigt die Kunst als einen Freiraum des friedlichen Zusammenlebens. Ein Freiraum, in dem die aktuelle, äußerst wichtige Diskussion durch Handeln und Nachdenken friedlich und ohne jeglichen Hass oder gezielte Demagogie geführt werden kann.
Das Projekt unterliegt keinem Harmonisierungszwang, wohl aber einem Darstellungsdrang von einer Idee als Verortung von Personen, die das Projekt mit einer Harmonisierungshoffnung verbindet: Idee – Handeln – Hoffen als Verständnisreaktion für ein neues Verstehen von Welt, Politik und mit der Sicht der eigenen Verwobenheit in diese Welten. Krell hat vor der politischen Verantwortung keine Berührungsängste. Doch sie malt nicht wie Picasso in seinem Bild „Guernica“ Metaphern des Todes und der menschlichen Existenz, sondern sie agiert mit den Nutzern, die als Weiterträger ihrer Anregungen handeln sollen. Das klingt wie ein schulisches Programm, doch die Kunst von Susanne Krell wirkt ohne jeglichen pädagogischen Zeigefinger. Sie verlangt auch kein spezifisches Wissen, mit dem das Werk verstanden werden kann. Krell arbeitet leise, wie selbstverständlich, weil sie unter Kunst einen Prozess versteht, der nicht der Erfreuung und der sogenannten Schönheit gewidmet ist, sondern ohne Illusionen der Realität des Lebens verpflichtet ist.
Der Landkreis Neuwied | Gemälde und Zeichnungen aus 200 Jahren | Röntgen Museum Neuwied Kat. 2016
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Bernd Willscheid
| Leiter des Röntgen Museums, Neuwied
Der Landkreis Neuwied Gemälde und Zeichnungen aus 200 Jahren
in:
Katalog zur Ausstellung S. 70-71, Neuwied Kat. 2016
Susanne Krell
9 Frottagen aus der Serie „Arbeiten auf Papier“
Sammlung seit 1999, aktuell 521 Frottagen
Kreide auf Papier
je 29,7 cm x 42 cm
Kloster Ehrenstein bei Neustadt/Wied
Schloss Arenfels in Bad Hönningen
Burg Reichenstein bei Puderbach
Rathaus Rengsdorf
Basaltsäule in Linz
Kreuzkapelle bei Waldbreitbach
Weinbergsmauer bei Unkel
Pegelturm Neuwied
Uhrturm Dierdorf
Wandarbeit „Ohne Titel“, 2000
Frottagen, Siebdruck auf Acrylglas, Acryl auf MDF
Wand 390 x 640 cm
Landkreis Neuwied (Wandgestaltung), Sammlung Selbert, Mainz (Original-Frottagen)
Die Wandgestaltung „Ohne Titel“ führte die in Betzdorf geborene Künstlerin Susanne Krell im Rahmen eines Kunst am Bau-Wettbewerbes für das Foyer des ehemaligen Kreisständehauses, heute Kreisverwaltung Neuwied, aus. Die Arbeit ist auf den dortigen Eingangsraum und auf die Geographie des Landkreises Neuwied bezogen. Vorlage für die Grundform war das historische Fischblasenmotiv (Schneuß) aus dem neugotischen Maßwerkfenster des Eingangsportals. Frottagen mit Abrieben von historisch bedeutenden Bauwerken aus den acht kreisangehörigen Verbandsgemeinden und der Stadt Neuwied wurden hierin eingearbeitet.
In der Ausstellung werden die neun einzelnen Original-Frottagen gezeigt, die auf die Wandgestaltung übertragen wurden. Es sind Strukturabnahmen von Steinoberflächen an folgenden Gebäuden: Pegelturm Neuwied, Kloster Ehrenstein bei Neustadt/Wied, Schloss Arenfels in Bad Hönningen, Uhrturm Dierdorf, Basaltsäule in Linz, Burg Reichenstein bei Puderbach, Rathaus Rengsdorf, Weinbergsmauer bei Unkel und Kreuzkapelle bei Waldbreitbach. Solche Frottagen entstehen, indem auf einem auf einem Stein aufliegenden Papier mit einem Stift die darunter liegende Oberflächenstruktur abgerieben wird. Hiermit konnten die Spuren der jeweiligen Steine und Mauern erfasst und auf die Tafeln der Wandgestaltung übertragen werden. Mit den Originalspuren der Steine verbinden sich so die dazugehörigen Gebäude aus dem Landkreis Neuwied.
Link: Katalogseite 70-71
BEWAHREN, zu den ausgestellten Arbeiten von Susanne Krell in: BEWAHREN | LVR-Kulturzentrum Abtei Brauweiler Kat. 2015
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Dr. Claudia Kauertz
| Leiterin des Sachgebiets Archivberatung, LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum (LVR-AFZ), Pulheim-Brauweiler
in:
__BEWAHREN, Katalog zur Ausstellung BEWAHREN Archivlandschaft Rheinland, LVR-Kulturzentrum Abtei Brauweiler Kat. 2015
1__BEWAHREN
Neon-Skulptur im Kreuzgang der Abtei Brauweiler
Leuchtstoffröhren auf Alubox
H 162cm | B 24cm | T 10cm
__BEWAHREN verkörpert das Motto der Ausstellung. Das Bewahren ist zugleich gesetzlicher Auftrag und gelebter Anspruch der Archive. Bewahren bedeutet mehr als den dauerhaften Erhalt und die Sicherung der archivwürdigen Unterlagen in ihrer Entstehungsform – im Original; es umfasst auch die Bildung der Überlieferung sowie die Erschließung und Bereitstellung von historisch wie rechtlich relevanten Unterlagen für die Nachwelt.
Archive sind der Überlieferung des Authentischen verpflichtet. Wahr ist, was bleibt, was bewusst, aktiv gepflegt und bewahrt wird. Den Archiven kommt eine Schlüsselfunktion für die Erforschung und Rekonstruktion historischer Wahrheit(en) zu, indem sie die Maßstäbe für historische Urteilsbildung bereitstellen. Sie bewahren einerseits historische Quellen, tragen aber andererseits auch die Verantwortung für das, was bewahrt wird und was nicht. Und sie erfüllen ihre Aufgaben nicht als Selbstzweck – um des Bewahrens willen –, sondern als öffentlichen oder privaten Auftrag. Sie stellen ihre Quellen allen Interessierten für vielfältige historische Fragestellungen, aber auch für rechtliche und persönliche Anliegen zur Verfügung.
__BEWAHREN wirbt strahlend für die Arbeit der Archive. Die Neon-Leuchtschrift ist ein modernes Werbemittel, das durch seine Form einen Kontrast zum Präsentationsort, dem romanischen Kreuzgang der Abtei Brauweiler, bildet, sich aber gleichzeitig durch seine Gestaltung und Farbwahl einpasst. Die Abtei Brauweiler ist nicht nur ein eindrucksvolles historisches Denkmal, sondern auch ihre heutige Nutzung ist dem Bewahren verpflichtet. Mit dem Archivberatungs- und Fortbildungszentrum und dem Amt für Denkmalpflege im Rheinland beherbergt sie zwei LVR-Kulturdienststellen, die sich jeweils unterschiedlichen Formen des Bewahrens – von historischen Schriftzeugnissen/Archivgut bzw. historischen Gebäuden/Denkmälern – widmen.
__BEWAHREN vermittelt aber auch, dass die authentischen Zeugnisse mit ihren einzigartigen Inhalten zeitgemäß beworben und vermittelt werden müssen, um in der jeweiligen Gegenwart wahrgenommen und weiter bewahrt werden zu können. Die Art der Vermittlung muss sowohl den Inhalten angemessen als auch adressatenorientiert sein, um für verschiedene Zielgruppen attraktiv zu sein und um von ihnen verstanden werden zu können.
Schließlich verweist __BEWAHREN mit seiner hochrechteckig-symmetrischen Form auf die Ordnung, die der Archivar schafft, erschaffen und bewahren muss, damit die ihm anvertraute Überlieferung zugänglich wird und genutzt werden kann. Archivische Erschließung ist Wertschöpfung. Sie ermöglicht erst die Recherche und Auswertung der überlieferten Dokumenteund schafft die Voraussetzungen dafür, dass Geschichte auf der Basis der überlieferten Quellen geschrieben werden und so Orientierung in der Zeit geben kann.
2__Glossar
Beamer-Projektion im Gierden-Saal während der Tagung
Video: Datenwolke aus 99 Fachbegriffen zum Thema Archiv
DVD 28.48 min Loop
Im Gierden-Saal, dem Tagungsort, werden 99 ausgewählte Begriffe aus der archivischen Fachsprache in zufällig wechselnder Abfolge hintereinander und ineinander laufend projiziert. Wie in einer digitalen Datenwolke werden die Worte zufällig kombiniert; längere und kürzere Begriffe treffen aufeinander, verschmelzen, bilden neue kreative Kombinationen und wecken ungeahnte Assoziationen und Denkanstöße.
__Glossar nimmt Bezug auf die digitale Situation und den Medienwechsel, der auch gravierende Auswirkungen auf die Archive hat. Die Entkörperlichung von Information – die Trennung zwischen Information und Informationsträger – bietet neue Möglichkeiten und verändert das Bewusstsein und die Wahrnehmung. Die Ansprüche der Nutzenden auf die ubiquitäre Verfügbarkeit von Archivgut im Internet erzeugen Handlungsdruck. Um auch in der digitalen Welt wahrgenommen zu werden, sind die Archive gehalten, sich und ihre Überlieferung – zum Teil als Digitalisate – im Internet zu präsentieren; außerdem übernehmen sie nun nicht mehr nur Papierakten, sondern auch originär digitale Unterlagen aus den Verwaltungen ihrer Unterhaltsträger. Die neuen Möglichkeiten stellen Archivarinnen und Archivare vor neue Herausforderungen. Digitalisierung ist kostenintensiv und beansprucht Ressourcen, die häufig nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen. Und auch das digitale, naturgemäß flüchtige Archivgut muss in seiner Entstehungsform dauerhaft erhalten werden. Dazu sind komplexere und aufwändigere Strategien notwendig als für den Erhalt der analogen Schriftzeugnisse
3__keine richtige Ansicht
Installation im Winterrefektorium
Raumhohe Arbeit der 6 Buchstaben ARCHIV aus Altkartonage des Archivdepots der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. (VAR), Schloss Ehreshoven
Jeweils H 264cm | B 116cm | T 39cm
Die sechs Buchstaben des Begriffs ARCHIV werden aus 264 ausgemusterten Archivkartons formiert. __keine richtige Ansicht lotet die Möglichkeiten der räumlichen Gestaltung im Winterrefektorium der früheren Abtei Brauweiler aus. Die Buchstaben sind so zwischen den Säulen aufgestellt, dass man sie nur aus einem bestimmten Winkel im Verbund in den Blick nehmen und damit lesen kann. Hier stellt sich die Frage nach der Orientierung: Wie muss ich mich ausrichten, um einen Standpunkt zu finden? Aber auch: Woran richte ich mich aus? An der Geschichte, deren Zeugnisse in Archiven bewahrt werden?
Pro Buchstabe wurden jeweils 24 Archivkartons in der Höhe aufeinander gestapelt und miteinander verschraubt. Pro Karton wurden jeweils 3 bis 4 Verschraubungen angebracht und insgesamt mehr als 1.000 Löcher gebohrt, um die Skulptur in der Form gestalten zu können. Dieser aufwändige Entstehungsprozess ist – ähnlich wie die Arbeit der Archive – am Objekt kaum erkennbar. Ebenso ist die archivische Arbeit zur Bewertung, Übernahme, Erhaltung, Sicherung, Erschließung und Nutzbarmachung der authentischen Dokumente mit Aufwand verbunden, der von außen häufig nicht wahrgenommen wird.
__keine richtige Ansicht besteht aus Altkartonage, die ursprünglich zur Verpackung von Archivalien im Archivdepot der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland auf Schloss Ehreshoven verwendet und gegen neue säurefreie Kartonage ausgetauscht wurde. In den Kartons waren Teile des Archivs Schloss Hugenpoet verpackt. Davon zeugen noch die auf den Kartons sichtbaren Signaturen. Sie sind Spuren der ursprünglich in den Kartons verwahrten Überlieferung. Der Bezug zwischen der Verpackung und den ehemaligen Inhalten
ist noch erkennbar.
Der Archivkarton ist gleichsam ein Symbol für die Archivarbeit. Als äußere Verpackung schützt er die wertvollen Originale und garantiert ihren Erhalt unmittelbar. Gleichzeitig bildet er als Verpackungseinheit aber auch eine Ordnungseinheit und verweist damit auf das System der archivischen Ordnung. Die Kartonmaße sind genormt, damit die verwahrte Überlieferung nicht nur geschützt ist, sondern möglichst platzsparend und effizient entsprechend den konservatorischen Anforderungen in Regalsystemen untergebracht werden kann. Die Lagerung bildet die archivischen Ordnung ab. Die Unterlagen werden nach ihrer Herkunft in Bestände eingeteilt und entsprechend gelagert. Gelegentlich erfolgt die Lagerung aber auch nach Materialität bzw. nach Formaten und Überlieferungsträgern, die besondere Lagerungsbedingungen erfordern. Eine standardisierte Lagerung und Ordnung macht den Erhalt und die Nutzung der Dokumente möglich.
4__Fluchtkiste
Installation im Winterrefektorium
Archivkiste Schloss Gracht von 1634 im Archivdepot der VAR, Schloss Ehreshoven,
Video: Rollregale
Digitaldisplay in der Schublade
AVI 3.31 min Loop
__Fluchtkiste stellt die historische und die moderne Aufbewahrung in Archiven gegenüber. Die an einen Schrank erinnernde Archivkiste von 1634 aus dem Adelsarchiv Schloss Gracht symbolisiert die historische Aufbewahrung und Ordnung. Archive werden heute als Institutionen mit festem Standort betrieben. Eventuelle äußere Bedrohungen, die eine Verlagerung ganzer Archive erfordern, spielen bei der Archiveinrichtung keine Rolle. Dies war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit anders. In den Adelsarchiven wurden diejenigen Urkunden und Dokumente aufbewahrt, die den materiellen Besitz und die Herrschaftsrechte der Adelsfamilie dokumentierten und damit sicherten. Ihren Besitzern war bewusst, dass ihre Archive in Kriegszeiten besonders bedroht waren. Um schnell flüchten und sie mitnehmen zu können, wurden sie in mobilen Archivschränken untergebracht. In Kriegszeiten wurde die permanente Bedrohung auch bei der Unterbringung des Archivs mitbedacht, so dass dessen Mitnahme im Fall einer Flucht möglich war. Deshalb wurde der Archivschrank aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges als mobile Fluchtkiste gestaltet. Bei der Unterbringung der Dokumente musste aufgrund des beschränkten Platzes eine Auswahl der wichtigsten besitzsichernden Dokumente getroffen werden. Und so stellten sich Fragen, die noch heute für die moderne Archivarbeit von zentraler Bedeutung sind: Was ist wichtig? Was lohnt sich mitzunehmen? Welche Dokumente sind erhaltenswert?
__Fluchtkiste zeigt in einer Schublade das Video einer modernen Rollregalanlage. Damit werden historische und moderne Formen der Aufbewahrung von Archivgut gegenübergestellt. Die kompakte Rollregalanlage steht für die moderne Form der Aufbewahrung von Archivgut. Sie ist fest im Archivmagazin installiert. Eine plötzliche Flucht in Krisenzeiten ist bei dieser Art der Aufbewahrung ausgeschlossen. Das Archiv als Ganzes ist heute „krisensicher.“ Gleichzeitig wird die innere Dynamik der Rollregalanlage deutlich. Die sich drehenden, tanzenden Hebel bewegen die Regalelemente. Nur durch die Verschiebung der Anlage gelangt man zu der Überlieferung. Der Gang zu den historischen Dokumenten wird frei; Benutzung ist möglich.
5__etwas mitzunehmen ist möglich
Installation im Winterrefektorium
Fotografien von 48 Urkunden aus dem Stadtarchiv Erkelenz in leinengebundenem burgunderroten Bucheinband mit goldenem Prägedruck
Kopien von Regesten zu den Urkunden aus: Dieter Kastner (Bearb.), Die Urkunden des Stadtarchivs Erkelenz. Regesten, Brauweiler 2001 (Inventare nichtstaatlicher Archive 40), auf dünnem Papier zum Mitnehmen
Buch und 12 Papierstapel (je 500 Stück) auf Tisch arrangiert
Das fotografische Abbild lateinischer und niederdeutscher Originalurkunden aus dem Stadtarchiv Erkelenz wird mit den zugehörigen Regesten kombiniert, durch die die Urkunden erschlossen und zugänglich gemacht werden. In moderner Sprache bieten die Regesten für jede Urkunde eine Zusammenfassung unter Aufführung der wesentlichen Urkundeninhalte und der handelnden Personen. Sie sind der Schlüssel zu den Urkunden, deren Inhalt sie erst verständlich machen.
Während die Fotografien der Urkunden als deren Abbilder in einem wertvoll anmutenden, in purpurnes Leinen gebundenem Buch mit kostbarem Goldprägedruck dargeboten werden, sind die Regesten, die die Inhalte erschließen und damit den historischen Wert der Urkunden erst deutlich machen, auf dünnem Papier gedruckt und zum Mitnehmen gedacht. Hier stellt sich die Frage: Was ist wichtiger? Der Inhalt oder die Form?
__etwas mitzunehmen ist möglich präsentiert im linnenen Einband nicht die Originalurkunden, sondern deren fotografisches Abbild. Allerdings hebt auch die neue Präsentationsform das hohe Alter und den materiellen Wert der Urkunden hervor. Die Regesten hingegen, die den historischen Wert der Urkunden erst erkennen lassen, treten in einer minderwertigen Materialität auf dünnem Papier in Erscheinung.
Dies wirft wiederum Fragen auf: Welche Bedeutung hat die Präsentationsform für die Inhalte? Aber auch: Was nehme ich mit? Welche Bedeutung haben die historischen Inhalte für uns heute?
Schließlich verweist __etwas mitzunehmen ist möglich auf die Bedeutung der archivischen Erschließung. Die Erschließung ermöglicht die Benutzung und stellt Quellen für unterschiedlichste Fragestellungen bereit. Sie ebnet den Weg zu den Quellen und macht deren inhaltlichen, historischen und rechtlichen Wert erst sichtbar.
6__10 Archive
Frottagen im Winterrefektorium
Kreiden auf Papier
Jeweils H 29,7cm | B 42cm
1 475 Schloss Ehreshoven Archivdepot VAR historische Wand innen
2 492 Erkelenz Stadtarchiv Backsteinfassade außen
3 507 Aachen Stadtarchiv Eingang Alte Nadelfabrik
4 493 Mülheim Stadtarchiv Türschwelle
5 505 Köln Karnevalsmuseum und -archiv Treppenhaus innen
6 508 Brauweiler/Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland
7 506 Köln Historisches Archiv des Erzbistums Köln Treppenhaus innen
8 278 Neuwied Fürstlich Wiedisches Archiv Eingang
9 409 Wissen/Sieg Archiv Schloss Schönstein
10 465 Berlin Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
__10 Archive waren an dem Projekt beteiligt. Die Frottagen, die von Wänden oder Böden dieser Archive genommen wurden, protokollieren deren Oberflächenstrukturen. Damit stehen sie gleichsam als authentische Fingerabdrücke für das jeweilige Archiv und die dort verwahrte einzigartige Überlieferung.Grundbedingung für die Erstellung einer Frottage ist Bewegung. Man muss sich an den jeweiligen Ort begeben, um einen authentische Abrieb herstellen zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Benutzung in Archiven. Wenn man die hier überlieferten authentischen Quellen nutzen will, muss man sich dorthin begeben. Die Quellenarbeit vor Ort ist die Grundlage jeden historischen Arbeitens. Dabei haben die Quellen stets einen klaren zeitlichen und örtlichen Bezug, der die räumliche und sachliche Zuständigkeit des jeweiligen
Archivs widerspiegelt.
Installationen in acht Nischen im Gewölbekeller
Die folgenden acht Installationen wurden in die acht Nischen des mittelalterlichen Gewölbekellers des ehemaligen Westflügels und späteren – nach der barocken Erweiterung – Mittelbaus der Abtei Brauweiler eingepasst. Der Keller wird ansonsten als Lagerraum genutzt und ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
7__Schöne Wörter
Videoinstallation bezugnehmend auf vorhandene Wand und Lapidarium
Subjektive Auswahl von 103 Begriffen zum Thema Archiv
DVD 12.39 min Loop
Wortbilder, eine digitale Sammlung von 103 Begriffen aus der Archivterminologie, werden auf die Wand einer Nische des Gewölbekellers und das darin lagernde Lapidarium projiziert. Die Wörter erscheinen einzeln nacheinander in willkürlicher Reihenfolge, fallen quasi aus dem Kellerfenster, laufen die Wand hinunter und werden schließlich an einer Kante von ihr verschluckt.
__Schöne Wörter verweist einmal mehr auf die Flüchtigkeit digitaler Information. Digitale Information existiert im virtuellen Raum, ist nicht an materielle Substanz gebunden und daher schwer zu fassen und noch schwerer dauerhaft zu erhalten.
8__PLÄNE
Beamer-Projektion in einer Nische im Gewölbekeller
Video: 12 Stadtpläne Aachen Dombezirk im Stadtarchiv Aachen
DVD 7.21 min Loop
__PLÄNE projiziert aufeinander folgend zwölf historische Stadtpläne des 17. bis 20. Jahrhunderts aus dem Stadtarchiv Aachen. Im Zentrum steht jeweils die Aachener Altstadt mit dem Dombezirk. Dieser wird immer näher herangezoomt. Seine unterschiedlichen Darstellungen im Lauf der Jahrhunderte treten so deutlich hervor. Ein Wandel in der Darstellungsform ist erkennbar. Diese entfernt sich immer mehr von der ursprünglich stärker individuellen Darstellung, die durch den in den älteren Karten eingezeichneten Domgrundriss symbolisiert wird. In modernen Stadtplänen kennzeichnet nur noch ein einfacher Punkt das Domgebäude.
Karten und Pläne sind klassische analoge Mittel zur Orientierung, die heute zunehmend durch umfassende elektronische Orientierungssysteme wie das globale Navigationssatellitensystem GPS ersetzt werden. Die digitale Welt treibt die Standardisierung weiter voran. In der Darstellung des Aachener Dombezirks bleibt heute lediglich ein austauschbares Symbol, ein roter Punkt, übrig.
9__Nussbaum
Installation aus Dia- und Overheadprojektionen und Monitorbild in Wandnische
Geburtsurkunde, Steuerliste, Fotos der jüdischen Familie Nussbaum aus Aachen
Fotos von Karl Nussbaum, Künstler aus New York und Benutzer im Stadtarchiv Aachen
80 Dias, Bildfolien und Porträt
Auslösung der Dia-Projektion mittels Lichtschranke durch BesucherInnen
__Nussbaum stellt einen weiteren zentralen Aspekt des Bewahrens in den Mittelpunkt: die Nutzung, die den Gegenwartsbezug und damit den Daseinszweck der Archive darstellt. In der demokratischen Gesellschaft ist die Archivnutzung ein gesetzlich garantiertes Jedermann-Recht, das von Interessierten in Anspruch genommen werden kann, um etwa die Geschichte der eigenen Familie zu erforschen. Der amerikanische Künstler Karl Nussbaum mit deutsch-jüdischen Wurzeln ist ein solcher Archivnutzer. Auf der Suche nach seinem von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Großvater, der aus Aachen stammte und vor dem Krieg einen Zigarrenladen in der Adalbertstraße besaß, kommt er ins Stadtarchiv Aachen, um Antworten auf die Frage nach seinen Wurzeln zu finden. Und er wird tatsächlich fündig: Als Ergebnis seiner Recherchen kann er die Geburtsurkunde und Steuerunterlagen seines Großvaters ermitteln, bestellen und schließlich in Händen halten. Die archivierten Unterlagen dokumentieren Facetten der Person seines aus rassischen Gründen verfolgten Großvaters aus einer staatlichen Perspektive, machen aber zugleich auch dessen Individualität sichtbar. So ist hier etwa ein Lichtbildporträt erhalten.
__Nussbaum präsentiert den Archivbesuch auf drei Ebenen, aus drei verschiedenen Perspektiven und mit drei verschiedenen Medien. Dem gegenwärtigen, im Archiv forschenden Karl Nussbaum begegnet der Betrachter gleichsam auf Augenhöhe auf einem Monitor. In der Ebene darunter werden die auf seinen Großvater bezogenen historischen Dokumente in einer Dia-Projektion präsentiert. Diese bilden das Fundament der Familiengeschichte Nussbaums. Dabei beginnt die Dia-Projektion erst, nachdem der Besucher/die Besucherin eine Lichtschranke ausgelöst hat. Das heißt, die Dokumente zur Geschichte des Großvaters werden erst durch die Bewegung, das Herantreten an die Projektion sichtbar, lebendig und wiederholbar. Die dritte Ebene erscheint in einer Overhead-Projektion an der Decke des Gewölbes über den beiden anderen. Hier wird Nussbaums Werk, seine künstlerische Verarbeitung der eigenen Familiengeschichte gezeigt. Nussbaum setzt sich darin mit seinem Vater A. Edward Nussbaum (1925–2009) auseinander, der 1939 als Kind in Rheydt der nationalsozialistischen Verfolgung durch einen Rettungstransport für Kinder nach Belgien entkam, anschließend nach Südfrankreich und in die Schweiz floh und 1947 schließlich in die USA auswanderte. Dort wurde er ein bedeutender Mathematiker, der die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik erforschte und dazu den sogenannten Hilbert-Space nutzte. Dieser bezeichnet in der Mathematik einen theoretischen Raum unbegrenzter, unendlicher Dimensionen und bietet die Grundlage für die Quantenmechanik und Thermodynamik. Gezeigt werden Karl Nussbaums Fallschirm-Projektionen: Auf einer Leinwand aus Seide, die er wie einen Fallschirm mit Fäden steuert, projiziert der Künstler Bilder von jüdischen Trauerzeremonien, mathematischen Formeln, kühlen Wetterbildern, Szenarien des Zerfalls und leeren Wohnräumen. Dabei verwendet er den Hilbert Space als Metapher, um seines verstorbenen Vaters im Himmel – seinem persönlichen Hilbert-Space – zu gedenken.
__Nussbaum erschließt eine komplexe Situation. Der Betrachter begleitet Karl Nussbaums Archivbesuch, sieht die Rechercheergebnisse und zugleich die künstlerische Verarbeitung der Familiengeschichte, der durch den Archivbesuch weitere Elemente hinzugefügt werden. Die Installation von Susanne Krell macht Nussbaums Besuch im Stadtarchiv Aachen und seine künstlerische Verarbeitung der Vergangenheit mehrdimensional erlebbar.
10__Drei Möglichkeiten
Videos auf Digitaldisplays
Schubladen – Kölner Karnevalsmuseum und -archiv AVI 15.23 min Loop
ARCHIV 1250 – Archiv Schloss Schönstein AVI 3.10 min Loop
Bewerten | Kassieren – Privatarchiv AVI 1.12 min Loop
Vielfalt und Ästhetik der archivischen Überlieferung und der archivarischen Tätigkeit werden anhand von drei Videos in der Horizontale sichtbar. Die erste Sequenz zeigt Karnevalsorden aus dem Karnevalsmuseum und -archiv Köln in ihrer typischen Lagerung. Karnevalsorden sind keine Unterlagen und damit kein klassisches Archivgut. Sie überschreiten die Grenze zur musealen Sammlung. Allerdings sind die Orden für die Überlieferung des rheinischen Karnevals essenziell und verfügen über ästhetische Reize, die durch die Ordnung und Lagerung in modernen Planschränken besonders hervortreten.
Der Archivraum auf Schloss Schönstein in Wissen an der Sieg ist Gegenstand der zweiten Sequenz. Seit Jahrhunderten lagert dort das Familien- und Herrschaftsarchiv der Grafen von Hatzfeldt in traditionellen Holzregalen in einem historischen Gewölbesaal. Mit ca. 22.000 Akten und 3.500 Urkunden, deren älteste in das Jahr 1250 datiert, gehört es zu den größten und bedeutendsten rheinischen Adelsarchiven. Gezeigt werden die mit Planen bedeckten Regale, in denen die Dokumente quasi geheimnisvoll „verschleiert“ und von modernen konservatorischen Standards noch nicht erfasst untergebracht sind. Lediglich die Bewegung der Planen ermöglicht es, einen direkten, unverstellten Blick auf die Überlieferung zu erhaschen. Parallel zu den Aufnahmen werden die Jahreszahlen seit der Entstehung des Archivs aufgezählt.
Die dritte Sequenz dokumentiert die Tätigkeit der Überlieferungsbildung durch den Archivar, dessen Handbewegungen bei der Bewertung einer Akte festgehalten werden. Er blättert die Akte zügig durch, um sie inhaltlich zu erfassen und schließlich über deren Archivwürdigkeit und damit über den dauerhaften Erhalt zu entscheiden. Die Handbewegung drückt langjährige Routine und praktische Erfahrung aus. Das Ergebnis der Bewertung ist die Auswahl der archivwürdigen und damit dauerhaft zu erhaltenden Unterlagen, des Archivguts.
11__Kassanda
Plexiglashaube auf Holzsockel
geschreddertes Kassationsgut aus dem Stadtarchiv Erkelenz und vergoldetes Hadernpapier aus dem 18. Jahrhundert
H 95cm | B 25cm | T25cm
__Kassanda, vernichtete, als nicht archivwürdig bewertete Unterlagen, aus dem Stadtarchiv Erkelenz sind mit vergoldeten Streifen historischen Hadernpapiers durchzogen. Die Skulptur erinnert so an die Verantwortung, die mit der notwendigen archivischen Aufgabe der Überlieferungsbildung verbunden ist. Die Entscheidung über die Archivwürdigkeit ist eine endgültige. Nur die archivwürdigen Unterlagen werden als Archivgut übernommen und dauerhaft in ihrer Entstehungsform erhalten. Die nicht archivwürdigen Unterlagen werden kassiert, also vernichtet. Diese Bewertungsentscheidung über das, was archivwürdig und damit erhaltenswert ist, erfolgt nach möglichst transparenten, nachvollziehbaren Kriterien. Allerdings kann die künftige historische Relevanz von Unterlagen nicht sicher vorausgesagt und vorausgesehen werden. Manche Entscheidungen können sich in der Zukunft als fraglich herausstellen.
__Kassanda ist sowohl ein Memento für den Archivar, der an seine Verantwortung bei der Überlieferungsbildung erinnert wird, als auch ein Plädoyer für archivische Vielfalt. Denn eine vielfältige Archivlandschaft, die verschiedene Bewertungsentscheidungen und damit eine vielfältige Überlieferung ermöglicht, wirkt der Gleichförmigkeit der Überlieferung entgegen.
12__1018
Sublimationsdruck auf Stoffbehang in einer Nische
Schenkungsurkunde Kaiser Heinrichs II. für die Benediktinerabtei Burtscheid vom 21. Januar 1018 im Stadtarchiv Aachen
H 200cm | B 250cm
Audiostation hinter dem Stoffbehang
Urkundentext Lateinisch und Deutsch aus: Walter Kaemmerer, Aachener Quellentexte, Aachen 1980, S.192, f. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Aachen, Bd.1)
Deutsche Übersetzung gelesen durch Birte Schrein, Schauspiel Ensemble Theater Bonn
MP3 2.58 min Loop
Die Schenkungsurkunde Kaiser Heinrichs II. für die Benediktinerabtei Burtscheid vom 21. Januar 1018 ist das älteste überlieferte Dokument im Stadtarchiv Aachen. Das Abbild der fast 1000 Jahre alten, in lateinischer Sprache verfassten Urkunde erscheint auf einem Vorhang, um die Ästhetik dieser kaum vorstellbar alten, bereits in ihrer Materialität faszinierenden Quelle zu zeigen. Tritt man hinter den Vorhang in die Gewölbenische, kann man in einer intimeren Situation anhand der Audiostation außerdem die Ästhetik ihres Inhalts erfahren. Der fremd anmutende Urkundentext wird in der deutschen Übersetzung von der Schauspielerin Birte Schrein gelesen und so in einer weiteren Dimension sinnlich erfahrbar. Der Zehntbezirk, den die Benediktinerabtei vom Kaiser als Geschenk erhält, ist in der Urkunde genau beschrieben. Die Beschreibung mutet wie eine verbale Karte an und wird in ihrer literarischen Qualität erfahrbar. Dabei geht es nicht um eine wissenschaftliche Analyse, sondern um das sinnliche Erleben des Urkundeninhalts. Einmal mehr wird die ästhetische Dimension historischer Quellen deutlich, von denen auch eine künstlerische Inspiration ausgehen kann.
13__BAUX
Video: Chronik des Stadtschreibers Mathias Baux aus dem 16. Jh. im Stadtarchiv Erkelenz
Digitaldisplay in Bildschirm-Säule
H 84cm | B 25cm | T 25cm
AVI 11.4 min Loop
Die reich illustrierte Stadtchronik des Erkelenzer Stadtsekretärs Mathias Baux wurde um die Mitte des 16. Jahrhunderts geschrieben. Sie ist heute eines der wertvollsten Stücke im Stadtarchiv Erkelenz. Der Betrachter muss eine Lesehaltung einnehmen, um die Chronik am Bildschirm Blatt für Blatt durchzusehen und so das Original durch die Präsentation des Abbilds zu erleben. Allerdings kann jede noch so gute Abbildung das Original nicht ersetzen. Dieses hat durch seine Materialität eine ganz eigene Wirkung, übt eine Faszination aus, die sich nur im persönlichen Kontakt erschließt. Die Präsentation von Quellen mit Hilfe der (Farb-)Digitalisierung ist eine Möglichkeit der Vermittlung. Sie bietet die ubiquitäre Verfügbarkeit des Inhalts und schützt zugleich das Original, das vorwiegend als digitale Reproduktion genutzt und damit geschont wird. Allerdings fehlt dabei die materielle, sinnliche Komponente, die nur die Begegnung mit dem Original vermitteln kann.
14__Regal | Potential
Sublimationsdruck auf projektionsfähiger Folie hinterleuchtet, montiert im Gewölbe
Foto aus dem Historischen Archiv des Erzbistums Köln
H 158.5cm | B 113cm
Durch die hintere Türöffnung des Gewölbekellers blickt man in einen sich anschließenden, dunklen Kellerraum, der an den Wänden die Konturen weiterer Regale erahnen lässt. Im Hintergrund leuchtet die Fotografie einer modernen Rollregalanlage mit leeren Gefachen.
__Regal | Potential verweist auf die Entwicklungsperspektiven der Archive: Archive sind lebende Einrichtungen, deren Betrieb nicht nur auf die Sicherung und Erhaltung der vergangenen, sondern auch der gegenwärtigen und zukünftigen Überlieferung ausgerichtet ist. Archive benötigen dazu Ressourcen: einerseits ausreichend Raum und eine geeignete technische Infrastruktur, um die analoge wie digitale Überlieferung zu übernehmen, dauerhaft zu erhalten und zu sichern; andererseits ausreichend Fachpersonal, um die vielfältigen archivischen Aufgaben wahrzunehmen, die Überlieferung für die Zukunft zu bilden, zu erschließen und bereitzustellen – und so die leeren Regale zu füllen und damit ihrem Auftrag, dem __BEWAHREN, auch künftig nachzukommen
Claudia Kauertz
| Head of the subject area of consulting of archivists, LVR Rhineland Centre for Consulting and Training of Archivists (LVR-AFZ), Pulheim-Brauweiler
BEWAHREN CONSERVING
Catalog of the Exhibition BEWAHREN Archivlandschaft Rheinland CONSERVING – Archive Landscape Rhineland | LVR-Kulturzentrum Abtei Brauweiler LVR Cultural Centre Brauweiler Abbey, Cat. 2015
The title of the exhibition is a play on the German term ‘BEWAHREN’, an infinitive meaning ‘to preserve’ but also containing the adjective ‘wahr’, the German word for ‘true’. The word segment ‘WAHR’ is formatted in bold, referencing the content of the exhibition: that the true is constituted by the things that remain, by the things preserved.
1 BEWAHREN
1 CONSERVING
Neon sculpture in the cloister of Brauweiler Abbey
Neon tubes on aluminium box
H 162cm | W 24cm | D 10cm
__BEWAHREN embodies the motto of the exhibition. Conservation is archives’ official mandate and at the same time the aim to which they aspire. Yet conservation means more than the permanent preservation and safeguarding of documents worthy of archival treatment in the form in which they came about – in original; conservation also comprises the formation of tradition, and the description and employment for posterity of documents of historical and legal relevance.
Archives have a commitment to passing along the authentic. True ‘wahr’ are the things that remain, the things consciously, actively cared for and preserved. Archives play a key role in the investigation and reconstruction of historical truth(s) by providing standards of measure for use in the formation of historical judgement. They preserve historical sources, on the one hand, but on the other they also bear responsibility for what is retained and what not. And they carry out their mission not as an end in itself – safekeeping for safekeeping’s sake – but by public or private commission. They make their sources available to all interested parties on a variety of historical issues, and help shed light on legal and personal questions as well.
BEWAHREN radiantly promotes the work of archives. Neon lettering is a modern advertising medium that forms a contrast to the venue of the presentation, the Romanesque cloister of Brauweiler Abbey, and yet it fits in with its surroundings thanks to its design and choice of colour. Brauweiler Abbey is not just an impressive historical monument; its current use is also committed to preservation. With the LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum LVR Advisory Centre for Archives and Further Education and the LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland LVR State Service for Historical Monuments, it houses two cultural services of the Landschaftsverband Rheinland (LVR) Rhineland Regional Council, each dedicated to a different form of preservation – preservation of historic written documents/archival materials and historic buildings/monuments.
BEWAHREN also conveys the idea that authentic documents, with their unique content, must be promoted and communicated in a contemporary fashion if the respective present is to notice and further preserve them. To appeal to and be understood by different target groups, the mediation must be oriented not only around the content but around the addressees as well.
With its vertically rectangular-symmetric form, BEWAHREN, ultimately refers to the order that the archivist must accomplish, create and maintain to ensure that the records entrusted to him or her can be accessed and used. Archival description is value creation. This description makes the research and evaluation of documents handed down to us possible to begin with. By creating the conditions for historiography based on sources handed down to us, it provides us with orientation in time.
2 Glossar
2 Glossary
Projection in the Gierden Room during the conference
Video: data cloud of 99 technical terms on the topic of the archive
DVD loop, 28:48 min.
In the Gierden Room, the conference venue, 99 select technical terms from the archival field are projected, with the terms merging into one another in succession in changing, random sequence. As in a digital data cloud, the words are randomly combined; longer and shorter terms meet, merge, form new creative combinations, awakening unexpected associations and providing food for thought.
Glossar refers to the digital situation and media transfer, which also has a grave impact on archives. The disembodiment of information – the separation between information and information carrier – offers new opportunities and shifts awareness and perception. Users’ claims for ubiquitous availability of archival materials on the Internet generates pressure to act. To be noticed in the digital world, too, archives must present themselves and the tradition in their care online – in some cases as digital copies. They now also accept not only paper records but also original digital documents from the administrations of their archives. The new opportunities present new challenges for archivists. Digitalization is costly and places a claim on resources that are often not available in sufficient supply. Even naturally volatile digital archival materials must be permanently preserved in their form of origin. This calls for more complex, more elaborate strategies than those required to preserve analogue written evidence.
3 keine richtige Ansicht
3 no right point of view
Installation in the Winter Refectory
Floor-to-ceiling work featuring the 6 letters of the German ‘ARCHIV’, made of used cardboard salvaged from the archival storage repository of Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V. (VAR) United Archive of Nobility in Rhineland, Ehreshoven Castle
Each letter H 264cm | W 116cm | D 39cm
The six letters of the term ‘ARCHIV’ are formed using 264 decommissioned archives boxes. __keine richtige Ansicht explores the possibilities of spatial design in the Winter Refectory of the former Brauweiler Abbey. The letters are positioned between columns in such a way as to permit viewing, and thus reading, of the totality only from a certain vantage. This raises the question of orientation: How must I align myself to locate a point of view? But also: What do I use as my point of reference? History, the evidence of which is preserved in archives?
Each letter is made using 24 archive boxes stacked atop one another and bolted together. With each box held in place with 3 to 4 bolts, more than 1.000 holes had to be drilled to create the sculpture in its current form. Like the work performed in archives, the elaborate process that went into creating the work is scarcely visible on the object itself. Similarly, archival work to appraise, transfer, preserve, safeguard, describe and enable use of authentic documents involves considerable effort that frequently goes unnoticed by the outside world.
keine richtige Ansicht consists of used cardboard salvaged from the archival storage repository of Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V. (VAR) United Archive of Nobility in Rhineland at Ehreshoven Castle; the old boxes were replaced with new containers made of acid-free cardboard. The boxes contained portions of the archives of Hugenpoet Castle. The reference numbers visible on the boxes still bear witness to their former use. They are traces of the documents originally held in the boxes. The relationship between the packaging and the former content is still discernible.
In a matter of speaking, the archives box symbolises archival work. As an outer package, it protects the valuable originals, directly ensuring their preservation. At the same time, though, as a packaging unit, it constitutes a unit of ordering that references the system of archival order. As the dimensions of the boxes are standardised, the records they contain are not only protected but can also be stored in a maximally space-saving and efficient manner, in keeping with the requirements of preservation in shelf systems. The storage scheme reflects archival order. The documents are broken down into collections based on their origins and stored accordingly. Occasionally, storage is based on materiality as well, or on the formats and media used in the records if special storage conditions are required. Standardised storage and organisation permit the preservation and use of the documents stored.
4 Fluchtkiste
4 Getaway Case
Installation in the Winter Refectory
Archives box, Gracht Castle, 1634 in the archival storage repository of VAR, Ehreshoven, and video file on digital display
AVI loop, 3:31 min.
Fluchtkiste juxtaposes the historical approach to archival storage with its modern counterpart. Reminiscent of a cabinet, the archives box from 1634 from the Gracht Castle Archives of Nobility, symbolises the historical approach to storage and ordering. Today, archives operate as institutions with a fixed location. External threats requiring relocation entire archives do not play a role for the modern-day archival facility. Things were different during the Middle Ages and the early modern era. The archives of nobility preserved those certificates and documents that offered evidence of the material possessions and the sovereign rights of the noble family, thus securing these possessions and rights. Their owners were quite aware that their archives were particularly vulnerable in times of war. These archival materials were kept in mobile archive cabinets that permitted the owners to take their records along with them if required to flee. In wartime, archival storage took the constant threat into account, so the archives could be taken along in the event of flight. This is why the archival cabinet dating to the era of the Thirty Years’ War was designed as a mobile getaway case. Given limitations of space, the most important documents, the ones that secured property claims, had to be singled out for storage in the case. This raised the questions that have remained vital to archival work to this day: What is important? What is worth taking along? Which documents are worth preserving?
Fluchtkiste presents a video, in a drawer, of a modern-day mobile shelving system. This offers a comparison and contrast of historical and modern forms of archival-materials storage. The compact mobile shelving system is the modern form used to store archival materials. It is a permanent feature of archival stacks. This type of storage prevents sudden escape in the event of crisis. Today, the archive as a whole is ‘crisis-proof’.
At the same time, the internal dynamics of the mobile shelving system become clear. The rotating, dancing levers move the shelf elements. The only way the user can access the records is to move the system. Access to the historical documents is free; usage is possible.
5 etwas mitzunehmen ist möglich
5 it is possible to take something along
Installation in the Winter Refectory
Photographs of 48 certificates from the documents from Stadtarchiv Erkelenz Municipal Archives of the City of Erkelenz
in linen-bound burgundy book cover with golden embossing
Copies of regesta of certificates from: Dieter Kastner (ed.), Die Urkunden des Stadtarchivs Erkelenz. Regesten The Certificates of the Archives of the City of Erkelenz: Regesta, Brauweiler 2001 (Inventare nichtstaatlicher Archive 40), on thin paper for take-away
Paper and 12 stacks of paper (500 sheets each) arranged on table
The photographic image of Latin and Low German original certificates from the Municipal Archives of the City of Erkelenz is combined with the corresponding regesta used to describe and provide access to the certificates. In modern language, the ‘regesta’ provide, for each certificate, a summary of the essential content of the certificate and the persons involved. They are the key to the certificates and render their content comprehensible.
While the photographs of the certificates are presented as images in a valuable-looking book bound in purple linen cover with precious gold embossed lettering, it is only the regesta that reveal the content and thus the historical value of the documents; they are printed on thin paper and designed for takeaway. Here the question presents itself: What is more important: content or form?
etwas mitzunehmen ist möglich presents not the original certificates in this hardcover linen-bound tome but rather their photographic image. And yet even this new form of presentation underscores the venerable age and material value of the certificates. By contrast, the regesta that disclose the certificates’ actual historic value appear in low-grate materiality, printed on thin stock.
This, in turn, raises questions: How important is the form of presentation to the content involved? But also: What do I take away from this? What significance does the historical content have for us today?
Ultimately, etwas mitzunehmen ist möglich references the importance of archival description. The description permits usage of the archival materials and makes sources available for a wide variety of questions. Only through this description can clear the way to the sources and render their substantive, historical and legal value visible.
6 10 Archive
6 10 Archives
Rubbings in the Winter Refectory
Chalk on paper
Each H 29.7cm | W 42cm
1 475 Ehreshoven Castle VAR archival storage repository historic wall inside
2 492 Archives of the City of Erkelenz brick façade outside
3 507 Archives of the City of Aachen entry Alte Nadelfabrik Old Needle Factory
4 493 Archives of the City of Mülheim Threshhold
5 505 Museum and Archive of the Cologne Carnival staircase inside
6 508 Brauweiler/Archive of the Rhineland Regional Council (LVR)
7 506 Cologne Historical Archive of the Archdiocese of Cologne staircase inside
8 278 Neuwied Fürstlich Wiedische Archiv Princely Wied Archive entrance
9 409 Wissen/Sieg Schönstein Castle
10 465 Berlin Prussian Privy State Archives
10 Archive participated in the project. The rubbings taken from walls or floors of these archives reflect their surface textures. This makes them authentic fingerprints, as it were, of the respective archives and of the unique records they house.
The basic condition involved in creating a rubbing is movement. To produce an authentic rubbing, one must physically visit the respective location. The situation is similar to the movement involved in the use of archives. To use the authentic sources handed down there, the user must pay a physical visit. Work performed on location with source materials forms the basis of all historical work. All sources have a clear temporal and spatial reference that reflects the spatial and functional jurisdiction of the respective archive.
Installations in eight niches in the vaulted cellar
The following eight installations were fitted in the eight niches of the medieval vaulted cellar of the former west wing, which subsequently – following the Baroque extension – became the central building of Brauweiler Abbey. The cellar is otherwise used for storage and is not open to the public.
7__Schöne Wörter
7 Beautiful Words
Video installation referring to the existing wall and lapidarium
Subjective selection of 103 terms on the topic of the archive
DVD loop, 12:39 min.
Word pictures, a digital collection of 103 terms in archival terminology, are projected on the wall of a niche in the vaulted cellar, and the lapidarium housed there. The words appear one at a time in random sequence, seemingly dropping from the cellar window, slipping down the wall where they are finally swallowed up by an edge of the wall.
Schöne Wörter refers once more to the fleeting nature of digital information. Digital information exists in the virtual space, is not bound by material substance and is thus difficult to grasp and even harder to maintain permanently.
8 PLÄNE
8 PLANS
Projection in a niche in the vaulted cellar
Video: 12 city plans, Aachen Dombezirk
Cathedral area, in the Archives of the City of Aachen
DVD loop, 7:21 min.
PLÄNE projects a sequence of twelve historical town plans, from the 17th to the 20th century, from the Municipal Archives of the City of Aachen. At the heart of each map is Aachen’s historic city centre with the area that surrounds the Cathedral there. This is zoomed in, closer and closer. This provides a clear sense of its different depictions over the centuries. A shift is discernible in the form of presentation. The form gravitates further and further away from what originally was a stronger individual depiction, one symbolised in older maps by the traced outlines of the Cathedral. In modern street maps, the Cathedral building is represented by a simple dot.
Maps and plans are classic, analogue means of orientation and today are increasingly being replaced by comprehensive electronic guidance systems, such as GPS, the global navigation satellite system. The digital world continues to press forward with standardisation. All that remains of the presentation of the area around the Cathedral in Aachen is an interchangeable symbol: a red dot.
9 Nussbaum
Installation of slide and overhead projections and monitor image in wall niche
Birth certificate, tax list, photos of Jewish family Nussbaum of Aachen
Photos by Karl Nussbaum, artist from New York and user in the Municipal Archives of the City of Aachen
80 slides, image films and portrait
Visitors trigger the slide projection by means of light barrier
Nussbaum places the focus on another central aspect of conserving: reference service representing linkages to the present and hence the raison d’être of archives. In a democratic society, archives use is a right legally guaranteed to everyone; interested parties can exercise this right e.g. to investigate their own family histories. American artist Karl Nussbaum, with German-Jewish roots, is such an archives user. In his search for his grandfather, an Aachen native murdered by the Nazis and, before the war, the owner of a cigar shop on Adalbertstraße, he came to the Municipal Archives of the City of Aachen to find answers to the question of his roots. And answers were found: as a result of his research, he was able to locate, order and finally hold in his hands his grandfather’s birth certificate and tax documents. The archived documents document personal aspects of his grandfather, persecuted on racial grounds, from a government perspective, and yet they also make the grandfather’s individuality visible. Here, for instance, a photograph portrait survives.
Nussbaum presents the archival visit at three levels, from three different perspectives and using three different media. The modern-day Karl Nussbaum, researching in the archives, meets the visitor at eye level, so to speak, on a monitor. The level below this features a slide projection of historical documents relating to his grandfather. These form the basis of the Nussbaum family history. The slide projection starts only after the visitor has triggered the light barrier. In other words, documents about the grandfather’s history become visible, alive and repeatable only through movement – when the visitor approaches the projection. The third level appears in an overhead projection on the vaulted ceiling, above the other two levels. This shows Nussbaum’s work, his artistic treatment of his own family history. In it, Nussbaum deals with his father, Edward A. Nussbaum (1925–2009), who in 1939, as a child in Rheydt, escaped Nazi persecution thanks to an emergency evacuation of children to Belgium, subsequently fleeing to the south of France and Switzerland and finally emigrating to the US in 1947. There he became a major mathematician, investigating the mathematical foundations of quantum mechanics and using the so-called ‘Hilbert Space’. In mathematics, the Hilbert Space denotes a theoretical range of unlimited, infinite dimensions and provides the basis for quantum mechanics and thermodynamics.
Also on display are Karl Nussbaum’s parachute projections: On a screen of silk, which he manoeuvres with strings as one would a parachute, the artist projects images of Jewish mourning ceremonies, mathematical formulas, cool weather images, scenarios of decay and empty living spaces. Here, he enlists the Hilbert Space as a metaphor, in memory of his late father in heaven – his own personal Hilbert Space.
Nussbaum reveals a complex situation. The viewer accompanies Karl Nussbaum on his visit to the archives, sees the results of the research and at the same time the artistic treatment of the family history, to which further elements are added as a result of the visit to the archives. The installation by Susanne Krell provides a multi-dimensional experience of Nussbaum’s visit to the Municipal Archives of the City of Aachen, and of his artistic approach to the past.
10 Drei Möglichkeiten
10 Three Options
Video on digitals
Schubladen Drawer – Museum and Archive of the Cologne Carnival AVI loop, 15:23 min.
ARCHIV 1250 Archives 1250 – Schönstein Castle Archive AVI loop, 3:10 min.
Bewerten | Kassieren Appraising | Disposing – Private archive AVI loop, 1:12 min.
Three videos make the variety and aesthetics of the archival tradition and the archivist ́s business horizontally visible. The first sequence shows carnival medals from the Museum and Archive of the Cologne Carnival in Cologne in their typical storage situation. Carnival medals are not documents, and thus they are not classic archival material. They cross the borders of the museum collection. Nonetheless, these medals are essential to the tradition of the Rhenish Carnival and have an aesthetic appeal that stands out particularly well when the medals are organised and stored in modern display cases.
The object of the second sequence is the Archives Room at Schönstein Castle, located in the town of Wissen an der Sieg. There, for centuries the family and rulers’ archives of the Count of Hatzfeldt have been stored on traditionalwooden shelves in an historic, vaulted hall. With some 22,000 files and 3,500 certificates, the oldest dating from the year 1250, it is one of the largest and most significant archives of Rhenish nobility. On display are shelves covered with tarpaulins, housing documents that are essentially mysteriously ‘veiled’ and not yet stored pursuant to modern standards of preservation. Only movement of the tarpaulins permits a fleeting, direct, unobstructed view of tradition. Parallel to the sequence, figures are enumerated for the years since the archive’s creation.
The third sequence documents the archivist’s activity of deciding on archival value, recording the movements of the archivist’s hands during the appraisal of a file. He quickly flips through the file in order to gain a view of its contents before then proceeding to decide upon their archival value and hence their prospects for long-term retention. The hand movement expresses years of routine and practical experience. The result of the appraisal is the selection of archivally valuable documents, those slated for permanently preservation: as archival material.
11 Kassanda
11 Destructed Records
Plexiglas hood on a wooden base
Shredded materials earmarked for disposal from the Municipal Archives of the City of Erkelenz and gilded rag paper from the 18th century
H 95cm | W 25cm | D 25cm
Kassanda, destructed documents appraised as not of archival value, from the Municipal Archives of the City of Erkelenz, are suffused with gold-plated strips of historic rag paper. The sculpture thus recalls the responsibility that attaches to the necessary archival task of creating tradition. Decisions regarding the archival value of materials are final. Only documents of archival value are incorporated as archival material and permanently preserved in the form in which they were created. Documents that are not of archival value are destroyed. This appraisal decision separating materials of archival value and hence worth preserving is taken on the basis of the most transparent, comprehensible criteria possible. Yet there is no sure-fire way to predict or foresee the future historical relevance of any particular document. Some decisions may subsequently turn out to have been questionable.
Kassanda is both a memento for the archivist who is reminded of his or her responsibility in creating tradition, as well as a plea for archival diversity. Because a diverse archival landscape, one that permits different appraisal decisions and a diverse tradition as a result, helps counteract any tendency towards uniformity in the tradition.
12 1018
Sublimation printing on fabric hanging in a niche
Deed of donation by Emperor Henry II for the Benedictine Abbey Burtscheid, 21 January 1018, in the Archives of the City of Aachen
H 200cm | W 250cm
Audio station behind the fabric hanging
Certificate text in Latin and German: from Walter Kaemmerer, Aachener Quellentexte Aachen Source Texts, Aachen 1980, p. 192f. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Aachen Publications of the Archives of the City of Aachen, Vol. 1)
German translation read by Birte Schrein, Schauspiel Ensemble Theater Bonn
MP3 loop, 2:58 min.
The deed of donation by Emperor Henry II for the Benedictine Abbey Burtscheid, 21 January 1018, is the oldest document housed in the Municipal Archives of the City of Aachen. The image of the nearly 1000-year-old certificate, written in Latin, appears on a curtain as a way of capturing the aesthetics of this almost unimaginably old source, a source already fascinating for its materiality. The visitor who steps behind the curtain in the vaulted niche can also experience the aesthetics of the certificate’s content in a more intimate setting using the audio station. The foreign-looking text of the certificate is read in its German translation by actress Birte Schrein, disclosing it to sensory experience in yet another dimension. The document offers a precise description of the tithe district given to the Benedictine abbey by the Emperor. The description has the air of a verbal map and can be experienced in its literary quality. The aim is not to provide a scientific analysis but rather a sensor experience of the contents of the certificate. The aesthetic dimension of historical sources emerges once again here – sources from which artistic inspiration can spring forth.
13 BAUX
Video: chronicle of town clerk Mathias Baux from the 16th century in the Municipal Archives of the City of Erkelenz
Digital display in screen column
H 84cm | W 25cm | D 25cm
AVI loop, 11:4 min.
The richly illustrated town chronicles by Erkelenz city clerk Mathias Baux were written in the mid-16th century. Today, they form one of the most valuable pieces in the Municipal Archives of the City of Erkelenz. The viewer must assume a reading position to peruse the chronicles on the screen, page by page, thus experiencing the original through a presentation of its image. Still, even the best of reproductions can be no substitute for the original. Its materiality gives it an effect all its own, exerting a fascination revealed only in personal contact with the document. The presentation of sources using (colour) digitisation is one means of mediation. It offers the ubiquitous availability of content while protecting the original at the same time, which is mainly used as a digital reproduction and is thus spared the ravages of physical use. And yet the material, sensual component that only an encounter with the original can convey is missing.
14 Regal | Potential
14 Shelf | Potential
Sublimation printing on projection-capable film
B
acklit, mounted in the vaulted ceiling
Photo from the Historical Archives of the Archdiocese of Cologne
H 158.5cm | W 113cm
Through the rear door opening of the vaulted cellar, the visitor can look into an adjacent, dark cellar space the walls of which are suggestive of the contours of more shelving. Illuminated in the background is a photograph of a modern mobile shelving system with empty compartments.
Regal | Potential references archives’ developmental outlook: Archives are living facilities the operation of which revolves around safekeeping and preservation not only of the past tradition but of the present and future tradition as well. Archives require resources: on the one hand, sufficient space and a suitable technical infrastructure to transfer, lastingly preserve and safeguard the analogue and digital archival materials; and on the other hand, sufficient ranks of expert staff to perform the various archival tasks, shaping, describing and providing the tradition for the future – filling empty shelves in the process, and proceeding into a future of fulfilling the archival mission of CONSERVING
“Raus aus den Mauern“- „Hors-les-murs“ Kunst im Bischofshaus Fribourg Schweizerische St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche 2015/2016
...read
Uwe Augustinus Vielhaber OP
| Diplom-Theologe und Kunstwissenschaftler Freiburg/ Schweiz
“Raus aus den Mauern“- „Hors-les-murs“ Kunst im Bischofshaus Fribourg,
in:
Jahrbuch Kunst und Kirche 2015/2016 Stille | Schweizerische St. Lukasgesellschaft SSL
In Fribourg im Innenhof des Bischofssitzes ist ein neues Kunstwerk öffentlich zugänglich: Es zeigt die grosse Wandmalerei (ca. 40m2) “le mur“ auf der alten Mauer und stammt von der Künstlerin Susanne Krell, die den KünstlerInnenwettbewerb 2013 gewonnen hat.
Im hier gekürzten Interview mit der Künstlerin anlässlich der Fertigstellung der konzeptuellen Wandmalerei stellte P. Uwe Augustinus Vielhaber OP/Fribourg, Diplomtheologe, Kunstwissenschaftler und SSL Mitglied, der Künstlerin einige Fragen, die einen interessanten Einblick geben, wie es für die Kunstschaffende als direkt betroffene Akteurin ist, in einem kirchlichen Umfeld zu arbeiten. Insbesondere wird an dieser Stelle nachgefragt, wie es um die Freiheit der Künstlerin und die Autonomie der Kunst bei öffentlichen Werken bestellt ist.
Susanne Krell, was hat Sie bewogen, am von Bischof Charles Morerod im Westschweizer Bistum Lausanne, Genf und Freiburg lancierten Wettbewerb teilzunehmen?
Die Vorstellung, einmal in der Schweiz künstlerisch tätig sein zu dürfen, hat mich unmittelbar angesprochen. Es passt zu meinem Arbeits-Konzept. Mich interessieren Gedanken- und Ideengebäude, Orte, die eine historische, soziale und religiöse Prägung erfahren haben. Weltweit entstand so meine Sammlung solcher ‚Plätze’, gesammelt mit Hilfe von Frottagen, also Abrieben von Steinen.
Ich denke, wer sich auf diese Weise ernsthaft mit der Geschichte Europas auseinandersetzt, stößt zwangsläufig auf Sakralgebäude als historische Zeugnisse des christlich geprägten Abendlandes. Für mich wurde in meiner Arbeit auch die eigene Prägung immer wieder deutlich: gleich welche Haltung man zur Religion einnimmt, die Wurzeln unserer Kultur im Christentum sind nicht zu leugnen.
An einem Gebäude wie dem Bischofshaus mit seiner langen Geschichte arbeiten zu dürfen, war für mich eine hochspannende Aufgabe.
An die ausführende Künstlerin eines bedeutenden Kunstwettbewerbs werden sicher vielfältige Anliegen herangetragen, diözesanintern, aber auch von außerhalb, z.B. von Seiten der KollegInnen, der KritikerInnen im In- und Ausland. Wie gehen Sie damit um?
Es ist eine große Verantwortung, die mir mit einer solchen Aufgabe übertragen wird. Das Bischofshaus hat eine bestimmte Stimmung, eine Funktion und eine Historie, der man sich stellen muss. Es ist keine autonome Aufgabe wie die Arbeit auf einem leeren Blatt Papier.
Für einen solchen Ort gibt es vielfältige Lösungen. Andere KollegInnen fänden sicher andere Lösungen. Von einer Jury gewählt zu werden, zeigt mir, dass in meiner Arbeit eine gewisse Stimmigkeit sein muss, die sich auch auf andere Menschen überträgt. Künstlerische Arbeit legt immer das Innerste der Künstlerin offen. Es fordert die ganze Person. Kritik daran trifft auch die ganze Person. Mit der Zeit habe ich gelernt, auf mich selbst konzentriert zu arbeiten. Meine Arbeit ist gewachsen im Laufe der Jahre, man muss lernen, die Kritik von außen auszublenden, auszuhalten. Es ist oft ein sehr schmerzhafter Prozess. Es bedeutet, sich fortwährend selbst in Frage zu stellen – und doch dabei zu bleiben.
Gute Arbeit entsteht aber auch im direkten Dialog mit anderen. Hinter einer so umfangreichen Wandmalerei wie der aktuellen steht ein Team, technische und praktische Helfer, Spezialisten.
Gibt es ein besonderes – vielleicht persönliches - Anliegen, das Sie mit dem Kunstwerk zum Thema „Raus aus den Mauern“ im Innenhof des Bischofshauses verbindet?
Es ist eine sehr ästhetische Arbeit, eine schöne Arbeit geworden, ohne trivial zu erscheinen. Das war mir wichtig. Das ist die sichtbare Oberfläche. Zugleich aber ist eine große Vielschichtigkeit vorhanden mit Bezügen, die sich aus der Verortung im Bischofshaus ergeben. Die formale Anlage in Streifen zeigt eine Verbindung von der Erde zum Himmel und nimmt somit ein architektonisches Merkmal gotischer Kathedralen auf, zeigt einen Verweis auf ihre Eigenheit. Die Farbwahl nimmt auf die angrenzende Fensterverglasung Bezug und spielt mit dem vorhandenen Farbenspektrum und seinen Schattierungen. Es gibt freie, luftige Flächen, Raum für ein eigenes Bild. Oder auch einfach Freiraum.
Und wichtig für mich ist vor allem die Zusammenführung von Kathedrale und Bischofshaus über die nicht benennbaren Spuren im Hintergrund der drei Bildtafeln, den vergrößerten Frottagespuren aus der St. Nikolaus Kathedrale. Man kann oder muss glauben, was man sieht: Es sind Spuren aus der Kathedrale.
In diesem Fall kann man es konkret erforschen. Die Entstehung der Formen an der Kathedrale ist nachvollziehbar. Es erfordert Mühe, sich darauf einzulassen. Es ist eine Art Sehschulung und bedeutet Arbeit. Ein Symbol vielleicht für die Herangehensweise an eine religiöse Überzeugung mit ihren Fragen und Zweifeln.
An der Oberfläche, als letzte Schicht, stehen dann die Architekturdetails, die wieder konkrete Bezüge schaffen. Das macht die Arbeit an der Oberfläche leichter durchschaubar. Hätten auch die Frottagespuren als Oberfläche ausgereicht? Vielleicht.
Die altkatholische Pfarrerin Henriette Crüwell ging in einem Gespräch soweit, die Architekturdetails eine Hommage an den Zweifel zu nennen.
Die Wandmalerei wird mit der Zeit zusammenwachsen mit der dahinterliegenden feuchten Wand. Die Spuren der Kathedrale, die Frottagen und die Feuchtigkeitsmuster einer dem Wetter ausgesetzten Wand haben formale Ähnlichkeiten und werden ein gemeinsames Bild ergeben.
Wie nehmen Sie das Engagement der katholischen Kirche im Bereich Kunst wahr? Denken Sie, dass dort genug getan oder nur das Notwendige getan wird?
Es gibt einige Glanzpunkte in meiner näheren Umgebung: die Kunststation St. Peter in Köln etwa, das Fenster von Gerhard Richter im Südquerhaus des Kölner Doms finde ich wunderbar, vor allem auch in seiner inhaltlichen Verortung. Dann die Bruder-Klaus-Feldkapelle von Peter Zumthor und natürlich das Kolumba-Museum, das Kunstmuseum des Erzbistums Köln.
Unsere Bildvorstellungswelten im kirchlichen Raum sind geprägt von historischen Bildern. Das ergab sich aus der Möglichkeit, beispielsweise biblische Geschichten durch Bilder zu erklären. Wie sieht ein Engel aus? Die heutige Bildlastigkeit stellt ganz andere Herausforderungen. Es müssen neue Formen gefunden werden. Wie sieht der Engel heute aus? Welche zeitgemäßen Bildvorstellungen gibt es dazu?
Vom Betrachter könnten mehr Denkarbeit und Assoziationsaufgaben übernommen werden.
Nochmals nachgefragt: Der Dialog von Kunst und Kirche wird in den einschlägigen Konzilsdokumenten des 2. Vatikanischen Konzils deutlich herausgestellt („Die Kirche als Freundin der schönen Künste“). Papst Paul VI. und seine Nachfolger haben großkirchlich viel unternommen, um diesem Auftrag gerecht zu werden. Aber wie steht es um Kunst ganz konkret in den Ortskirchen?
Historisch gesehen finden wir in vielen Kirchen, auch außerhalb von Zentren, künstlerisch und kunsthistorisch bedeutende und interessante Räume, Kunstwerke und Ausstattungen.
Mancherorts scheint mir, dass heute eine Nivellierung auf wenig anspruchsvollem Niveau stattgefunden hat. Es ist irgendwo, wie der Künstler und Kunsttheoretiker Bazon Brock sagt, die Geschmacksbildung verloren gegangen.
Oft denke ich, dass ein wenig mehr Klarheit, Aufräumen im Sinne von „Raum schaffen im Raum“ notwendig wäre. Überspitzt gesagt, die Spitzendeckchen, die wir daheim nicht haben wollen, sollten auch im Kirchenraum keinen Ort haben.
Wie eigenständig darf Kunst in der Kirche sein? Gibt es im kirchlichen Milieu eigentlich ‚Autonome Kunst’? Wo bestehen künstlerische Möglichkeiten, und wo erfahren Sie Grenzen?
Kunst und Religion haben verwandte Erkenntnisebenen, stellen ähnliche Fragen nach Erkenntnis und Erfahrung. Es geht darum, hinter dem, was zu sehen ist, etwas zu sehen, als eigenständiger individueller Mensch in sich ein Bild zu finden. Das Bild hat sich aus dem Kult emanzipiert, wie Hans Belting sagt.
Das Bild ist aus seiner Verantwortung als Kultgegenstand entlassen und muss einen eigenen Weg finden. Kunst und Kirche könnten eine neue Situation finden, vielleicht als ein Gegenüber, als Kritikerin oder Anregerin, manchmal auch als Provokateur. Für mich stellt sich allerdings grundsätzlich die Frage, ob es überhaupt so etwas wie autonome Kunst gibt. Es ist allein schon eine vorgegebene Bedingung, ob ich auf einem Blatt Papier oder einer 16 m langen Wand arbeite. Inwieweit bin ich da als Künstlerin frei? Materialnotwendigkeiten, die Situation vor Ort, Finanzen, meine Situation, um nur wenige Bedingungen zu nennen, geben einen Rahmen für ein Werk.
Ich kann mir eine Reihe von Bildern vorstellen, die nicht auf diese Wand gehört hätten, aber auch nicht auf andere öffentliche Wände. Ist das vorauseilender Gehorsam, Unfreiheit oder gibt es so etwas wie Stimmigkeit? Bin ich da frei?
Link: Faksimile Jahrbuch Kunst und Kirche 2015/2016 Stille | Schweizerische St. Lukasgesellschaft SSL
Susanne Krell, in: Gesammelte Werke | Wuzwolene – Sorbisches Museum Kat. 2015
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Christina Bogusz
| Direktorin Bereich Bildende Kunst Sorbisches Museum, Bautzen
Susanne Krell
in:
Gesammelte Werke, Neuerwerbungen bildender Kunst der letzten 5 Jahre, Kat. Sorbisches Museum Bautzen 2015
Die Installation »autochthon« entstand im Zuge der Ausstellung »autochthon - Frottagen, Videos und Installationen« 2012 im Sorbischen Museum. Sie versinnbildlicht das zentrale Thema der Künstlerin Susanne Krell, die sich erstmals künstlerisch mit der Geschichte und Kultur der Sorben auseinandersetzte. Impuls hierfür war eine Ausstellung des Sorbischen Museums mit Werken des Malers Jan Buck in Bad Honnef in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2010. Ihre Installation »autochthon« positionierte Susanne Krell im Eingangsbereich des Museums, dem direkten Blick seiner Besucher ausgesetzt, wo sich die Installation seitdem als Teil der Dauerausstellung befindet. Sie signalisierte so mit großer Deutlichkeit ihr Verständnis und ihre Sicht auf das Sorbische, das sie als autochthones, alteingesessenes Volk wahrnahm. Ihre Art, diesen Anspruch zu artikulieren, fand die Künstlerin in Form der roten Neonröhre. Leuchtreklame ist grell, aufdringlich, aggressiv; auf diese Weise brennen sich Botschaften tief in das Bewusstsein der Menschen ein.
Susanne Krell näherte sich der Frage, was die Besonderheit der Zugehörigkeit zum sorbischen Volk, was das kollektive Gedächtnis und die Identität überhaupt ausmachten. Deshalb wurden ihre Werke nicht autonom und isoliert für sich präsentiert. Sondern wurden in die Dauerausstellung des Serbischen Museums integriert mit der Absicht, Kontraste zu erzeugen und auf Ursprünge hinzudeuten. Moderne Kunstformen trafen so auf traditionsreiche Volkskultur. Der Blick von außen ermöglichte so eine neue Sicht auf die Jahrhunderte alte, auf der Grundlage von Bodenständigkeit und Kontinuität erwachsene reiche sorbische Kunst und Kultur. Die Collage »Wendisches Haus«, die ebenfalls anlässlich der Ausstellung entstand und dauerhaft in den Bereich zur Geschichte des 2o. Jahrhunderts integriert wurde, ist eine Schenkung der Künstlerin an das Sorbische Museum.
Susanne Krell wurde in Betzdorf/Sieg geboren. Sie studierte in Koblenz, Bonn und Tübingen Kunstgeschichte und Philosophie. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und befinden sich in öffentlichen sowie privaten Sammlungen. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Bad Honnef in der Nähe von Bonn.
| Provenienz: Privatbesitz Susanne Krell Bad Honnef | Förderer: Ankauf aus Eigenmitteln des sorbischen Museums | Erworben: 2012 | Werke im Besitz des sorbischen Museums: 2 |
Christina Boguszowa
| direktorka wobłuk tworjace wuměłstwo, Serbski muzej, Budyšin
Susanne Krell
Nowonakupjene twórby tworjaceho wuměłstwa poslednich pjeć lět
Instalacija »awtochton« nasta we wobłuku wustajeńcy »awtochton - frotaže, wideja a instalacije« w lěće 2012 w Serbskim muzeju. Symbolizuje centralnu temu wuměłče Susanne Krell, kotraž so prěni raz ze stawiznami a kulturu Serbow rozestaji. Impuls k tomu da jej wustajeńca Serbskeho muzeja z twórbami molerja Jana Buka w Bad Honnefje w Sewjerorynsko-Westfalskej w lěće 2010. Jeje instalacija »awtochton« dósta městno w foyeru muzeja, wustajena direktnemu widej wopytowarjow, hdźež je mjeztym dźěl stajneje wustajeńcy. Pokaza z tym jasnje swoje zrozumjenje a swój wid na to serbske, widźi jón jako awtochtony a starozasydleny lud. Swoje wašnje, tole artikulować, namaka wuměłča w formje čerwjeneje neonoweje rołki. Wabjenska reklama je jaskrawa, nawalna, agresiwna; na tute wašnje zapala so powěsće hłuboko do wědomja čłowjeka.
Susanne Krell přibližese so prašenju, što je to wosebite na serbskim ludźe, što je z kolektiwnym pomjatkom a scyła z identitu. Tohodla njebuchu jeje twórby awtonomnje a izolowanie prezentowane, ale buchu do stajneje wustajeńcy Serbskeho muzeja integrowane z wotpohladom, kontrasty stworić a na korjenje pokazać. Moderne wuměłske formy zetkawachu so tak z tradicionalnej ludowej kulturu. Wid wotwonka zmóžni nowy wid na lětstotki staru kulturu a na wuměłstwo na zakładźe awtochtoneje a kontinuowaceje zrosćeneje serbskeje kultury. Kolaža »Serbski dom«, kotraž nasta tohorunjua składnostnje mjenowaneje wustajeńcy, ie integrowana do wobłuka k stawiznam 20. lětstotka a je dar wuměłče Serbskemu muzejej.
Susanne Krell narodźi so w Betzdorfje při rěce Sieg. Wona studowaše w Koblencu, Bonnje a Tübingenje wuměłske stawizny a filozofiju. Jeje twórby buchu wiacore razy wuznamjenjene a namakaja so w zjawnych a priwatnych zběrkach. Wuměłča bydli a dźěła w Bad Honnefie w bliskosći Bonna.
| Pochad: priwatne wobsydstwo Susanne Krell, Bad Honnef | Spěchowanje: nakup ze srědkow Serbskeho mizeja | Dochad: 2012 | Ličba twórbow we wobsydstweje Serbskeho mozeja: 2 |
Susanne Krell Preisträgerin 2005 GEDOK Bonn, in: ausgezeichnet II Kat. 2015
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Dr. Heidrun Wirth
| Kunsthistorikerin
Susanne Krell, Preisträgerin 2005, GEDOK Bonn
in:
ausgezeichnet II, Preisträgerinnen Dr.-Theobald-Simon-Preis 2001-2015
Kat. 2015
Ihr Zugang zu den Orten dieser Welt ist anders als gewöhnlich. Er ist voller Nahsicht, voller Geschichten, voll von haptischer Berührung und schließlich voll von einer Kraft, die sich aus der Reduktion ergibt. Susanne Krell verwendet die Technik der Frottage in Form von Steinabreibungen »in situ«. Ihr Weg führt in Orte wie Verdun oder Troja, Istanbul oder Carnac, und oft in sakrale Räume, wie in die Kapelle von Schloss Schönstein. Ein Video zeigt die Künstlerin an 148 verschiedenen Orten. Und bisweilen blättert sie auch die Geschichten verschiedener Bauphasen auf wie im Mittelrhein-Museum in Koblenz.
»Es bedeutet für mich, etwas mitzunehmen gleich einer Reliquie, ohne den Ort aber zu beschädigen «, sagt die sensible Künstlerin. Dokumente oder Legenden fließen mit ein in die Reflexion von Gegenwart und Geschichte.
Neben den Gebäuden und mahnenden Stätten im Gedächtnis der Menschheit sind es manchmal auch die Menschen, die an solchen Orten aus ihrer Umgebung heraus leben. Dazu zählt der Künstler Gerhard Altenbourg (1926 – 1989) aus Altenburg in Thüringen, der durch die feinlinigen Gespinste seiner Zeichnungen eine ähnliche Sensibilität abstrahlt. Drei Blätter entstanden in der Heimat Altenbourgs »für Altenbourg«. Ein andermal befragt Susanne Krell die Menschen vor Ort in Interviews oder hält die Begegnungen in Videos fest. Ihre »Spurensicherungen« schaffen »Raum für einen offenen Dialog«.
2005 erhielt die Konzeptkünstlerin den Dr.-Theobald-Simon-Preis, wiederum für Steinabreibungen, in denen diesmal Blau- und Gelbtöne sich verführerisch schön überlagerten. 2013 dokumentierte sie das ehemalige Wendische Haus in Bautzen, indem sie von den bruchstückhaften Wänden, Pfeilern und Bodenplatten Frottagen abnahm. Aus weiteren Frottagen, die sie aus aller Welt mitgebracht hatte, fertigte sie ein Mobile aus wendischen Hauben.
Und man sieht, ihre Kunst ist interpretierbar, doch macht sie uns aufmerksam, achtsam oder kritisch mit dem umzugehen, was einmal war, denn so hart wie die Steine auch sind, so schwebend und verschleiert ist das Wissen über sie, ihre Zeit, ihre Steinmetze oder Auftraggeber, und damit über die Wahrheit selbst, die nur ein Stück weit erahnbar ist.
Mehr als nur ein Bild ist möglich | Siegener Zeitung | 10.September 2014
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Dr. Gunhild Mueller-Zimmermann, Siegen | Kulturredakteurin Siegener Zeitung
Mehr als nur ein Bild ist möglich
Die Kamera wackelt ein wenig, während sie an den langen Regalen mit den dicken Akten und Archivalien entlangfährt: 764 Jahre „liegen“ hier, fein säuberlich dokumentiert, ordentlich gebündelt und verschnürt in Pergamenten oder Pappschachteln. Das Licht, das hier und da durch die Fenster des Archivs hineinfällt, setzt auf die dicken Kunststoffplanen geheimnisvolle Zeichen. Es lässt die moderne Folie leuchten, die die geordnet konservierte Zeit vor dem Zerfall durch zu viel Sonneneinstrahlung und auch Staub schützen soll. Während wir der Kamera folgen, die langsam vorwärts geht, hört man, fast beschwörend monoton, gemurmelte Jahreszahlen: 1250, 1251, …, 1871, 2013. Die lange Zeitspanne von mehr als 750 Jahren wird wie im Zeitraffer an uns vorbeigeführt. Aber sie vergeht nicht schnell genug, denn wir hören uns nicht die ganzen 25 Minuten an, die die Aufzählung aller Jahreszahlen dauert: Wir wollen weiter. Wohin?
Die Installation von Susanne Krell stellt uns diese Frage. Wie gehen wir mit Zeit um? Wie füllen wir sie? Und: Was bleibt von der Füllung? – Zeit und Vergänglichkeit, Bestand und Veränderung, Schein und Sein, das sind die Themen, die nicht erst seit dem Barock mit wechselnder Intensität von den Menschen diskutiert werden und einen Niederschlag finden in Kunst, Architektur und Lebensüberzeugungen.
Die in Betzdorf geborene und in Bad Honnef arbeitende Künstlerin Susanne Krell greift diese Themen in ihren installativen Arbeiten für Schloss Schönstein auf, schaut unter die Oberfläche, forscht nach den weiteren Bildern, die sich beim Betrachten einer Situation ergeben – müssten. „Nicht ein Bild ist möglich“, betont sie bei der Vorbesichtigung der Ausstellung, die sie unter dem Titel „Wie im Märchen“ im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz in Wissen zeigt. Und schließt die Frage an, welches der möglichen Bilder „die Wirklichkeit“ widerspiegelt.
Sieben Installationen, „Leichte Vögel mit schwerem Gepäck“, „Archiv – 1250“, „Vertigo – Das Licht“, „Sophie“, „Schein“, „Kleine Steine“ und „Geweihe – Waidwerk“, hat sie auf die Räume, Situationen und auch Bewohner des Schlosses zugeschnitten. Der Titel „Wie im Märchen“ ist eine Reminiszenz an eigene Kindheitserinnerungen, als das Schloss hinter Wäldern und Bäumen verborgen die geheimnisvolle Ferne verhieß und „ein Kindheitstraum“ war, wie es Jutta Mattern im Katalog zur Ausstellung formuliert. Jetzt ist es Gegenstand „neuer Märchen“, im Sinne von Spiegel der Wirklichkeiten: Diese Wahrnehmungen führt die Künstlerin uns, ästhetisch sehr ansprechend, auf verschiedenen Ebenen vor.
In der Kapelle zeigt sie uns ein „Feuer“, das eigentlich ein „Wasser“ ist. Farb- und Perspektivveränderungen machen diese „Täuschung“ möglich. Im Treppenhaus spielt sie mit dem Symbolgehalt herrschaftlicher Attribute. Falken erkunden in munterer Unbekümmertheit das Treppenhaus. Susanne Krell hat Aufnahmen der Falken, die im Schlosshof nisten, genommen, die Umrisse – im Landeanflug, in der Luft, auf Beutejagd – auf Papiere übertragen und ausgeschnitten. Sie hängen wie ein Mobile im Treppenhaus, bewegen sich im Luftzug und tragen doch ein „schweres Gepäck“. Denn auf den Papierkörpern sind die Abdrücke von 101 wichtigen oder berühmten Orten aus aller Welt, Frottagen, die Susanne Krell von Fußböden oder Wänden, der Kreml-Mauer, dem Mao-Haus, der Deutschen Botschaft in Prag oder der Leninwerft Danzig, abgenommen hat. Die Falken, herrschaftliche Vögel, tragen Bürden der Bedeutung, die über ihre unmittelbare Umgebung hinausgehen.
Im eingangs erwähnten „Archiv“ spielt Susanne Krell mit der Wahrnehmung der Zeit, in „Sophie“ mit dem Umgang mit Konventionen, die „Kleinen Steine“ führen uns die Vielfalt des Selbstverständlichen vor Augen … – alles in ästhetischen und abwechslungsreichen, mit leichter Hand gezauberten Variationen, die die Fragen evozieren, nicht aufdrängen. Und vor allem mehr als nur ein Bild schaffen, das man mitnehmen kann!
Link: Faksimile Siegener Zeitung | 10.September 2014
Im Verborgenen, in: SUSANNE KRELL Wie im Märchen …Ein Projekt für Schloss Schönstein Kat. 2014
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Jutta
Mattern | Kuratorin Arp Museum Bahnhof Rolandseck
Im Verborgenen,
in:
SUSANNE KRELL Wie im Märchen …Ein Projekt für
Schloss Schönstein Kat. 2014
Mit
ihrer Arbeit »Wie im Märchen…« auf Schloss
Schönstein erfüllt sich Susanne Krell gewissermaßen
einen Kindheitstraum. Schon als kleines Mädchen entdeckte sie
diesen eindrucksvollen Ort, in dessen Nähe sie aufwuchs und der
immer wieder auch Ziel verschiedener Spaziergänge war, als einen
der sie magisch anzog, sie neugierig machte und ihre Fantasie von
einem Märchenschloss ungemein beflügelte. Was verbarg sich
hinter diesem imposanten Gemäuer? Schlummerte hier etwa ein
Dornröschen? Wie war es wohl, dort als Prinzessin zu leben?
Welcherart Leben spielte sich an diesem geheimnisvollen, für sie
verschlossenen, unerreichbaren Ort ab?
Nun,
Jahrzehnte später sollten sich für Susanne Krell die
Pforten von Schloss Schönstein öffnen. Hier bietet sich ihr
mit ihren beinahe verloren geglaubten, jetzt wieder erwachten
Vorstellungswelten von damals genügend Raum, sich mit
installativen Arbeiten jenen Wirklichkeiten anzunähern, die
dieser Ort für sie tatsächlich bereithält und wo ihre
Spurensuche beginnen kann.
Susanne
Krell betritt das Terrain von Schloss Schönstein mit seinen
Gebäuden, das 1255 erstmals urkundlich erwähnt wurde, und
langsam beginnt sie, eine Beziehung zu diesem Ort aufzubauen: zu
seiner Geschichte, seinen Besonderheiten, seinen Nutzungen, den
Ereignissen, die prägend waren, den Menschen, die dort lebten,
zuletzt zur Architektur und damit einhergehenden baulichen
Veränderungen. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem
Material zu – insbesondere den Steinen. Aus dieser ersten
intensiven Kontaktaufnahme entwickelt Susanne Krell Stück um
Stück ein sensibles Beziehungsgeflecht, in das auch sie verwoben
ist. Von hier aus kann sie den Dingen jenseits des Sichtbaren
nachspüren. Mit viel Einfühlungsvermögen und
besonderer Empfänglichkeit gegenüber den einzelnen
Raumsituationen sowie deren spezifischen atmosphärischen
Bestimmungen lässt sie sich in einem bemerkenswerten Maße
auf diese ein, um aus dieser Verbundenheit heraus, assoziativ
geleitet, ihre Kunst genau für diesen Ort zu entwickeln. Anders
als der französische Künstler Christian Boltanski, der bei
seiner Spurensuche gefundenes und gesichertes Material historischer
und politischer Ereignisse in Verbindung mit schicksalshaften
biografischen Zeugnissen in Form von Fotografien, Objekten, Relikten
als Archivalien einer Gesamtinstallation inszeniert, geht Susanne
Krell subtiler und ohne Sendungsbewusstsein vor. Sie überlässt
das Erspürte, Gefundene unserem Abstraktionsvermögen und
vertraut dem Wahrnehmbaren im Verborgenen. Dazu zählen als
wesentliche Bestandteile ihrer künstlerischen Arbeit das Sammeln
und Aneignen von Spuren, genauer gesagt von Oberflächen, die zu
Gebäuden, Plätzen und Räumen an den verschiedensten
Orten auf der ganzen Welt gehören und die alle eine ganz eigene
Geschichte in sich tragen. Entscheidend ist für sie die
respektvolle Annäherung an den jeweiligen Ort und das sich
anschließende temporäre »Verbinden« mit der
steinigen Oberfläche, indem sie deren Struktur in der Art einer
Frottage mit Hilfe von schwarzer Kreide auf
Papier überträgt. Die dadurch gewonnene Zeichnung zeigt nun
dauerhaft die individuelle Beschaffenheit der Materialoberflächen,
die in ihrer ästhetischen Ausprägung unterschiedlicher
nicht sein könnten. Schwer ist es, diese äußere Hülle
zu durchdringen und dem jeweiligen Geheimnis des Ortes, seiner
Geschichte und den damit verbundenen gelebten Leben auf die Spur zu
kommen. Aber genau das ist es, was Susanne Krell immer wieder dazu
antreibt, sich auf eine neue Suche zu begeben. Aus dem über
Jahre angewachsenen und von ihr überaus genau archivierten
Fundus gesammelter Spuren bringt sie auch 101 Frottagen mit nach
Schloss Schönstein. Eine davon ist vor Ort entstanden, eine am
Geburtshaus von Susanne Krell, ganz in der Nähe von Schloss
Schönstein, und drei weitere sind mit Gebäuden verbunden,
die im Zusammenhang mit der schicksalshaften Geschichte der Sophie
Gräfin von Hatzfeldt-Wildenburg-Schönstein (1805–1881)
und deren intensiver Beziehung zu Ferdinand Lassalle (1825–1864)
stehen. Beeindruckt von Sophie von Hatzfeldts charismatischer
Persönlichkeit schenkt die Künstlerin ihr innerhalb ihrer
Gesamtinstallation besonderes Augenmerk. Susanne Krell nimmt uns mit
auf ihre Entdeckungsreise, bei der wir die Geschichte des Ortes durch
unser Vorstellungsvermögen verlebendigen können –
fokussiert und en détail. Sie entscheidet sich, wie auch schon
1997 in der ehemaligen Abteikirche Rommersdorf, für insgesamt
sieben künstlerische Interventionen. Offen für Magisches
und Symbolträchtiges wählt sie sicher nicht ohne Grund
diese Zahl, die für eine allumfassende Ganzheit von Geist und
Seele steht und in allen erdenklichen Zusammenhängen –
angefangen von den sieben Weltwundern über umgangssprachliche
Redewendungen wie »das verflixte siebte Jahr« bis hin zu
den sieben Wochentagen – eine Rolle spielt. Betrachtet man
zudem den Ausstellungstitel »Wie im Märchen…«
und Susanne Krells, wie sie sagt, große Begeisterung für
diese Erzählform der Geschichtenerfindung, wird mithin deutlich,
dass Märchen wie »Der Wolf und die sieben Geißlein«,
»Schneewittchen und die sieben Zwerge«, oder jenes von
den »Sieben Riesen«, welche die Wahlheimat der
Künstlerin, das Siebengebirge, auf so kuriose Weise geschaffen
haben sollen, von der Zahl Sieben im Wesentlichen mitbestimmt werden.
Eine
ihrer sieben Arbeiten positioniert sie in der barocken
Schlosskapelle. In Rückerinnerung an einen Brand in der
ehemaligen Kapelle im Jahre 1632 ersetzt sie das ursprüngliche
Altarbild der Madonna mit Kind temporär durch ein Video, das uns
mit seiner bewegten Oberfläche rot entgegen flackert. Der
Erzählung nach wurde das Feuer mit dem Wasser des in
Schlossnachbarschaft gelegenen Mühlenbachs gelöscht.
Susanne Krell nahm dies zum Anlass, das Wasser des Bachlaufs zu
filmen und mit einem feuerfarbenen Rot zu verquicken. Obwohl diese
beiden Elemente sich im Grunde nicht verbinden, wird dies nun aber
wie im Märchen möglich, und wir werden Zeuge einer
zurückliegenden Tragödie, die sich uns in abstrakter und
subtiler Art und Weise offenbart.
Fünf
weitere Arbeiten installiert sie im Ostflügel des
Schlosses. Im barocken Treppenhaus des dortigen Vestibüls
schwingen sich die an der Decke befestigten Silhouetten von
101 Vögeln scheinbar empor. Ihr Gefieder wurde durch die
eingangs erwähnten Frottagen ersetzt. Susanne Krell nennt sie
»Leichte Vögel mit schwerem Gepäck«. Als
Vehikel von Spuren unterschiedlichster Orte beleben diese
aufwärtsstrebenden Vögel – es sind Falken, die der
Künstlerin während ihrer Erkundungstouren ins Visier
gerieten und die als Besonderheit tatsächlich auf Schloss
Schönstein beheimatet sind – die gesamte Eingangshalle.
Sie werden zudem begleitet von einem Adler, der im Allianzwappen der
Familie von Hatzfeldt erscheint und den großen Leuchter im
Treppenhaus ziert. Auch hier wäre es genau genommen unmöglich,
dass sich die Vögel mit ihren leichten Körpern beschwert
mit den steinigen Oberflächen überhaupt emporschwingen
könnten. Aber wie im Märchen kann auch diese Unmöglichkeit
auf wundersame Weise überwunden werden.
Im
Kaminzimmer sind auf einer Linie zwölf freihängende
Guckis vor zwei großen Fenstern angebracht, die einen
beeindruckenden Blick in die Landschaft eröffnen. Doch weit
gefehlt, wenn wir annehmen, unser Blick könnte durch diese
kleinen Apparate diesem Ausblick näherkommen, um dort
einzutauchen. Denn sobald unsere Augen die Gucklöcher erreichen,
wird unsere Erwartung gestört und optisch gebremst. Ferne wird
gegen Nähe eingetauscht: Wir erblicken Detailaufnahmen von
Steinoberflächen, wie Fischgrätmuster, Pflasterstein oder
Ziegel, Bodenbeläge und Gebäudesteine, die in der gesamten
Schlossanlage zu finden sind und die von der Künstlerin mit
Argusaugen untersucht, fotografiert und mit in ihr
Oberflächenrepertoire aufgenommen wurden. Mit Hilfe des Zooms en
détail erweitert, ja irritiert Susanne Krell wie schon zuvor
unsere Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten.
In
einem kleinen verborgenen Zimmer im Zugang zu den Siegsälen
widmet sie sich mit einer Audio- und Videoarbeit den biografischen
Notizen von Sophie von Hatzfeldt. Im Zentrum steht dabei das Vorlesen
verschiedener Briefwechsel zwischen ihr und Ferdinand Lassalle. Ihm,
dem Arbeiterphilosophen und Rechtskundigen, gelang es schließlich
auch, die Scheidung Sophie von Hatzfeldts von ihrem Mann Edmund von
Hatzfeldt-Wildenburg-Weisweiler durchzusetzen. Sie, unabhängig,
kämpferisch, intellektuell, politisch und freidenkerisch, steht
für eine außergewöhnlich emanzipierte Frau im Geiste
des romantischen Idealismus.
Im
linken Siegsaal hat Susanne Krell einen Bildschirm vor einer
verschlossenen Kaminöffnung platziert, der ein Video mit
Aufnahmen des Archivs von Schloss Schönstein zeigt. Regal für
Regal wurde es, gleich einer nicht enden wollenden Kamerafahrt,
abgefilmt: Archivalien, die die Geschichte des Schlosses und die
damit einhergehenden Korrespondenzen und Aufzeichnungen seit 1250
belegen. Gebündelt und verschnürt, dicht an dicht gepackt,
verborgen hinter transparenten Kunststoffbehängen, bewahren sie
viele Geheimnisse und Begebenheiten dieses Ortes, die uns
verschlossen bleiben.
Im
rechten Siegsaal erblicken wir ein langes Podest, auf dem
Trophäen des Waidwerks als Relikte vergangener
Jagdleidenschaften zu sehen sind. Susanne Krell hat diese auf einer
ihrer Erkundungstouren durch das Schloss in einem Dachzimmer
gefunden. Fasziniert von dem dort einfallenden Licht und die dadurch
hervorgerufenen Schatten der einzelnen Geweihe hat sie diese jeweils
in einen Scherenschnitt übersetzt. Am Ende hat sie letztere
zusammen mit den »Objets trouvés« in Form von
17 Geweihen, darunter die vom Hirsch, Mufflon oder Elch, sowie
Glasscheiben zu einer eindrücklichen Installation verarbeitet.
Susanne
Krell beschließt ihre so subtilen wie irritierenden
künstlerischen Setzungen mit einer scheinbar freischwebenden
Skulptur im Innenhof des Schlosses. »Vertigo«
nennt sie diese: eine gelb leuchtende große Spirale, die das
Schwindelgefühl beim Hinauf- und Hinuntergehen einer
Wendeltreppe in einem der Türme skulptural erfahrbar machen
soll. Darüber hinaus nährt sie Susanne Krells Vorstellung
und Fantasie, wie sie sagt, von einer unbekümmerten Kindheit –
einer Kindheit, die auch der Welt des Magischen angehört. Die
Wendeltreppe als vorzügliche Spielfläche für die
Kinder, die einst das Schloss bewohnten und geräuschvoll
treppauf, treppab weithin das Schloss mit Lebendigkeit erfüllten.
Fast glaubt man, die Szenerie vor Augen zu haben. Und dies ist eines
von Susanne Krells künstlerischen Geheimnissen: Sie gibt uns
Ideen, Fantasien mit auf den Weg, die sie zuvor der Geschichte dieses
Ortes entlockt hat, und animiert uns schließlich dazu, diese in
unserer Vorstellung zu vollenden. Unwirkliches wird Wirklichkeit –
Unmögliches wird möglich – wie im Märchen.
Was sammeln Sie? Weltkunst N°84 Hamburg 2014
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Begegnungen mit Susanne Krell: Eine Hommage an die Künstlerin, in: Le Mur | Die Mauer Kat. Fribourg 2013
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Uwe Augustinus Vielhaber OP
| Diplom-Theologe und Kunstwissenschaftler Freiburg/ Schweiz
Begegnungen mit Susanne Krell: eine Hommage an die Künstlerin,
in:
Le Mur | Die Mauer Kat. Fribourg 2013
Meine
frühen Begegnungen mit Susanne Krells Oeuvre im Koblenzer Raum
waren rein sporadischer Natur. Scheinbar zufällig erlebte ich
ihre Kunst-Installationen, ohne mich bewusst und kritisch damit
auseinander zu setzen. Jahre später traf ich Susanne wiederholt
bei Freunden in Neuwied und lernte peu à peu eine
unaufdringliche, aber engagiert und hart arbeitende Künstlerin
kennen. Vielleicht ist es ihr ethischen Prinzipien verhaftetes
Arbeits- und Werkethos, das mich als Theologe und
Kunstwissenschaftlicher von Beginn an in Beschlag nahm. Nicht minder
fasziniert mich als historisch denkender Mensch die Ortsbezogenheit
ihrer Kunstwerke. Susannes Kunst gibt es nicht losgelöst von der
Wirklichkeit des Ortes. Die Exponate nehmen konkrete Spuren vor Ort
auf und transformieren diese in eine eigenständige künstlerische
Dimension, die sich dem Dialog und der Begegnung öffnet.
Das
war es wohl, was mich im Herbst 2009 veranlasste, Susanne Krell zur
Kunstbiennale „3 x klingeln...!“ in das
Dominikanerkloster St. Bonifaz in Mainz einzuladen. Susannes raum-
und wandbezogenen Arbeiten erschlossen die tieferen Dimensionen des
geistlichen Ortes. Die Besucherresonanz war frappierend – trotz
und aufgrund der persönlichen Zurückhaltung der Künstlerin.
Für
mich als Ordensmann steht natürlich immer auch die Frage im
Raum, ob Kunst religiös, ob sie spirituell ist? Papst Franziskus
sprach unlängst vor Vertretern der Stiftung The
Patrons of the Arts
im Vatikan davon, dass die Kirche zu allen Zeiten Künstler
aufgerufen habe, die Schönheit des eigenen Glaubens zum Ausdruck
zu bringen und die Frohe Botschaft dadurch zu verbreiten.
Würde Susanne diese gleichsam ‚funktionale’ Deutung
bei ihren Arbeiten gelten lassen? Könnte sie ferner der
Grundthese von Wieland Schmied zustimmen, wonach von der Erkenntnis
ihrer Spiritualität her sich die Kunst in ihrer Substanz, wie in
ihrer Qualität, wie in ihrer Fülle erschließen lässt?
In
der Pastoralkonstitution Gaudium
et spes
des 2. Vatikanischen Konzils ist vom Dialog zwischen Kirche und
Kunstwelt die Rede (GS 53-62). Der Konzilspapst Paul VI. erhoffte
sich 1973 das Aufblühen eines neuen Frühlings religiöser
Kunst in der Nachkonzilszeit. Für mich persönlich haben
Susanne Krells Kunstwerke Anteil an dem vom 2. Vatikanum
manifestierten Aggiornamento,
dem Postulat der Kirche, sich den Verhältnissen in der Welt zu
öffnen und mit ihnen in Beziehung zu treten. Genau diesem
Auftrag kommt die Künstlerin mit dem Werk Le
Mur | Die Mauer
im Freiburger Bischofshaus nach: Kathedrale und Bischofssitz werden
zusammengebracht, in der Weise, dass zwei Orte verschmelzen und der
Betrachter mit ihnen in Beziehung tritt. Für dieses Angebot bin
ich Susanne aufrichtig dankbar und weiß mich dem Initiator und
Förderer, unserem Ortsbischof Mgr Charles Morerod OP, zutiefst
verpflichtet.
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Uwe Augustinus Vielhaber OP
| Couvent des Dominicains Saint-Hyacinthe de Fribourg (Suisse)
Rencontres avec Susanne Krell: Hommage à l’artiste,
dans:
Le Mur | Die Mauer Kat. Fribourg 2013
Mes premières rencontres avec l’oeuvre de Susanne Krell, dans la région de Coblence, étaient purement sporadiques. J’étais, par hasard, le témoin de ses réalisations artistiques sans toutefois y jeter un regard critique. Quelques années plus tard, j’ai rencontré, à plusieurs reprises, Susanne Krell chez des amis à Neuwied et, peu à peu, j’ai ainsi appris à connaître une artiste discrète mais engagée, travaillant assidûment. Est-ce peut-être ses principes éthiques qui inspirent son oeuvre et qui m’ont ainsi frappé en tant que théologien et expert en art ? En qualité d’historien de l’art, le lien de ses réalisations artistiques avec l’environnement ne m’a pas moins intéressé. L’art de Susanne n’est pas détaché de son contexte. Les oeuvres assument les traces concrètes du lieu et les transforment dans une dimension artistique autonome ouverte au dialogue et à la rencontre.
C’est ce qui m’a incité à inviter Susanne Krell à la biennale „sonner 3 x...!“ qui a eu lieu au couvent des dominicains Saint-Boniface à Mayence. Elle a saisi la dimension spirituelle du lieu. Et les échos des visiteurs étaient élogieux, malgré la discrétion de l’artiste.
Pour moi en tant que religieux se pose toujours la question de la nature de l’art: est-il religieux et spirituel ? Au Vatican, le pape François a dit récemment aux représentants de la fondation The Patrons oft the Arts que l’Église a toujours demandé aux artistes d’exprimer la beauté de leur foi et de répandre ainsi la Bonne Nouvelle. 1 Cette signification quasiment « fonctionnelle », est-ce que Susanne l’admettrait dans ses travaux ? En outre, pourrait-elle approuver la thèse fondamentale de Wieland Schmied, selon laquelle, en connaissance de sa spiritualité, l’art se fait découvrir dans sa substance comme dans sa qualité et sa plénitude?
Dans la constitution pastorale Gaudium et spes de Vatican II, il est question du dialogue entre l’Église et le monde des arts (GS 53-62). En 1973, le pape Paul VI a exprimé son espoir que l’art religieux connaît un nouveau printemps dans la période après le concile. Pour moi personnellement, les oeuvres de Susanne Krell participent à la mise à jour manifestée par le concile Vatican II, où l’église postule de s’ouvrir aux situations dans le monde et d’y entrer en relation. A cette tâche, l’artiste Susanne Krell correspond tout spécifiquement par son oeuvre Le mur | Die Mauer qui se trouve dans la résidence de l’évêque: la cathédrale et la résidence sont mises en relation d’une façon à ce que les deux lieux s’unissent et que le visiteur entre en relation avec eux. Je suis sincèrement reconnaissant à Susanne pour cette offre et me sais en dette envers l’initiateur et promoteur, notre évêque Mgr Charles Morerod OP.
Susanne Krell, in: autochthon – Susanne Krell im Sorbischen Museum Kat. Sorbisches Museum Bautzen 2012
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Dr. Gabriele Uelsberg
| Direktorin LVR-LandesMuseum Bonn
Susanne Krell
in:
in: autochthon – Susanne Krell im Sorbischen Museum
Kat. Sorbisches Museum Bautzen 2012
Sich
mit dem künstlerischen Werk von Susanne Krell zu befassen
bedeutet, sich auf eine Reise zu begeben mit dem Ziel der
Visualisierung von Historie, Regelwerken und Örtlichkeiten in
der Welt. Die Künstlerin sammelt seit vielen Jahren Spuren des
Menschlichen und Geistigen und legt dabei einen Weg zurück, in
dessen Verlauf sie unterschiedliche Themen und historische Kontexte
zur Anschauung bringt. Susanne Krell begegnet dabei kleinen wie
großen Fragestellungen, denen sie sich stellt. Während sie
in ihrem bedeutenden attgit.projekt
die großen Menschheitsreligionen an ihren zentralen Plätzen
in Dialog gebracht hat, befasst sie sich in der hier vorgestellten
aktuellen Werkreihe mit den Spuren einer ganzen Volksgruppe und
taucht in deren Lebenswelten ein.
Die
Ausstellung trägt den Titel „autochthon“, ein Wort,
das aus dem Altgriechischen stammt und aus den Begriffen Selbst und
Erde gebildet ist. In etwa bedeutet es einheimisch, eingeboren,
alteingesessen, bodenständig oder an Ort und Stelle entstanden.
Gemeint sind auf jeden Fall Dinge, Objekte und Figuren, die an ihrem
ursprünglichen Entstehungsort existieren. Die Ausstellung findet
ihren Niederschlag im Sorbischen Museum in Bautzen, dessen
Schwerpunkt die Herkunft, Sprache, Kunst, Literatur, Lebensweise und
das Brauchtum der Sorben darstellt. Die Menschen, die aus den
westslawischen Stämmen der Milzener und Lusizer stammen und die
sich selbst als „Serbja“ (Sorben) bezeichnen, später
in der Mehrheitssprache als Wenden benannt wurden und sich weiterhin
so nennen, verkörpern ein sich entwickelndes eigenes Brauchtum
und eine bürgerliche Kultur, denen Susanne Krell mit ihrer
künstlerischen Arbeit gleichsam zur Seite tritt und sie in ihrer
eigenen künstlerischen Arbeit reflektiert.
Die
Künstlerin begibt sich damit auf die Suche nach den Spuren einer
über die Aktualität hinaus gültigen Zeitlichkeit, die
sie mit unterschiedlichen Techniken und Rezeptionen auf Papier, auf
Foto, in Frottagen oder in Installationen nachvollzieht. In einigen
Arbeiten taucht Susanne Krell selbst in die Vergangenheit und
Gegenwärtigkeit ein, in dem sie sich selbst in eine sorbische
Tracht gewanden lässt und dies in einem Video dokumentiert. Ein
Foto zeigt Susanne Krell in der sorbischen Tracht, ein Text dazu
spiegelt ihre Empfindungen und Eindrücke beim Eintauchen in
diese andere Form der Identität wider. Hier unterzieht sich die
Künstlerin selbst einer „Umwandlung“, die sie in ein
fremdes Regelwerk – hier die Bedingungen der Tracht –
einschreibt, dessen Konditionen sie künstlerisch akzeptiert.
Immer
wieder spürt sie den Besonderheiten von Ort und Raum in der Zeit
und den Menschen selbst hinterher. Sie dokumentiert das ehemalige
Wendische Haus in Bautzen, das zerstört wurde, von dem
allerdings noch Wand, Pfeiler und Bodenplatten erhalten sind. Sie
fertigt dort ihre Frottagen an und verbindet sie mit dokumentarischen
älteren Abbildungen des Wendischen Hauses, das sie somit in eine
neue Realität überführt.
Wie
in ihrem Werk angelegt arbeitet Susanne Krell mit der Erstellung und
Sammlung eines umfangreichen Archivs von Spuren, Dokumentationen und
realen Objekten, die sie in Fotografien, Videos, Installationen und
den von ihr bevorzugten Frottagen in die Präsentation der
Werkserie überträgt. Immer wieder verbindet sie
Assoziationen, die sie als beobachtende und reflektierende Künstlerin
von Ort, Zeit und Raum entwickelt hat, mit konkreten Installationen
und Räumlichkeiten vor Ort. Sie löst dabei die Objekte der
historischen Gewachsenheit aus ihrem verorteten Kontext und überführt
sie dadurch in eine neue Lesbarkeit und Aktualität. Sie erstellt
ein Abbild der Vergangenheit, ohne dies wie ein Historiker, der um
Detailtreue bemüht wäre, zu tun, sondern sie entwickelt
eine bildkünstlerische neue Gestaltung für das Erfahrene,
die den Betrachter in die Lage versetzen, neben dem Erleben dieser
sorbischen Tradition eine Reflexion in Gang zu setzen, die sich mit
der aktuellen Situation aktiv auseinandersetzt.
Susanne
Krell ist in der Auseinandersetzung mit dieser Werkreihe sehr tief
auch in den Kontakt zu den Menschen selbst getreten. Hat sie in ihren
früheren Projekten oftmals – fast unbemerkt – die
Frottagen an den geschichtsträchtigen Gebäuden und Orten
abgenommen und sich so unauffällig wie möglich verhalten,
so hat sie bei diesem Projekt den Kontakt zu den Menschen, besonders
zu den Frauen gesucht, die sich in der sorbischen Tradition befinden
und die bis heute Trachten tragen und Brauchtum pflegen. Sie hat
versucht den Kontakt so anzustreben, dass sie als Beobachterin
gleichsam auch Akteurin wird und so, sowohl aus der Innen- wie der
Außensicht, die Frage nach Regelwerk, Tradition und Geschichte
selbst zu erfahren. Nicht nur die Einkleidung in die Festtagstracht,
die sie als aufwendigen Prozess erfahren und gemeinsam mit den
Einkleiderinnen zelebriert hat, geben einen anderen Blick auf die
historische Gewachsenheit, sondern auch die persönliche
Erfahrung, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Menschen immer
wieder neu ergeben hat.
Dennoch
bleibt der zentrale Aspekt der künstlerischen Arbeit die aus der
eigenen Erfahrung gewachsene Reflexion, die in einem weiteren Schritt
in Objekten und Installationen umgesetzt werden. Das Museum wird im
Ausstellungsprozess permanent verändert. Die Frottagen,
entwickelt an den Orten und Gebäuden, verändern die
Ausstellungsräume im Inneren. So wie die Künstlerin in die
Tracht geschlüpft ist und sie gleichsam von außen wie von
innen erfahren hat, so werden die Frottagen von bedeutenden und
geschichtsträchtigen Plätzen in die Ausstellung integriert,
verändern die Architekturen, bilden Hauben aus Papier,
transportieren so die Ideen, „die Köpfe“, die
Menschen in ein Beziehungsgeflecht von Erfahrung und Aktion.
In
einem weiteren Schritt nutzt Susanne Krell die ornamentalen
Musterstrukturen der sorbischen Trachten als ein „Codierungssystem“
einer gemeinsamen Bildsprache. Aus dem stofflichen Kontext gelöst
tauchen diese abstrakten Sprachmuster – sprich Ornamente –
als Bildsysteme in digital gerahmten Kontexten auf oder fungieren als
System eines kollektiven abstrakten Zeichensystems, das über den
Schmuck der Tracht hinaus eine Gemeinsamkeit in der ethnischen
Zuordnung thematisiert. Diese Muster funktionieren wie ein
Erkennungs- oder Sprachsystem, das dem Vertrauten und „Eingeweihten“
zur Verfügung steht, um sich zu erkennen und sich zu einer
eigenen Identität zu verhelfen.
Wieder
gelingt es der Künstlerin Susanne Krell ein Konzept zu
entwickeln, in dem sie eine authentische Spurensuche in Gang setzt,
von Plätzen, Orten und Menschen, in die die Betrachter gleichsam
eintreten können. In den von Susanne Krell erstellten Frottagen,
Fotografien und Videos, die über einen rein erzählerischen
oder wissenschaftlichen „Vortrag“ hinaus gehen,
entwickelt sie eine visionäre Präsenz der Sorben und macht
auf visueller und erfahrungsmäßiger Weise Bezüge,
Empfindungen und Wertigkeiten deutlich. Ihr Ansatz ist, in einer
Serienkonzeption das Thema ihrer Auseinandersetzung gleichsam zu
umkreisen und in immer wieder neuen Ansätzen das Netzwerk von
Beziehungssetzungen visuell erfahrbar zu machen. Wie schon in ihren
vorangegangenen Werkreihen an anderen Orten und Plätzen und zu
anderen Themen, gelingt es ihr, die Vergangenheit gegenwärtig zu
machen und sie im Kontext einer lebendigen Zeitgenossenschaft zu
visualisieren als Präsenz einer immerwährenden
Vergangenheit in der Zukunft
Wider das Vergessen, in: autochthon – Susanne Krell im Sorbischen Museum Kat.
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Christina Bogusz
| Kunstwissenschaftlerin Sorbisches Museum, Bautzen
Wider das Vergessen
in:
autochthon – Susanne Krell im Sorbischen Museum Kat. Sorbisches Museum Bautzen 2012
Gestatten Sie mir bitte gleich zu Beginn einen gedanklichen Exkurs:
Man schreibt das Jahr 1886. Ein junger, 23-jähriger Mann macht sich auf den Weg in die sorbische Lausitz. Es ist der Tscheche Ludvik Kuba. Gerade erst hat er seinen Lehrerberuf an den Nagel gehangen um seinem innersten moralischen Gebot zu folgen: ein Wirken im Dienst der slawischen Völker. Das er, der später in Prag, Paris, München und Wien Malerei studiert hat und dessen Werk in namhaften europäischen Salons gefeiert wurde zu einem der signifikantesten Vertreter jener Künstlerschaft wurde, die sich mit dem berühmten Blick von außen der sorbischen Lausitz in ihrem Werk verschrieben, ahnte er damals nicht. Sein mehr als 70 Bilder umfassender Gemäldezyklus aller zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch getragenen sorbischen Trachten ragt wie ein Juwel aus dem Gesamtschaffen des Künstlers heraus.
Was aber verbindet Ludvik Kuba mit Susanne Krell, einer zeitgenössischen Künstlerin? Auf den ersten Blick wenig. Auf den zweiten sehr viel mehr.
Beide verstehen ihre Kunst gleichsam als Dokument, als Nachweis und Bestandsaufnahme des Gegenwärtigen, vor dem Hintergrund der Frage nach dem, was von all dem Kostbaren bleibt. Beide sammelten bzw. sammeln Spuren geistig-kultureller Leistungen um für nachfolgende Generationen zu bewahren, was bewahrenswert ist. Ludvik Kuba steht aber auch für all jene Künstler, die etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in heutigen Tage aus sehr unterschiedlichen Beweggründen heraus sich in ihrem Werk den Sorben widmeten und ihre Wahrnehmungen, ihre Perspektiven und ihre Empathie auf sehr individuelle Art reflektierten. Manche dieser Künstler blieben über Jahre, einige kehrten wieder, andere verweilten nur kurz – die meisten jedoch ließ dieser Landstrich mit den hier ansässigen Menschen nie wieder los.
Susanne Krell reiht sich nun mit ihrer Ausstellung „autochthon – Frottagen, Videos und Installationen“ in die Gruppe der die Lausitz bereisenden Künstler ein. 1955 geboren und aufgewachsen in Betzdorf an der Sieg im nördlichen Westerwald studierte sie später in Koblenz, Bonn und Tübingen Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Philosophie und nahm Ende der 1990er Jahre am Seminar bei Prof. Marina Abramović, der Grand Dame der Performance-Kunst teil. Die Liste ihrer Einzelausstellungen und Teilnahme an Gruppenausstellungen ist lang und verweist auf renommierte Häuser in Europa und weitere Orte rund um den Globus. Für ihre künstlerischen Leistungen wurde Susanne Krell mehrfach mit Stipendien und Preisen geehrt.
Zwei Dinge sind für die Kunst von Susanne Krell von maßgebender Bedeutung: die Begegnung und die Berührung. Berühren sie Dinge von inhaltlicher Essenz an Herz und Seele, so wächst in ihr das Verlangen, sich ihnen zu nähern. Das vollzieht die Künstlerin in Form der haptischen Wahrnehmung. Sich Nähern, das heißt für Susanne Krell, sich die Dinge durch den Tastsinn ihrer Hände zu erschließen. Die direkte Berührung des Objektes ist für ihre künstlerische Arbeit unumgänglich. Diese Art des Erfassens ermöglicht ihr das aktive Erfühlen von Größe und Konturen, von Strukturen und Material. Begegnungen treten oft unerwartet und unvorhergesehen in unser Leben. Sie setzen Emotionen, Erwartungen und Impulse frei. Susanne Krell vertraut auf die Kraft der Begegnung, die ihr die Inspiration für die geistige und künstlerische Auseinandersetzung mit der Materie bietet. Mit der von ihr bevorzugten Technik der Frottage, ein Abreiben von Mauern, Steinen oder Flächen mit Hilfe von Papier. Leinwand und Tuch sowie mit Kreiden und Stiften hat sie ein künstlerisches Verfahren entwickelt, das es ihr erlaubt, historische Spuren aufzunehmen, zu dokumentieren und zu bewahren. Nur so gelingt ihr eine distanzlose und direkte Verbindung, die ihr die Fotografie oder Zeichnung so nicht bieten kann. Es scheint als übertrüge sie die Oberfläche einer Haut, die so einzigartig und individuell ist, wie der Fingerabdruck eines Menschen. Die Frottagen, die an für sie magischen Orten entstehen, fügt sie später zu ganz neuen Gedankengebäuden zusammen. Fundierte örtliche und zeitliche Dimensionen sind der Künstlerin dabei weniger wichtig, viel lieber entwickelt sie ganz eigene Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit.
Das Credo ihrer Arbeit sieht Susanne Krell im Aufbau eines umfangreichen Archivs von Spuren aus aller Welt, die sie in Form von Frottagen erfasst, bewahrt und unter neuen Aspekten zusammenfügt.
Seit vielen Jahren reist Susanne Krell folglich an Orte mit besonderer historischer, religiöser oder kultureller Prägung. Ihr Weg führt sie dabei in Regionen divergenter Kulturkreise, Mentalitäten und Weltanschauungen. Diese Stimulans der Irregularität und Interkulturalität sucht Susanne Krell bewusst, um ihre Ideensammlungen zu nähren. Nicht das klassische Objekt an sich, etwa ein Gemälde, eine Plastik oder Zeichnung wird nun zum Träger der Aussage, vielmehr die künstlerische Idee, das mentale Konzept, die hinter ihren Arbeiten steht. Diese Arbeitsweise vertreten unter den sorbischen bildenden Künstlern Maja Nagelowa, Sophie Natuškec, Měrka Pawlikowa oder Fred Pětška.
Kunst baut bekanntlich Brücken und ignoriert schlichtweg jegliche geografische Distanz. Heute verbindet die Brücke der Kunst Spree und Rhein. Im Oktober 2010 wurde, initiiert vom Vorsitzenden des Vereins zur Förderung von Kunst und Kultur Bad Honnef Werner Osterbrink, in der dortigen Galerie Kunstraum eine Ausstellung des namhaften sorbischen Künstlers Jan Buck präsentiert. Susanne Krell, selbst im Vorstand des Vereines engagiert, signalisierte unmittelbar nach der Ausstellungseröffnung ihr Interesse am Thema Sorben. Die ihr bisher völlig unbekannte Kultur im südöstlichen Teil Deutschlands regte in ihr den Prozess der künstlerischen Beschäftigung mit dem Thema an. Ihr erprobter Spürsinn nach dem Unbekannten, nach dem Speziellen, nach den Reibungsflächen einerseits und möglicher Konformität anderseits beflügelten sie in ihrem Vorhaben.
Der Ausstellung hat Susanne Krell den Begriff „autochthon“ vorangesetzt. Das altgriechische Wort, welches für einheimisch, alteingesessen oder bodenständig steht, war für Susanne Krell die logische Schlussfolgerung ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse, welche sie sich im Studium der sorbischen Geschichte, in Gesprächen und wiederholten Reisen in die Lausitz erwarb. Das Wort autochthon positioniert die Künstlerin innerhalb der Ausstellung selbstbewusst und markant im Eingangsbereich des Museums, dem direkten Blick seiner Besucher ausgesetzt. Sie signalisiert die Kompromisslosigkeit der Bedeutung des Wortes im Bezug auf die hiesige sorbische Bevölkerung. Ihre Art diesen Anspruch zu artikulieren, findet Susanne Krell in Form einer roten Neonröhre. Leuchtreklame ist grell, aufdringlich, mitunter auch aggressiv. Und sie wirkt bei Dunkelheit. Auch bei geistiger? Die Wenigsten mögen Leuchtreklame wirklich und schenken ihr scheinbar nur einen winzigen Moment Aufmerksamkeit. In Wahrheit jedoch brennen sich Botschaften, die Reklame uns zu vermitteln versucht, unbemerkt in unser Bewusstsein ein. Jurij Brězan, herausragender sorbischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts postulierte den Kerngedanken in Bezug auf den Begriff autochthon in seinem letzten Interview als Appell an die deutschen Politiker: „… wenn sie uns wirklich helfen wollen zu überleben (…) dann müssen sie in den Sonntagspredigten ihre Landsleute wenigstens ermahnen, uns nicht mehr für ihre Untermieter zu halten, sondern als wirkliche Nachbarn betrachten …“ Susanne Krell hat mit ihrer Installation „autochthon“ dieses Postulat verbildlicht.
Ganz bewusst integrierte Susanne Krell ihre Installationen und Werkgruppen in die Dauerausstellung de Sorbischen Museums. Zeitalter begegnen sich auf diese Weise, Gestern und Heute verbinden sich im Auge des Betrachters. Die Künstlerin regt zum Nachsinnen an um sich der Antwort auf ihre Frage nach dem was bleibt, zu nähern. Da sind Stoffe, wunderbare Stoffe sorbischer Trachten, farbenfroh, seidig, bestickt und von zartem Glanz. Einst waren sie am Leben; atmeten und bewegten sich mit ihren Trägerinnen. Die Gewebe waren untrennbarer Teil ihrer Biografien. Sie wurden zu Zeugen froher Feste und schwerer Stunden, als Schmuck und Schutz zugleich. Stoffe, geschneidert zur zweiten Haut. Immer aber waren sie auch Ausdruck der Würde der Frauen, die sich durch ihre Tracht öffentlich zu ihrer nationalen und religiösen Herkunft bekannten. Susanne Krell fotografierte aus dem Bestand des Sorbischen Museums nahezu 60 verschiedene Stoffe. Sie ließ sie durch ihre Hände gleiten um ihre Geschmeidigkeit und ihre Beschaffenheit zu erfühlen. Von diesen suchte sie 40 Motive für die Installation „Muster“ aus. Was bleibt von ihrer einstigen mit Leben erfüllten Schönheit, ihrem Schimmer bei Sonnenlicht? Bewahrt für die Ewigkeit lagern sie nun sorgfältig archiviert und wissenschaftlich dokumentiert im Schubfach des Museumsdepots. Wer gibt ihnen das Leben zurück?
Im engen Kontext dazu stellt die Künstlerin das Thema „Hauben“. Ein Gebilde aus 100 Papierhauben schwebt, gleich einem Wolkenschiff, verloren am Firmament der Saaldecke über unseren Köpfen. Die Haube als eine Form der Kopfbedeckungen spielte in der menschlichen Kulturgeschichte immer eine wichtige Rolle. Sie dient zum Schutz des Kopfes, den Sitz des menschlichen Geistes, zum Behüten der Gedanken als Ursprung allen Tuns. Die Haube offenbart die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und zeugt von der Hierarchie ihrer Trägerin innerhalb der Gemeinschaft. Vielmehr ist sie aber ein Zeichen der menschlichen Würde als Krönung des erhobenen Hauptes. In einem ihrer Gedichte „Ich ging mit Mutter“ beschreibt die sorbische Lyrikerin Róža Domašcyna aus der Perspektive eines Kindes eine einschneidende Begebenheit von tiefster psychischer Verwundung. Spottende Worte richten sich gegen die Mutter in Tracht und bohren sich schmerzhaft in die Seelen von Mutter und Kind. Die Zeilen des Gedichts verdeutlichen die Ohnmacht des Kindes gegenüber den Kränkungen. „die kegel fielen wie worte auf mutters kopfputz / die schleife aus chinaseide/ … VERRECKE ich sah mutters gesicht von unten / die staketenspitzen waren auf uns gerichtet / WENDE / ich riß die schleife ab“. Der von außen zugefügte Schmerz verkehrt sich in Selbstverletzung. Das ist Nährboden genug für die Ablehnung der eigenen Muttersprache und die Leugnung der Herkunft. Jahre später schreibt Róža Domašcyna an anderer Stelle „Die Kleidung weist auf die Sprache. Sprache und Kleidung weisen auf das Anderssein. … Unerkannt heißt weniger angreifbar.“
Die Beschäftigung mit der Tracht lässt Susanne Krell nicht los. Das Exotische ist nicht das, wonach die Künstlerin sucht. Vielmehr ist es der Versuch des Nachfühlens von Empfindungen und Erfahrungen derjenigen Frauen, für die es immer eine Selbstverständlichkeit war, Tracht zu tragen. In Rejza Čornakowa aus Ostro und Regina Šołćina aus Cunnewitz fand Susanne Krell sehr warmherzige und einfühlsame Gesprächspartnerinnen. Die Interviews mit beiden Frauen wurden per Videokamera festgehalten und ihre Darlegungen sind nun an zwei Hörstationen
akustisch wahrzunehmen. Susanne Krell geht aber noch einen Schritt weiter.
Wie fühlt sich die Tracht am eigenen Körper an, wie die Haube, so straff über Kopf und Ohren gespannt, wie viel Bewegung lässt läßt sie zu? Susanne Krell ging diesen Fragen konsequent nach, indem sie ihre eigene körperliche Distanz zur Tracht bricht und sich selbst in die Festtracht der katholischen Sorbinnen einkleiden lässt. Dieser sehr persönlich-intime und sinnliche Prozess der Wahrnehmung des „in der Haut des anderen zu stecken“ findet Widerhall in ihrer Installation „Tracht-selbst“.
Die Ausstellung der Künstlerin Susanne Krell „autochthon“, wirf Fragen auf, deren Antworten nicht ohne Weiteres zu finden sind. Möglicherweise gibt es keine expliziten Antworten. Jeder Generation wird ihr Stück Zeit gewährt bevor sie in den Schatten der kommenden tritt. Der Prozess der Spurenlese und Spurensicherung, den Susanne Krell konsequent beschreitet und künstlerisch in Bewegung bringt, ist ihr ganz persönliches Streben wider das Vergessen aus Gleichgültigkeit und moralischer Gewissenlosigkeit gegenüber den Lebensleistungen eines jeden Menschen als Teil des Ganzen.
Christina Boguszowa
| wuměłstwowa wědomostnica, Serbski muzej, Budyšin
Přećiwo zabyću
awtochtone – Susanne Krell w Serbskim muzeju w Budyšinje
Dowolće mi prošu hnydom na spočatku myslenski ekskurs: Pisamy lěto 1886. Młody, 23-lětny muž poda so na puć do serbskeje Łužicy. Je to Čech Ludvík Kuba. Runje hakle je wón swoje wučerske powołanje spušćił, zo by swojej moraliskej kazni sćěhował: skutkowanje w słužbje słowjanskich ludow. Zo by so stał z jednym z najwuznamnišich zastupjerjow wonych wuměłcow, kotřiž so w swojim dźěle z widom wotwonka serbskej Łužicy wěnowachu, na to Kuba tehdom hišće njemysleše. Wón studowaše w Praze, Parisu, Mnichowje a Wienje molerstwo a jeho dźěła sławjachu so w nahladnych europskich salonach. Jeho wjace hač 70 mólbow wopřijacy wobrazowy cyklus wšitkich hišće na spočatku 20. lětstotka nošenych serbskich drastow wusahuje kaž juwel z cyłkowneho tworjenja wuměłca.
Što pak zwjazuje Ludvíka Kubu ze Susanne Krell, našočasnej wuměłču? Na prěni pohlad mało. Na druhi wjele wjace. Wobaj, Ludvík Kuba rozumješe a Susanne Krell rozumi swoje wuměłstwo jako dokument, jako dopokaz a registrowanje tuchwilneho, před pozadkom prašenja, što ze wšeho toho drohotneho zwostanje. Kuba zběraše slědy duchowno-kulturnych wukonow a wuměłča to pokročuje – ze zaměrom, za naslědowace generacije zachować, štož je zachowanja hódne. Ludvík Kuba steji pak tež za wšěch tych wuměłcow, kotřiž so w swojim skutkowanju něhdźe wot srjedź 19. lětstotka hač do dźensnišeho z jara rozdźělnych přičin Serbam wěnowachu a swoje zaznawanja, swoje zhladowanja a swoju empatiju na jara wosobinske wašnje reflektowachu. Někotři wuměłcy wostachu přez lěta we Łužicy, někotři so nawróćichu, druzy přebywachu tu jenož krótko – najwjace z nich pak tale kónčina z tudy so bydlacymi ludźimi ženje wjace njepušći.
Susanne Krell zarjaduje so ze swojej wustajeńcu »awtochtone – frotaže, wideja a instalacije« do skupiny po Łužicy pućowacych wuměłcow. 1955 narodźena a wotrostła w Betzdorfje nad Siegu w sewjernym Westerwaldźe studowaše wona pozdźišo w Konstanzu, Bonnje a Tübingenje teoriju a stawizny wuměłstwa kaž tež filozofiju a wobdźěli so kónc 1990tych lět na seminarje pola prof. Mariny Abramović, grand damy performancewuměłstwa. Lisćina jeje personalnych wustajeńcow a jeje wobdźělenja na skupinskich wustajeńcach je dołha a pokazuje na renoměrowane domy w Europje a dalše městna kołowokoło globusa. Za swoje wuměłske wukony bu Susanne Krell wjackróć ze stipendijemi a mytami wuznamjenjena.
Dwě wěcy matej za wuměłstwo Susanny Krell směrodajny wuznam: zetkanje a dótknjenje. Dótkaja-li so wěcy wobsahoweje esency jeje wutroby a duše, tak rosće w njej žadosć, so jim bližić. To wuwjedźe wuměłča po wašnju haptiskeho zaznawanja. So bližić, to rěka za Susannu Krell, sej wěcy ze swojimaj rukomaj z tasanjom wotkryć. Direktnje so objekta dótkać – to je za jeje dźěło njeparujomne. Tute wašnje wopřimanja zmóžni jej aktiwne wučuće wulkosće a konturow, strukturow a maćizny. Zetkanja stupja husto njewočakowano a njejapcy do našeho žiwjenja. Wone wubudźa začuća, wočakowanja a nastorki. Susanne Krell dowěri mocam zetkanjow, kiž jej inspiraciju za duchowne a wuměłske rozestajenje z materiju skića. Z frotažu, wot njeje preferowanej techniku – t. j. wotšudrowanje murjow, kamjeni abo přestrjenjow z krydami a pisakami na papjeru a płatno – je wona wuměłsku metodu wuwiła, kotraž jej dowola, historiske slědy zapopadnyć, dokumentować a zachować. Jenož tak radźi so jej direktny zwisk bjez distancy, kotryž jej fotografija a rysowanka skićeć njemóžetej. Zda so, jako by přenjesła powjerch kože,kotraž je tajka jónkroćna a indiwiduelna kaž wotćišć čłowječeho porsta. Frotaže, kotrež nastawaja na w jeje wočach magiskich městnach, zwjaza pozdźišo k cyle nowym myslowym twarjenjam. Fundowane městne a časowe dimensije su za wuměłču při tym mjenje wažne, wjele radšo wuwiwa wona cyle swójske zakonitosće ruma a časa.
Kredo swojeho dźěła widźi Susanne Krell w natwarje wobšěrneho archiwa slědow ze wšěho swěta, kotrež wona w formje frotažow zapřijima, wobchowa a pod nowymi aspektami zjednoća.
Wjele lět hižo pućuje Susanne Krell potajkim k městnam z wosebitym stawizniskim, nabožnym a kulturnym razom. Puć wjedźe ju při tym do regionow rozběžnych kulturnych kruhow, powahow a swětonahladow. Tónle pohonjowacy srědk njeregularnosće a mjezykulturelnosće pyta wuměłča cyle wědomje, zo by swoju idejowu zběrku žiwiła. Nic klasiski objekt – kaž mólba, plastika abo rysowanka – stanje so nět z nošerjom wuprajenja, ale wuměłska ideja, t. r. mentalny koncept, kotryž za jeje dźěłami tči. Tute wašnje dźěła zastupuja mjez serbskimi tworjacymi wuměłcami Maja Nagelowa, Sophie Natuškec, Měrka Pawlikowa abo Fred Pětška.
Wuměłstwo twari mosty, kaž je znate, a ignoruje kóždźičku geografisku distancu. Dźensa zwjazuje móst wuměłstwa Sprjewju a Ryn. Werner Osterbrink, předsyda towarstwa Verein zur Förderung von Kunst und Kultur Bad Honnef, iniciěrowaše w oktobrje 2010 w tamnišej galeriji Kunstraum wustajeńcu znateho serbskeho wuměłca Jana Buka. Susanne Krell, sama w předsydstwje towarstwa angažowana, signalizowaše njeposrědnje po wotewrjenju wustajeńcy swój zajim za Serbow. Jej do toho časa dospołnje njeznata kultura we wuchodnym dźělu Němskeje pohnu ju, so wuměłsce z tutej temu zaběrać. Jeje wupruwowany čuch za to njeznate, za to specielne, za dypki šudrowanja na jednej stronje a za móžnu přezjednosć na druhej stronje pozbudźowaše ju při swojim předewzaću. Swoju wustajeńcu je Susanne Krell ze zapřijećom »awtochtone« pomjenowała. Tute starogrjekske słowo, kotrež měni to domjace, wot starodawna zasydlene abo ze zemju zwjazane, bě za Susannu Krell logiska konkluzija ze swojich nazhonjenjow a dopóznaćow, kotrež sej při studiju serbskich stawiznow, w rozmołwach a z wospjetnymi pućowanjemi do Łužicy přiswoji. Słowo »autochthon« zaměstni wuměłča we wustajeńcy cyle wědomje a markantnje w zachodnej rumnosći muzeja, wone je wustajene direktnemu pohladej wopytowarjow. Wona signalizuje bjezkompromisnosć słowneho woznama, poćahujo so na tudyše serbske wobydlerstwo. Swoje wašnje, tutón narok artikulować, namaka Susanne Krell w formje čerwjeneje neonoweje rołki. Swěćaca reklama je jaskrawa, nalěhawa, druhdy tež agresiwna. A wona skutkuje w ćmě. Tež w duchownej? Najmjenje ludźi ma swěćacu reklamu woprawdźe rady a wěnuje jej po zdaću jenož mólički wokomik kedźbnosće. We woprawdźitosći pak zapala so poselstwa, kotrež spyta nam reklama posrědkować, njepytnjene do našeho wědomja. Jurij Brězan, wusahowacy serbski spisowaćel 20. lětstotka, postulowaše hłownu mysl nastupajo zapřijeće »awtochtone« w swojim poslednim interviewje jako apel na němskich politikarjow: »… jeli chceće nam woprawdźe pomhać přežiwić …, potom dyrbiće w njedźelnych prědowanjach swojich krajanow znajmjeńša namołwjeć, zo nimaja nas hižo za swojich podružnikow, ale zo nas jako woprawdźitych susodow wobhladuja …«¹ Susanne Krell je ze swojej instalaciju »autochthon« tónle postulat zwobrazniła.
Cyle wědomje integruje Susanne Krell swoje instalacije a skupiny dźěłow do stajneje wustajeńcy muzeja. Časowe doby zetkaja so na tute wašnje, wčera a dźensa zwjazatej so we wóčku wobhladowarja. Wuměłča pohnuwa k přemyslowanju, zo by so k wotmołwje na prašenje, što zwostanje, přibližiła. Tule mamy płaty, krasne płaty serbskich drastow, wjesołych barbow, židźane, wušiwane a so złaha swěćace. Něhdy běchu wone žiwe; dychachu a hibachu so ze swojimi nošerkami. Tkaniny běchu njedźělomny wobstatk jich biografijow. Wone stachu so ze »swědkami« wjesołych swjedźenjow a ćežkich hodźinow, běchu zdobom pycha a škit. Płaty, zešite jako druha koža. Stajnje pak bě drasta tež wuraz dostojnosće žonow, kotrež so z njej zjawnje k swojemu narodnemu a nabožnemu pochadej wuznawachu. Susanne Krell fotografowaše z fundusa Serbskeho muzeja nimale 60 wšelakich płatow. Wona je z rukomaj wobtasaše, zo by jich mjechkosć a hrubosć, jich kajkosć a staw zawučuła. Z tutych wupyta wona 40 motiwow za instalaciju »Mustry«. Što zwostanje wot jich něhdyšeje ze žiwjenjom napjelnjeneje rjanosće, wot jich błyšća w swětle słónca? Wobchowane za wěčnosć składuja so wone nětko swědomiće archiwěrowane a wědomostnje dokumentowane w kašćikach muzejoweho depota. Štó je zaso wožiwi?
Do wuskeho konteksta z narodnej drastu staji wuměłča temu »Hawby«. Twórba ze 100 papjerjanych hawbow znošuje so, podobnje mróčelowej łódźi na firmamenće žurloweho wjercha. Hawba jako jedna forma pokryća hłowy hraješe w kulturnych stawiznach čłowjestwa přeco hižo wažnu rólu. Wona słuži k škitej hłowy, sydła čłowječeho rozuma, k škitej myslow jako žórło wšeho čina. Hawba wozjawnja přisłušnosć k wěstej skupinje a swědči wo hirarchiji jeje nošerki w tutej zhromadnosći. Ćim bóle pak je wona znamjo čłowjeskeje dostojnosće jako krónowanje pozběhnjeneje hłowy. W jednej ze swojich basnjow – »Wowka dźěše z dźěsćom« – wopisuje serbska lyrikarka Róža Domašcyna z perspektiwy dźěsća grawěrowacy podawk hłubokeho psychiskeho zranjenja. Wusměšowace słowa měrja so přećiwo maćeri a zaryja so bolostnje do dušow maćerje a dźowki. Linki basnje znazornjeja bjezmóc dźěsća přećiwo ranjenjam: »… wowka w banće … kehelowaše něchtó / za nimaj … jednotliwe słowa … VERRECKE dźěćo / hladaše wowce do wobliča stachety / so na njeju měrjachu WENDE / wowka stuli hłowu dźěćo wottorhnje jej / bant«.² Wotwonka načinjena bolosć změni so do sebjezranjenja. To je dobra žiwna póda za wotpokazanje maćerneje rěče a zaprěće pochada. Lěta pozdźišo pisa Róža Domašcyna na druhim městnje: »Drasta pokazuje na rěč. Drasta a rěč pokazujetej na cuzosć. … Štóž njenapadnje, njehodźi so lochce zranić.«³
Zaběra z drastu Susannu Krell njepušći. Eksotiskosć njeje to, za čimž wuměłča pyta. Skerje je to pospyt naslědneho začuwanja po začućach a nazhonjenjach wonych žonow, za kotrež bě nošenje drasty stajnje samozrozumliwe. W Rejzy Čornakowej z Wotrowa a w Reginje Šołćinej z Konjec namaka Susanne Krell jara wutrobitej a čućiwej partnerce. Interviewaj ze žonomaj so z widejokameru zapopadnyštej a wopytowar móže jeju rozkładowani nět při słuchanskimaj stacijomaj wotposkać. Susanne Krell dźe pak hišće krok dale. Kak čuje so sama w drasće a kak začuwa drastu na swojim ćěle, tutu hawbu, tak kruće na hłowje a přez wuši zwjazanu, kelko pohiba wona dowola? Susanne Krell slědźi konsekwentnje za tutymi prašenjemi, z tym zo swoju ćělnu distancu k drasće přełama a so sama do swjedźenskeje drasty katolskich Serbowkow zwoblěkać da. Tónle jara wosobinski a zmysłowy proces začuwanja, »w koži druheho tčeć«, wotbłyšćuje so w jeje instalaciji »Drasta-ja sama«.
Wustajeńca »awtochtone« staja prašenja, kotrež njedadźa so bjeze wšeho tak lochko wotmołwić. Kóžda generacija dóstawa swój podźěl časa, prjedy hač do sćina přichodneje stupi. Proces zběranja a zawěsćenja slědow, kotryž Susanne Krell wuměłsce zahibuje a konsekwentnje dale wjedźe, je jeje cyle wosobinske prócowanje přećiwo zabyću – z liwkosće abo njezamołwitosće – porno žiwjenskim wukonam kóždeho čłowjeka jako dźěl cyłka.
1 Robert Langer, Měrćin Wałda / Martin Walde: Vielfalt ist Sache eines Ganzen. Überlegungen zum Miteinander der Kulturen, Kultur. Wissen. Bilder. Verlag, 2011, str.
2 Róža Domašcyna: Wróćo ja doprědka du., Ludowe nakładnistwo Domowina, Budyšin 1990, str. 39
3 Maćij Bulank, Róža Domašcyna: Prjedy hač woteńdźeš. Bevor du gehst, Ludowe nakładnistwo Domowina, Budyšin 2011, str. 10 / 11
Auf Tuchfühlung, in: autochthon – Susanne Krell im Sorbischen Museum Kat. Sorbisches Museum Bautzen 2012
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Róža Domašcyna
| Schriftstellerin, Bautzen
Auf Tuchfühlung
(Gedanken anhand einiger Arbeiten der Ausstellung „autochthon“, Frottagen, Videos und Installationen von Susanne Krell, gezeigt im Sorbischen Museum in Bautzen)
Spuren der Existenz schreiben sich fest an und in den Gegenständen. Sie sind Fundstücke der Generationen. Einheimisch sind die Pflanzen und Tiere. Auch der Mensch. Ursprüngliche Zugehörigkeit hat mit Selbstverständlichkeit zu tun.
Dort ist eine schwere Tür aus Holz, nur zu öffnen, indem man sich an sie drückt. Und während sie sich zu öffnen beginnt, signalisiert mir ein Täfelchen auf Augenhöhe: začiń durje. Es ist ein Sagen, wie man es einem Kind beizubringen versucht: Schließe die Tür. Doch um sie zu schließen, muss ich sie erst einmal öffnen und über die Schwelle treten. Der Innenraum birgt ein Geheimnis, dem ich auf die Spur kommen will.
Nehme ich den Hinweis, die Tür zu schließen, wörtlich, lass ich die halboffne Tür ins Schloss zurückschnappen und bleibe draußen. Die Neugier auf das hinter der Tür, ist größer. Ich ignoriere das Schild und trete ein. Zuerst sehe ich nichts. Dann erkenne ich ein rotes Licht. Ein Achtungszeichen. Ist es das ewige Licht? Oder das Rot einer Neonröhre? Befinde ich mich gar auf einem Weg, der durch dunkle Gänge führen muss, um Erleuchtung zu bringen?
Vorsichtig mache ich den ersten Schritt, gehe dem Licht nach, ertaste eine Wand, die Unebenheiten in ihr, abgeschabte Stellen, bröckelnde Strukturen, scharfkantige Ecken. Wurde hier gesprengt? Erst kürzlich? Ich erkenne Glimmerblättchen im Granit. Lausitzer Granit. Dazwischen Feldsteine, Findlinge. Stoff, aus dem Schanzen sind, Burgwälle, Kirchen und Häuser. Mein Körper geht auf Tuchfühlung, zwischen Mauer und Haut nur dünnes Leinen. Ich erinnere mich an die Kühle, die ich im Sommer suchte, und wie ich im Winter von der Wand abzurücken versuchte. Manchmal schwitzen Steine, holen sich das Wasser aus der Erde.
Leinen, Baumwolle – das Geraschel von Stoffen in hohen Kirchen- oder Konzerträumen wird laut, wenn sich die Körper bewegen und sonst kein Sterbenswörtlein zu hören ist. Das Streifen von Seide auf einer lackierten Bank, das Schaben eines steifen, gestärkten Tuches, das Klappern von Schuhen auf dem Steinfußboden oder aber der Aufprall eines heruntergefallenen Buches, das Klacken der Perlen eines Rosenkranzes. Dazu kommen die Muster in den Stoffen, durch die Wärme des Körpers an den Stein gepresst oder ins weiche Holz gedrückt. Rosen- und Blattmuster. Dornenranken. Mit den wechselnden Menschen kommen neue Muster hinzu. Sie überlappen sich.
Ebenso verhält es sich mit den Worten. Sie tragen Erinnern mit sich. Und wenn sie gesprochen werden, ist es auch ein Nachsprechen, besser ein Nachsingen. Und wie viel vom Rhythmus des Gesanges hält sich im Raum als Einladung für den Nächsten, für die nächsten Generationen! In der Osternacht, wenn die Kirche übervoll ist, atmet das Kirchenschiff in den Intervallen des Gesanges so heftig, das Gegenwärtiges und Vergangenes eins werden. Der Klang der Stimmen durchdringt die Mauern, wird aus dem Dunkel mitgenommen in den hellen Tag, gerät ins Morgen und Übermorgen. Als Anlass zum wiederholten Gesang. Somit bleiben das Tun und die Worte gegenwärtig. Man kann es mit der Innenansicht eines Gebäudes vergleichen, die Schlüsse auf die Außenansicht zulässt. Die Außenansicht ist Teil der geformten Landschaft. Globale Veränderungen werden nach und nach erkannt, regionale rascher überblickt. Sie sind zahlenmäßig erfassbar.
Über 130 sorbisch-deutsche Orte und Ortsteile sind in circa hundert Jahren verschwunden. Nicht durch Katastrophen oder Kriege, aber auch durch die Gier nach Reichtum: Braunkohle, Lehm, Gold, Granit, Kupfer, Blei, Silber, Bronze … . Zuviel des Sieglungsgebietes eines kleinen Volkes, ohnmächtig gemacht durch die Politik. Auch hier Muster, die sich anderswo wiederholen. Fragt man nach den Folgen, erkennt man sie unschwer in einer gemachten Seenlandschaft mit viel Unterholz und Wölfen. Hin und wieder geraten die durch Menschenhand befestigten Halden ins rutschen. Dann bricht ein Teil des sichtbaren Äußeren ab. Wie viel kann der Mensch im Nachhinein beeinflussen? Die Urlaubsgegend bleibt unberechenbar, mit allem, was sie mitnimmt.
Das Gewachsene an Muttererde, die Sande und Kiese, das Liegende und das Hangende an Bodenschätzen, das im Querschnitt des Abgetragenen sichtbar wurde, ist so nicht mehr zu verfestigen. Das betrifft auch die Sprache der umgesiedelten Menschen.
Freilich, die Staatssprache bleibt und Dach, Bett und Nahrung haben sie auch. Was Not tut, ist eine Stütze, ein Ort, an dem Erfahrungen aufgehoben sind. Spuren bilden das Gedächtnis. Verlässt man sich auf sie, geht man gestärkt ins Offne. Wenn man nach der Klinke greift, sind die Gedanken schon draußen.
Auf Augenhöhe signalisiert ein Schild: Türe zu! Lass ich mich durch die rüde Aufforderung abschrecken und öffne die Tür nicht, bleib ich dem Inneren der momentanen Gegenwart verhaftet, behaftet mit Vergangenen finde ich nicht ins Morgen.
Ich ignoriere also das Schild, klinke die Tür auf, stemme mich gegen das Holz und die Tür öffnet sich. Die Helligkeit macht mich blinzeln. Dann trete ich über die Schwelle. Lass die Aufforderung auf dem Schild hinter mir und im Luftzug der alten Tür.
Róža Domašcyna
| spisowaćelka, Budyšin
W durjach stać
mysle na zakładźe někotrych dźěłow we wustajeńcy »awtochtone«, frotaže, wideja a instalacije wot Susanne Krell w Serbskim muzeju w Budyšinje
Slědy byća su zapisane do wěcow, namakanki za generacije. Domjace su rostliny a zwěrjata. Tež čłowjek. Prěnjotna přisłušnosć ma ze samozrozumliwosću činić.
Tamle su ćežke drjewjane durje, kiž wočiniš, hdyž so wo nje zeprěješ. A hdyž so pomału wotwěraja, signalizuje mi taflička, kiž je na wyšinje woči přičinjena: začiń durje. Prajenje, kaž zo by so dźěsću rjekło. Ale prjedy hač móžu durje začinić, mam je najprjedy wočinić a přez próh zastupić. Nutřka chowa so potajnstwo, za kotrymž pytam.
Bjeru-li po słowje pokiw: durje začinić, stupju wróćo, dam powočinjenym durjam zaprasnyć a wostanu wonka. Wčipnosć na to za durjemi, je wjetša. Zastupju a ignoruju tafličku. Najprjedy ničo njewidźu. – A spóznaju čerwjenu swěcu. Signal za kedźbliwosć. Je to wěčna swěca? Abo čerwjeń neonoweje rołki? Abo sym drje so podała na puć, kiž wjedźe přez ćěmnu chódbu, prjedy hač mi zaswita?
Kedźbliwje stupju prěnju kročel, du na swěcu, domasam so sćěny, škropawosćow, wotpřimanych městnow, so drjebjatych strukturow, wótrych kóncow. Je tule něšto rozbuchnyło, drje před krótkim? Spóznaju koče slěbro w zornowcu. We łužiskim zornowcu. A pólne kamjenje, błudźenki. Material, z kotrehož su hrodźišća, wobhrodźenja, cyrkwje a domske. Moje ćěło je k dótknjenju blisko, mjez murju a kožu jenož ćeńki rubjany płat. Dopominam so na chłódnosć, kotruž sej w lěću witach, a kak so w zymje wot sćěny stupić spytach. Druhdy so kamjeń poći, bjerje wodu ze zemje.
Rubjany płat, bałmina – hdyž ludźo mjelča, rozlehnje so w połnej cyrkwi abo koncertnej hali z knyskotom płatu a płachćički majkot židy po lakěrowanej ławce. A dale klepot čriji na kamjentnej dłóžbje, dyr knihi a parličkow šćerk róžowca. K tomu přińdu mustry w tkaninach, z ćopłotu ćěła na kamjeń přitłóčene abo do mjechkeho drjewa sadźene. Mustry róži a łopjenow. Ćernjate pletły. Ze so wotměnjatymi ludźimi so nowe přidadźa a so překrywaja.
Runje tak ma so to ze słowami. Wone noša dopomnjenje we sebi. A hdyž so wupraja, je to tež zasopowědanje, drje zasospěwanje. A kelko rytma spěwa wobchowa so w rumnosćach jako přeprošenje za přichodnych, za slědowace generacije! Za čas jutrowneje Božeje mšě, hdyž je cyrkej kopata połna, dycha rum w interwalach spěwanja tak sylnje, zo so přitomnosć a přichod zjednoćitej. Zwuk hłosow předrěje so přez murje won. Wozmje so sobu do swětłeho dnja, do jutřišeho a zajutřišeho. Nastork k wospjet spěwanju. Z tym stej čiń a słowo přeco přitomnosć. To hodźi so z nutřkownym napohladom twarjenja přirunać, kiž tež wo jeho zwonkow nosći swědči. Zwonkowny napohlad je dźěl potom formowaneje krajiny. Globalne změny su hakle po času spóznać, regionalne dódniš bórze a hodźa so z ličbami potwjerdźić.
Wjace hač 130 serbsko-němskich wsow a wjeskow su so w běhu sto lět zhubili. Nic přez katastrofy abo wójny, ale tež přez požadliwosć za bohatstwom: brunicu, hlinu, złoto, zornowc, kopor, wołoj, slěbro, mjedź … Přewjele sydlenskeho ruma małeho ludu, bjezmócneho přez politiku. Mustry namocy, kotrež podobne druhdźe nańdźeš. Hdyž so za sćěhami prašeš, spóznaješ je w dźěłanej krajinje jězorow z wjele podlěsom a wjelkami. Hdys a hdys so wot čłowjeka skrućene nasypy tež sunu. Potom złama so a spadnje dźěl widźomneje zwonkownosće. Kelko zamóže čłowjek sporjedźić? Dowolowa kónčina wostanje njewobličomna, ze wšěm, štož sobu wozmje.
Pěski a šćerki, pjeršć, woršty a žiły zemskich składow, wšo, štož bywa w přerězu zemje widźomne, so tajke po wurywje hižo skrućić njeda. To nastupa tež rěč přesydlenych ludźi.
Wězo, statna rěč je wostała, a třěchu, łožo a jědź tež maja. Štož je trěbne, je zepěra, kotraž će dźerži. Hdźe wostanje městno, hdźež su nazhonjenja zhromadźene? Slědy tworja pomjatk. Spušćiš-li so na nje, wuńdźeš posylnjeny do swětła swěta. Hdyž přimnješ ručicu, su mysle hižo wonka.
Na wyšinje woči je taflička přičinjena: Türe zu! Dam-li so wot tajkeje namołwy wottrašić a durje njewočinju, wostanu w momentanej přitomnosći tčacy, kiž zašłosć we sebi dźerži. Hdyž chcu so do jutřišeho dóstać, mam jednać.
Potajkim ignoruju tafličku, stłóču ručicu a zeprěju so wo drjewo: durje so wočinja. Ja pomiknu do swěta swětła. Stupju přez próh. Dam so napominać w přewěwje starych duri.
was bleibt: Text zur Ausstellung 2011
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Dr. Renate Petzinger
| ehemalige stellvertretende Direktorin Museum Wiesbaden
was bleibt
Text zur Ausstellung
Galerie zeit & ort Glees bei Maria Laach 14.05. – 13.06.2011
Unseren
gemeinsamen Spaziergang durch diese Ausstellung beginne ich mit einem
Zitat aus einem der Kataloge, die Susanne Krell mir für die
Vorbereitung meiner heutigen Ansprache zukommen lies.Die
Dokumentation von Krells attigit.projekt wird eingeleitet
durch ein Grußwort der ehemaligen Bundesbeauftragten für
Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Maria
Böhmer. Dort heißt es:
Kultur
und Religion sind wesentliche Grundlagen unseres Zusammenlebens.
Gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln verbinden Menschen.
Unterschiedliche kulturelle und religiöse Herkunft und
Zugehörigkeit können gleichzeitig eine Barriere zwischen
Menschen bilden. Mit den Mitteln der Kunst und auf dem Weg des
Dialogs überwinden wir das Trennende zwischen Kulturen und
Religionen.
Susanne Krell ist eine Künstlerin und Philosophin, die sich in ihren
Arbeiten intensiv mit den verschiedenen Weltkulturen beschäftigt.
Die
Titel ihrer Arbeiten nehmen uns mit auf eine Reise von der Eifel bis
hinunter zum Rhein und von da nach Frankreich, Großbritannien,
Polen, Ungarn, Italien und Griechenland, nach Israel und nach
Ägypten, nach Russland, Indien, China und nach Nordamerika –
um nur einige der wichtigsten Stationen zu benennen. Krells
Auseinandersetzung mit fremden Kulturen mündet in dem Wunsch,
die Räume und der Orte, die sie besucht, „zu
vergegenwärtigen“, wie es in der Einladung heißt,
eine Spur von ihnen zu sichern und diese an einen anderen Ort zu
bringen.
Vor
etwa zwanzig Jahren hat sie dafür ein ganz besonders geeignetes
Medium für sich entdeckt: Die Frottage. Es handelt sich dabei um
eine Abriebtechnik, die der eine oder die andere von Ihnen vielleicht
noch aus der Kindheit kennen:Über
eine Münze legten wir ein Stück Papier, fixierten es mit
kleinen Klebestreifen und schraffierten mit dem sanften Druck eines
weichen Bleistifts Linien über die Oberfläche. Wie durch
ein Wunder erschien das Abbild der Münzoberfläche
originalgetreu auf unserem Blatt. Vor
allem in England wurde diese Abriebtechnik über Jahrhunderte
hinweg gepflegt. Bis zur Erfindung der Fotografie wurden damit vor
allem Figuren wieder- gegeben, die zuvor in Metall graviert worden
waren. In
die Kunst eingeführt hat diese Technik später Max Ernst,
der darin eine bildliche Entsprechung der „écriture
automatique“ der französischen Surrealisten sah und der
gesagt haben soll:
Frottage
ist nichts anderes als ein technisches Mittel, um die
halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes zu steigern, damit
Visionen sich automatisch einstellen, ein Mittel, sich seiner
Blindheit zu entledigen.
Susanne
Krell entdeckte die Technik der Frottage für sich zu Beginn der
1990er Jahre. Schnell erkannte sie die von Max Ernst angesprochene Vielfalt der Gedanken
und Ideen, die durch diese Technik freigesetzt wird. Es
gab für sie aber noch einen weiteren Grund dafür, die
Frottage über Jahrzehnte hinweg zu ihrem bevorzugten Medium zu
machen. Es
ist dies die Tradition des
nicht von Menschenhand gemachten
Bildes
, wie sie in der Legende von Schweißtuch der Heiligen
Veronika überliefert ist und wie sie – völlig
jenseits der Frage eines möglichen Wahrheitsgehalts – auch
in anderen Kulturen als Angebot zur Begegnung mit dem Authentischen,
also mit dem Original eines zeitlich oder räumlich weit
entfernten Objekts religiöser Verehrung besteht.
Der
Veronika-Legende zufolge wollte die fromme Frau aus dem Umfeld von
Jesus eigentlich einen Maler beauftragen, ihr ein Bild des verehrten
Meisters zu fertigen, denn der sollte bei ihr sein, auch wenn er als
Prediger unterwegs war. Unterwegs
traf Veronika sie auf Jesus selbst, der von ihr ein Schweißtuch
erbat, um damit sein Gesicht zu trocknen. Er gab ihr das Tuch zurück
und sie entdeckte darauf ein Bildnis ihres Herrn wie es authentischer
nicht hätte sein können.
Eine
Vera Ikon, deren Strahlkraft über die Jahrhunderte
hinweg zur Inspirationsquelle für zahlreiche Künstlerinnen
und Künstler geworden ist.
Es
ist die Verbindung zwischen der Authentizität tatsächlicher
Spuren und der Freiheit zum Einbau eigener Ideen, die Krell am Medium
der Frottage ganz offensichtlich fasziniert und sie dazu veranlasst
hat, im Laufe von zwei Jahrzehnten ein Archiv von vielen Hunderten
solcher Arbeiten ganz unterschiedlicher Herkunft anzulegen. Dazu
präpariert sie ihr Trägermaterial, meistens Leinwand, in
mehreren Schichten mit aufgeschwemmten Pigmenten oder mit Acryl –
grau, schwarz oder farbig – und befestigt es dann auf Steinen,
Mauern, Stufen, Böden oder anderen geschichtlich aufgeladenen
Orten. Anschließend
reibt Krell mit Graphit oder farbiger Kreide die Strukturen der
ausgewählten Oberflächen in das Tuch hinein, verschiebt
letzteres zwischen mehreren Farbaufträgen jedes mal um einige
Zentimeter und erhält so ein unverwechselbares und authentisches
Dokument mit den Spuren des Ortes seiner Entstehung.Über
die Jahre wurde diese Technik von ihr mehr und mehr verfeinert. Die
anfänglich in schwarz/weiß gehaltenen Arbeiten wurden
farbig.
Sowohl
die Grundierung mit Acryl als auch der Einsatz von Farbkreiden im
Frottagevorgang selbst mündet manchmal in sehr intensiven
Farberlebnissen, wie z.B. der blau-gelb-grünen Serie mit dem
Titel Sammlung.Andere
Arbeiten werden collageartig ergänzt um kleine Fotodrucke mit
Abbildungen der Originalorte oder sind Teil einer Videoinstallation.
Spannend
im Sinne des eingangs erwähnten Dialogs der Kulturen ist die
Beobachtung, dass alle Frottagen einen Grad von Abstraktion besitzen,
der die bildhafte Zuordnung zum Entstehungsort nicht mehr erlaubt.
Ohne
Zusatzinformation wissen wir also nicht, ob eine Arbeit die Spur des
Obelisken auf der Piazza del Popolo in Rom trägt, oder diejenige
der Kremlmauer in Moskau, ob sie von der River Kwai Bridge in
Thailand stammt oder vom Muhammed Ali Museum in Kairo. Es
ist insofern, als verweise diese Ähnlichkeit der abstrakten
Frottagen untereinander auf das Verbindende, was das Menschendasein
seit jeher in allen Kulturen ausmacht:
Wir
werden geboren und wir sterben, wir lieben, wir kleiden uns und wir
essen, wir entwickeln Ideen und Rituale und wir gehen sorgsam mit
unseren Schätzen um, indem wir ihnen kostbare Behältnisse
widmen.
Dies alles und noch viel mehr eint uns über den ganzen Erdball
und es sind eigentlich die Ausnahmefälle, die diese Einheit
durch Hass und Gewalt zerstören – erneut und leider
kulturübergreifend.
Über
ihre Arbeitsweise schreibt Krell: Eine Frottage von einem Ort
erstellen heißt, eine Idee, ein (Ideen-)Gebäude berühren
und durch eine Durchreibung die jeweilige Struktur festzuhalten.
Frottagen repräsentieren für mich jene Ordnungen,
Regelwerke und Ideen, für die das jeweilige Gebäude steht.
Seit
ihren ersten Frottagen, die bei einem Besuch der prähistorischen
Steinalleen und Dolmen in Carnac in der Bretagne entstanden sind,
hat Krell fast die ganze Welt bereist und bleibende Spuren der von
ihr bereisten Orte in ihr Sammlungsarchiv integriert.
In
der heutigen Ausstellung zeigt sie uns einige neue Arbeiten, die
teilweise ganz in der Nähe realisiert worden sind:
- kleine Tücher auf Nessel, entstanden an verschiedenen Orten der
Eifel und am Kölner Dom
- eine mittelgroße s/w-Frottage aus Maria Laach, die in Dialog
tritt zum Moskauer Kaufhaus GUM, zum Armenischen Friedhof Istanbul,
dem Palazzo Vendrami aus Venedig und vier weiteren Arbeiten aus
Krakau, Kairo, Ascona und London,
- drei weitere Farbfrottagen aus Maria Laach, darunter eine
Foto-Frottage,
- Farbfrottagen vom Rolandsbogen in Remagen und dem Frauenkloster
Nonnenwerth,
- Foto-Frottagen der Bruder Klaus Kapelle in Wachendorf, der Görresburg
in Nettesheim und von Schloss Bürresheim sowie
- Einige Arbeiten aus dem Projekt „Bonner Geschichte“.
Bevor
ich Sie nun einlade, sich den Dialog dieser Arbeiten mit Werken, die
entstanden sind in Paris, Long Island, Siena, Jerusalem, Brasilien,
Indien und China anzusehen und den dabei in Ihnen aufkommenden
Gedanken und Ideen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der
Kulturen nachzuspüren, möchte ich ganz kurz noch einmal auf
das Projekt „attigit“ eingehen, aus dessen Dokumentation
ich eingangs kurz zitiert habe.
Im
Juli 2003 realisierte Krell eine Abnahme am St. Petersdom in Rom,
einem Zentrum des Christentums. Kurze
Zeit später erhält sie die Gelegenheit zu einer Reise nach
Kairo. Sie beschließt, den Petersdom dorthin mitzunehmen und
an der Al Azhar-Moschee in Kairo einen Kontakt herzustellen.Angetan
mit einem Kopftuch und mit der Unterstützung eines Helfers kommt
es zu folgender Zeremonie: Krell
hängt den Petersdom – genauer gesagt: dessen Frottage –
an die Außenwand der Moschee. Zwei Religionen treten
metaphorisch zueinander in Berührung. Daher
auch der Name des Projekts: attigit, lateinisch: hat berührt,
ein begriff aus der Pilgersprache, mit dem seit dem 14. Jahrhundert
einem Pilgerzeichen bestätigt wurde, dass es zu einer physischen
Berührung des Pilgerzeichens mit einer Reliquie oder einem
anderen Heiligtum gekommen war. Doch
zurück nach Kairo:
Dicht
neben der an die Moschee gehängten Frottage des Petersdoms
entsteht nun eine zweite Frottage, ein Abdruck der Moschee. Beide
reisen in derselben Transportrolle gemeinsam zurück nach
Deutschland.
Nun
fehlt noch die Begegnung mit der dritten der drei monotheistischen
Religionen, mit dem Judentum. Stattfinden soll diese Begegnung an der
Klagemauer in Jerusalem.
Die
Frottage der Al Azhar-Moschee im Gepäck, reist Krell nach
Jerusalem, trifft sich mit einem Rabbiner, drängt sich in den
Kreis der Betenden und hängt die Frottage der Moschee an die
Klagemauer. Mit klopfendem Herzen fertigt sie anschließend eine
Frottage der Klagemauer selbst. Die
wiederum reist mit ihr wenig später – wir schreiben
inzwischen das Jahr 2006 – nach Rom, zum Ausgangspunkt des
Projekts, wo sie die Unterstützung eines Paters dabei
erhält, die Frottage der Klagemauer an die Fundamente der
Konstantinischen Basilika, ganz in der Nähe des vermuteten
Petrusgrabs, zu hängen. Der Pater betet.attigit.
Hat berührt.
Der
Petersdom berührt die Al Azhar-Moschee in Kairo, diese wiederum
berührt die Klagemauer in Jerusalem, diese wiederum den
Petersdom in Rom. Nur
drei Frottagen von Susanne Krell haben diesen Prozess der
Wiederholung einer alten Pilgerzeremonie mitgemacht, aber diese drei
Frottagen stehen für eine ganz besondere Form der
Auseinandersetzung mit dem Ideenpotential dieses Berühr-Mediums,
auf das schon Max Ernst im eingangs zitierten Statement hinwies.
Lassen
nun auch Sie, liebe Besucher der heutigen Ausstellung, sich von der
Gedankenwelt, die die Betrachtung von Krells Frottagen in Ihnen
auslöst, inspirieren und folgen Sie an diesem schönen
Nachmittag im Mai den Spuren, die Susanne Krell aus der Region, aber
auch aus der ganzen Welt hier für Sie zusammengetragen hat.
im Gespräch mit Susanne Krell, in: 9|11 - siebenundfünfzig andere Möglichkeiten Kat. Hardtberg Kultur e.V. 2010
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Petra Thorand
| M.A., Kunsthistorikerin
Dr. Christoph Schreier
| stellvertretender Direktor Kunstmuseum Bonn
Susanne Krell im Gespräch mit Petra Thorand und Christoph Schreier
in:
9|11 - siebenundfünfzig andere Möglichkeiten Kat. Hardtberg Kultur e.V. 2010
Petra Thorand
Das Kulturzentrum ist ja ein ziemlich spezieller Saal. War Ihr erster Gedanke, als Sie Ihre Raumarbeit entwickelt haben, „Aha ich mache das mit Rahmen an der Wand“ oder hatten Sie sofort schon andere Ideen dazu?
Susanne Krell:
Für mich war der Raum sehr interessant. Ich kenne diesen Raum ja schon seit Längerem und wunderbar ist darin dieses Gewölbe, dieser Blick nach oben in diese offene Dachsituation hinein. Und ich dachte sofort, es muss etwas da sein, das in die Höhe geht, wo man im Raum steht und auch nach oben schaut. Ein Blickfang nach oben also. Das war der eine Gedanke erst einmal ganz vage und zum Zweiten war dann interessant, dass ja der 11. September war, also 9/11. Und schon daher war natürlich ein Kommentar zu diesem Datum unerlässlich.
Das waren die ersten zwei Gedanken, die ich zu diesem Projekt hatte. Dann hatten wir lange Diskussionen, in wie weit meine Frottagen, also meine Sammlung von Orten aus aller Welt, nun in diesen Zusammenhang gebracht werden können. Ich hatte mehrere Entwürfe durchgespielt und entstanden ist dann Folgendes: Auf der linken Seitenwand ist ein Teppich aus Frottagen, also aus Spuren von Orten, entstanden. 57 Orte habe ich aus meiner Sammlung ausgewählt. 57 Orte, die, wie ich sage – das Wort gefällt mir nicht so ganz – Aggressionspotenzial haben. Orte also, die sehr politisch aufgeladen sind wie die Mauer in Berlin, die Kreml Mauer und Denkmäler von Schlachten. Orte, die eine sehr politische Kraft haben. Diese sind also auf ein sehr festes Transparentpapier gedruckt worden und sind jetzt als Teppich an der Wand angebracht. Der Teppich ist knapp 10 Meter lang und hat keine geschlossene, sondern eine offene Form. Er ist nach allen Seiten offen, so dass theoretisch weitere Ideenkonzepte dazukommen könnten. Dazu sind Flächen in der Mitte freigelassen, so dass auch da etwas eingesetzt werden könnte. Der zweite Teil der Arbeit ist dann ein Flieger, ein ganz harmloses Papierflugzeug. Dieses hängt in diesem wunderbaren Gewölbe und besteht ebenso aus diesen Frottagen, aus Orten aus aller Welt, beidseitig bedruckt. Eigentlich ist es ein harmloses Kinderspielzeug, das durch die Aufnahmen von Orten eine ganz andere Kraft bekommt. Unter dem Flugzeug steht eine Lichtsäule und auf deren Grund der Originalabrieb vom Ground Zero. Dazu Geräusche eines anfliegenden Flugzeugs, die plötzlich abbrechen. Da gibt es verschiedene Variationen.
Christoph Schreier:
Wie hat die Arbeit in dem Raum auf die Besucher gewirkt? Es ist ja eine Markierung eines Ortes durch andere Orte. Wie haben die Besucher das wahrgenommen?
Susanne Krell:
Es war sehr interessant. Sie haben zu erst einmal diesen Teppich betrachtet auf dem Flächen markiert waren und es gab ein kleines Buch dazu, indem man dann sehen konnte, welche Nummer zu welchem Ort gehört. Die Besucher sind erst einmal herumgegangen und haben sich alles angeschaut und dann kamen Fragen. Sie haben diese Orte gesehen, haben diese Frottage vom Ground Zero und die auf dem Flieger in Zusammenhang gebracht. Und ich habe eigentlich immer wieder eine ganz tiefe Berührung bemerkt. Es war ein prozesshaftes Herangehen, es musste klargemacht werden, worum es geht und was es ist. Und wenn das stattgefunden hat, war das wirklich ein sehr berührender Augenblick, den ich dann immer wieder erlebt habe.
Petra Thorand:
Ich hatte ja im Rathaus auch kurz ein bisschen zu der Arbeit erzählt, ohne aber alles preiszugeben. Ich wollte die Leute ja auch neugierig machen, damit sie hingehen und es sich anschauen. Aber man merkte schon an den Gesichtern, als ich dieses 9/11 genannt habe, dass es irgendwie „klick“ machte in ihnen, nach dem Motto „Aha, was passiert da wohl?“. Ich habe natürlich auch nicht alle Besucher gesehen, aber hinterher einige und es war schon ganz interessant, vor allem dann an diesem Abend, weil es draußen dunkel war.
Christoph Schreier:
Ich glaube, dies ist bei Ihrer Arbeit auch ein entscheidender Punkt, denn wenn man ganz unvorbereitet in diesen Raum kommt und man sieht diese Frottagen, dann könnte man ja annehmen, dass es eine formale Struktur ist die da exemplifiziert wird, teils seriell, teils kompositionell. Dann kommt aber diese inhaltliche Ebene rein, denn formal betrachtet könnten es Schraffuren und Frottagen von allen möglichen Orten sein, man muss also diese sprachliche, indexalische Aufladung haben, durch die man weiß „Aha, das ist jetzt zum Beispiel ein nationalsozialistisches Kriegsdenkmal in München oder irgendwelche anderen ‚nationalsozialistischen Weihestätten’.“. Man muss das schon wissen und dann lädt man mit diesem Wissen die eigene Erfahrung im Hinblick auf diese Frottagen auf. So funktioniert das wahrscheinlich, oder?
Susanne Krell:
Ich sage ja gerne, wenn ich diese Frottagen als Einzelstücke, als Bilder ausstelle, dass es keine Bilder sind. Dass es zwar Situationen sind, die einen ästhetischen Reiz haben, unter deren Oberfläche aber auch etwas steckt. Das ist mir ja ganz wichtig. Das Bild ist zwar eine Oberfläche, aber mit diesem Abrieb, mit diesen Frottagen wird ja ein Ideenkonzept aufgenommen, als Fingerabdruck, als ganz eigenartige Spur von diesem Ort. Es gibt ganz verschieden Zugänge. Wenn man in diesen Raum hineinkam, war die eine Seite erleuchtet – man kann diesen Teppich ja auch von der ästhetischen Seite auf sich wirken lassen. Aber dann kommt dieses Flugzeuggeräusch dazu und das ist ja dann schon eine Irritation die nicht zu diesem „schönen“ Anblick passt. Aus den einzelnen Elementen, den Frottagen, dem Flieger und der Leuchtsäule, ergeben sich doch Fragen. Die können dann mit dem Text beantwortet werden.
Petra Thorand:
Ohne den Text berührt es die Besucher aber auch, weil sie denken „Ich war da und da schon gewesen. Ich fliege da immer einfach so hin. Aber im Prinzip könnte mir ja so etwas auch genauso gut passieren.“. Das ging mir dann durch den Kopf, als ich die Geräusche dazu hörte, den Flieger und die Orte darauf sah, von denen man dann weiß „Ach und dieser Flieger bringt mich jetzt da und da hin.“ und dann wiederum an der Wand die Orte noch einmal und dann dieses Wissen „Er hätte auch genauso gut darein fliegen können und ich hätte auch darin sitzen können.“. Ich denke es ist eine recht emotionale Arbeit.
Christoph Schreier:
Nun kollidiert ja dieses hochemotionale Thema mit diesem Papierflieger und da denkt man natürlich erst einmal an die eigene Kindheit, an Kinderspiele. Fürchten Sie da nicht auch eine Verharmlosung?
Susanne Krell:
Ich habe lange überlegt, in welcher Art und Weise dieser Flieger auftreten sollte und auch da sind mehrere Modelle durchgespielt worden. Aber ich dachte in dieser Harmlosigkeit als Kinderspielzeug hat er eine besondere Kraft. Wenn der Betrachter merkt, dass es eben nicht nur dieses Kinderspielzeug ist, sondern dort auch diese Orte sind. Dann bekommt der Flieger ja eine ganz andere Aufladung. Für mich bedeuten diese Orte ja Ideenkonzepte, Regeln, nach denen wir Menschen uns verständigen. Diese Situation weist ja nun auf eine Situation hin, in der diese Regelkonzepte nicht beachtet wurden. Und das lernt man ja schon in der Kindheit zu beachten – oder auch nicht. Von daher dachte ich, ein Spiel zwischen Regeln einhalten und nicht wäre interessant.
Petra Thorand:
Durch dieses Motorengeräusch hat man eigentlich aber auch nicht mehr das Gefühl von Spielzeug, sondern dadurch wird es sehr real. Wenn man in den Raum hereinkam und dieses Geräusch auf sich zukommen hörte – es war ja erst leise und harmlos im Hintergrund und wurde dann immer lauter und heftiger – dann kam man schon in die Situation, dass man dachte „Oh“.
Christoph Schreier:
Sie haben diese faksimilierten Frottagen vernäht wie eine Art Leichentuch, das sich über die eine Wand des Raumes gelegt hat.
Susanne Krell:
Auch da hat es viele Materialproben gegeben. Entschieden habe ich mich dann für ein festes Transparentpapier. Die nächste Frage war dann, ob man klebt, zusammenheftet oder was auch immer und da habe ich mich für das Nähen entschieden. Beim Nähen werden Fäden ineinander verwoben und das erschien mir als ein Bild für die Verwobenheit aller Ideen auf der Welt dann doch für diese Arbeit die stimmigste Vorgehensweise.
Christoph Schreier:
Aller Ideen oder auch aller Schicksale?
Susanne Krell:
Auch. Das hängt ja zusammen.
Petra Thorand:
Gab es eine bestimmte Reihenfolge für die Orte?
Susanne Krell:
Nein. Ich habe eine sehr große Sammlung von Orten, mittlerweile knapp 300. Ich habe Orte ausgewählt, die eben eine politische Bedeutung haben. Angeordnet habe ich sie dann nach ästhetischen Punkten. Da gab es keinen theoretischen Hintergrund mehr.
Christoph Schreier:
Wahrscheinlich gibt es keinen Ort auf der Welt, der nicht in diesem Sinne blutgetränkt ist, oder? Man weiß es bloß nicht.
Susanne Krell:
Ja. Das denke ich auch. Ich begann dann immer über diese Konzepte nachzudenken. Jeder Ort hat seine Geschichte, sein Symbol für ein Geschehen. Es kann ein friedlicher Ort sein, aber das ist nicht immer der Fall. Es gibt ja immer mindestens zwei Seiten. In dem Zusammenhang habe ich auch noch ein schönes Zitat von Ernst Bloch: „Architektur ist ein Produktionsversuch von Heimat“. Das hat mir in diesem Zusammenhang gut gefallen. Der Mensch vor Ort, als Suchender in einer Situation, der dann versucht, über diesen Ort eine Heimat zu produzieren. Das finde ich bei meinen Spurenaufnahmen auch immer einen ganz wichtigen Punkt. Wir alle haben unseren Ort, unsere Regeln, unsere Heimat und hin und wieder knallen diese Dinge aufeinander und dann sind sie nicht mehr friedlich.
Petra Thorand:
Sie sammeln ja insofern nicht nur Orte, sondern auch Geschichte. Vergangenes wird dadurch ja auch wieder in die Gegenwart transportiert. Was war denn zuerst für ein Gedanke da, als Sie mit diesen Frottagen angefangen haben?
Susanne Krell:
Entstanden ist dieser Gedanke ja in Carnac in der Bretagne, bei diesen steinzeitlichen Anlagen, den Dolmen und Menhiren. Ich war vor Ort und empfand eine ganz große Kraft, eine Energie, eine Situation, in der ich gedacht habe „Ich möchte etwas mitnehmen von diesem Ort, von dieser Energie die ich da spüre.“. Fotografie, Zeichnung, Aquarell, das was man gern tut, um so einen Ort abzubilden, das erschien mir nicht passend für das, was ich dort empfunden habe. Ich war dort und habe nichts mitgenommen. Mir fiel nichts ein, was ich hätte mitnehmen können, ohne den Ort zu zerstören. Dann bin ich nach zwei Jahren wieder hingefahren und habe wieder gedacht „Was nehme ich mit?“. Und irgendwann kam dann diese Idee, Papier auf den Stein aufzulegen und darüber zu reiben. Somit hatte ich einzigartige Spuren und damit auch das Konzept, die Idee des Ortes. Die Geschichte die dahinter steht, das was hinter der Oberfläche liegt. Das war der Ausgangspunkt dieser ganzen Sammlungen.
Christoph Schreier:
Ist es aber nicht immer auch zugleich ein Scheitern, wenn das, was ich da quasi als Abrieb mitnehme, irgendwie auch wieder nicht Geschichte ist? Das Nachdenken darüber mobilisiert zwar vielleicht in unseren Köpfen, aber ich meine, es wäre etwas anderes, wenn ich eine Wand mit irgendwelchen Einschüssen aus dem Krieg abschraffieren würde. Dann hätte ich diese Markierungen der Kugeln. Das wäre eine unmittelbare Referenz, aber wenn ich jetzt diese Schraffuren sehe, dann finde ich, spielt ja irgendwie immer das künstlerische Scheitern auch eine Rolle. Dass man etwas dupliziert, aber man kann es ja dann doch nur bedingt mitnehmen. Geschichte entsteht ja nicht dadurch, dass ich diesen Abrieb darstelle, sondern dadurch, dass ich weiß, dass es dieser Ort ist und dann beginnt im Kopf die Arbeit. Das ist ja eigentlich weniger eine künstlerisch abbildende Arbeit als eine konzeptuelle Arbeit.
Susanne Krell:
Das ist eine ganz konkrete Abbildung von einem Ort, konkreter geht es glaub ich nicht. Aber, wie bei jedem Bild, gehört eine Vorstellung dazu. Ein Bild provoziert ja auch immer die Vorstellung im Betrachter und wenn ich hier Bild und Ort habe, dann habe ich eine individuelle Vorstellung beim Betrachter. Es ging mir vor allem darum, nicht meine Ansicht zu zeigen. In Fotos zeige ich meinen Blickpunkt, mein Zugehen auf den Ort. Doch hier sage ich immer „Der Ort macht selbst ein Bild.“. Und habe ich den Namen des Ortes dazu, dann provoziere ich auch das innere Bild im Betrachter.
Petra Thorand:
Diese Mauern nehmen ja unheimlich viel auf in diesen hunderten von Jahren, die sie teilweise ja schon stehen. Berührungen von anderen Menschen, Staub, irgendwelche Sandkörner durch Saharawinde oder wie auch immer. Ganz viel. Und deswegen finde ich, hält so ein Stein, so eine Mauer in gewisser Weise auch die Geschichte fest. Klar setzt dann natürlich die Fantasie bei uns ein und man fragt sich, was hat dieser Stein denn eigentlich schon so alles erlebt? Mir geht es jedenfalls dann immer so. Auch, wenn ich alte Bäume sehe – wer hat da schon alles drunter gestanden oder gesessen? Genauso wie bei diesen Gebäuden – wer war da alles drin, wer hat davor gestanden, wer hat es angefasst, was hat sich da abgespielt?
Christoph Schreier:
Das ist eine Frage, die ich vorhin auch auf der Zunge hatte. Ist es übertragbar auf Bäume oder auf Gesichter, die ja auch eine Sammlung von Geschichte sind?
Susanne Krell:
Sicherlich, nur wenn ich beispielsweise Gesichter nehme, dann ist das ein begrenzter Zeitraum. Ich hatte in der Redoute einmal eine Arbeit zur Geschichte dieses Ortes. Da wurde mir klar, dass die Geschichte, dass das, was in diesem Raum stattgefunden hat, eigentlich nur die Mauern erlebt haben. Die waren dort, wir nicht. Gesichter aus dieser Zeit gibt es nicht mehr. Aber die Mauern, wenn man so will, die haben alles aufgenommen.
Christoph Schreier:
Das macht auch deutlich, dass wir gerade in alten Gebäuden auch immer nur Gäste sind. Wir leben darin eine Zeit lang, so wie Generationen vor uns in diesen Räumen gelebt haben. Aber ich glaube, in einem alten Haus zu leben, umgeben von solchen Gemäuern, die Geschichte in sich tragen, ist dann noch einmal etwas ganz anderes, als wenn man sich sein eigenes Haus errichtet. So ein Haus hat eine ganz andere Autonomie, wenn ich weiß, dass es 300 Jahre vor mir existiert hat und womöglich noch 300 Jahre nach mir existieren wird.
Susanne Krell:
Es braucht eine Energie, eine Sorgfalt, es braucht ein Umgehen damit. Gerade Carnac war mir so wichtig damals, weil der Ort seit tausenden von Jahren erhalten wird. Die Menschen haben ihn nicht zerstört. Irgendetwas muss dort passiert sein, irgendetwas muss dort sein, warum der Ort erhalten blieb. Es sind ja Dinge, die sich aus einer eigenen Kraft heraus entwickeln. Gebäude, da müssen sich Menschen zusammenfinden, es muss Energie da sein, eine Idee, ein Konzept. So etwas kann selten jemand alleine machen. Es muss etwas zusammenkommen an Kraft, damit etwas entsteht. Ich meine, mit meiner Technik etwas gefunden zu haben, was in der Lage ist, dies ein wenig abzubilden. Wenn man sich drauf einlassen will auf jeden Fall.
Christoph Schreier:
Was sind denn Ihre weiteren Projekte, wo wir gerade den Blick in die Zukunft werfen?
Susanne Krell:
Zurzeit läuft im Essener Kunstverein im Rahmen der Kulturhauptstadt eine Ausstellung zum Thema „Migration“. Dafür habe ich eine Arbeit mit dem Titel „ab wann bin ich deutsche?“ gemacht. Ich habe aus dem Essener Telefonbuch 9387 polnisch klingende Namen herausgesucht und habe diese auf einem Untergrund von 35 Essener Orten angebracht. Das Werk ist eine große Wandarbeit, auf der ich diese Frottagen säulenartig angeordnet und die Namen in eine Art Karteikartensystem gebracht habe. Der Gedanke war, dass zum Thema Migration ja häufig die augenblickliche Situation genannt wird, aber Migration gibt es in Deutschland ja schon seit unzähligen Jahren. 1786 starb Friedrich der Große und zu dieser Zeit waren 20% der Menschen im Preußischen Reich Kolonialisten. Wir haben also doch eine lange Geschichte. Und so habe ich mir eben ein Beispiel ausgewählt aus der jüngeren Geschichte. 100 Jahre alt ist nun die polnische Migration oder Integration, oder wie man dies nun politisch korrekt ausdrücken möchte. Dies war dann eben mein Bild dafür. Für das nächste Projekt bin ich zu einer großen Kunst- und Bauaktion der Universität in Meyen eingeladen.
Petra Thorand:
Wie wäre es da mit einer Frottage vom Kulturzentrum?
Susanne Krell:
Die gibt es von damals noch.
Christoph Schreier:
Also Sie sammeln weiter Ihre Orte? Als offenes Projekt?
Susanne Krell:
Es gibt diese Sammlung von schwarz-weiß Frottagen, die kontinuierlich fortgesetzt werden. Und dann habe ich ja auch noch diese … Sammlung, bei der ich alles auf den gleichen Untergrund setze und jetzt habe ich vor einiger Zeit angefangen, auf diesen Tüchern auch sehr farbige Arbeiten zu machen. Diese gibt es auch in großer Anzahl von Orten aus aller Welt. Es sind drei Bildarten die da entstehen. Und für so eine Situation versuche ich dann eben mit dem Ort, mit dem Thema, mit der Situation oder, wie hier für Essen, am Thema entlang eine Arbeit mit diesem Ort zu erstellen.
Christoph Schreier:
Gibt es denn einen Ort, den Sie unbedingt noch besuchen möchten?
Susanne Krell:
Ich war noch nicht in Australien, also da habe ich noch keinen Ort. Aber im Augenblick nein. Ich denke, ich bin ein Individuum unter vielen Milliarden, ich habe bestimmte Möglichkeiten irgendwo hin zu kommen und ich sammle das, was mir begegnet. Einzig damals bei diesem Atelierprojekt. Da habe ich versucht, nach Jerusalem zu kommen und dann später nach Rom. Das war das einzige Mal, dass ich gezielt Orte angesteuert habe. Weil es eben für diese Projekte wichtig war.
Christoph Schreier:
Sonst kommen die Orte eher auf Sie zu.
Susanne Krell:
Ich sammle, was auf mich zukommt, das ist korrekt. Ich überlege ja auch, ob ich da jetzt bestimmte Maßstäbe oder Prioritäten setzen soll, ob ich das entscheiden kann oder darf. Nein, das ist so eine Zurücknahme, die Arbeit selber ist ja auch die Spur selbst. Es ist also eine große Zurückhaltung auch in der Vorgehensweise. Wenn ich jetzt diese farbigen Arbeiten mache, dann ist es auch so, dass ich die Farben auftrage und sie schwimmend auftrage, so dass dieses Vermischen dann quasi ein Vorgang ist, der dann ja auch von der Farbe selbst bestimmt ist. Es ist immer ein Vorgehen, das auch von den äußeren Gegebenheiten bestimmt wird. Eben auch hier. Wo ich dann dachte „Es muss nach oben gehen, es muss einfach zum 11. September sein.“.
Petra Thorand:
Vielen Dank für das Gespräch.
Susanne Krell, in: Vorreiterin Gabriele-Münter-Preis 2010 Kat. BMFSF Berlin 2010
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Dr. Gabriele Uelsberg
| Direktorin LVR-LandesMuseum Bonn
Susanne Krell
in:
Vorreiterin Gabriele-Münter-Preis 2010 Kat. BMFSF Berlin 2010
Wer sich mit den zeitgenössischen Arbeiten von Susanne Krell auseinandersetzt, begibt sich mit ihr zugleich auf den Weg und die Reise einer Sichtbarmachung von Vergangenheit, Geschichte und Örtlichkeit, die in ganz besonderem Maße den Begriff der „Vergegenwärtigung“ plausibel macht. Die Künstlerin begibt sich auf die Suche nach den Spuren einer über die Aktualität hinaus gültigen Zeitlichkeit, die sie mittels Frottagetechnik auf Papier und Leinwände von Mauern, Gebäuden, Plätzen und Steinen abreibt. (...)
Die Aneignung von Ort und Zeit gelingt Susanne Krell immer wieder vor allen Dingen durch die Technik der Frottage. Diese Form des Abreibens einer Oberfläche ist nur auf den ersten Blick hin ein „Eingriff“ und enttarnt sich bei näherer Betrachtung als ein äußerst subtiler und respektvoller Umgang mit dem vorgefundenen Objekt der Auseinandersetzung. Susanne Krell hat selbst einmal die Bedeutung dieser Technik für ihre Arbeit wie folgt erklärt:
„Eine Frottage erstellen heißt eine Idee, ein Ideengebäude berühren. Frottagen repräsentieren für mich jene Ordnungen, Regelwerke und Ideen, für die das jeweilige Gebäude steht. Bei einem Besuch der prähistorischen Steinalleen und Dolmen in Carnac/ Bretagne vor einigen Jahren entstand nach langem Suchen nach der geeigneten Möglichkeit, etwas mitzunehmen von diesem Ort, ohne ihn zu zerstören, die Idee der Frottage als Sammlung einer Spur. Foto oder Zeichnung haben Distanz zum Gegenstand, nur die Frottage braucht diese distanzlose Berührung. Ein Prozess der Annäherung ist notwendig, das Vor-Ort-Sein ist Bedingung.“
Seit Jahren arbeitet Susanne Krell nun mit diesem so gewonnenen und immer noch wachsenden Archiv von Spuren und öffnet sich die Option im Atelier und unter den unterschiedlichen Installationsbedingungen von Ausstellung, Präsentation und Werkserien in einer Art und Weise befreit vom ursprünglichen Ort im Bewusstsein und in der Assoziation seiner Bedeutung und seiner Gewichtigkeit in immer wieder neuen Konstellationen und Verbindungen zu agieren. Gerade die Befreiung des Bildsymbols vom Ort macht es in seiner Nutzbarkeit unter künstlerischen Aspekten als Idee einer Vergangenheit zum tragfähigen Element einer neuen Konzeption und Verdichtung. Die Arbeiten und Werkserien, die Susanne Krell aus den so gewonnenen Bildmodulen entwickelt, sind allerdings nie als reines Zeichenmaterial miss zu verstehen, sondern sind in ihrer Bedeutung immer zugleich reine Bildwirkung und assoziative Kraft der Erinnerung. Aus diesen beiden Faktoren verdichtet Susanne Krell Gestaltungen, die sie zu neuen Bild- und Installationskonstellationen zusammenwirkt. Dabei verwebt sie in unterschiedlicher Wertigkeit den Ort, die Situation des Abriebs und die neue Vergesellschaftung mit anderen Bildelementen. In diesem Sinne sind alle Arbeiten von Susanne Krell „Vergegenwärtigungen“. Sie machen die Vergangenheit gegenwärtig und spiegeln sie im Kontext einer lebendigen Zeitgenossenschaft als die Präsenz einer immerwährenden Vergangenheit.
Die Wirkung der Orte, in: ORTE | Weiter Raum Susanne Krell Arbeiten in sakralen Räumen, Künstler Union Köln 2009
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Prälat Josef Sauerborn
| Erzbistum Köln
Die Wirkung der Orte
in:
ORTE | Weiter Raum Susanne Krell Arbeiten in sakralen Räumen, Künstler Union Köln 2009
Kann man Orte sammeln, Plätze, Kirchen? Es wird fotografiert, gefilmt, gezeichnet, gemalt; aber die Orte bleiben, wo sie sind. Das Foto, die Zeichnung repräsentieren, stellen dar. Mehr geht wohl nicht. Susanne Krell aber will mehr. Sie will den Ort nicht lassen, wo er ist. Orte, Plätze, Kirchen leben. Sie haben Geschichte und Geschichten, die Generationen überdauern, ihnen Identität und Gedächtnis geben. Solche Orte sucht Susanne Krell auf.
Die Begegnung mit dem Ort steht am Anfang und gehört unlösbar zum künstlerischen Prozess. Es ist ein Prozess im wahrsten Sinne des Wortes, ein Hingehen und Voranschreiten. Immer ist die Begegnung eine Berührung. Attigit heißt so auch eines ihrer großen Projekte: es hat angerührt. Susanne Krell ertastet Plätze, Mauern und Gebäude. Ein Ort hat mehr Leben, als man sieht, tiefere Dimensionen, als man flüchtig oder auch konzentriert wahrnehmen kann. Susanne Krell ist von einer Wirksamkeit der Dinge und Orte überzeugt, die den Nutzungs- und Materialwert übersteigt. Die Orte wirken auch jenseits der bewussten Wahrnehmung. Ihr Leben ist auch ein Eigenleben. Beschreibungen oder historische Untersuchungen reichen nicht, dieses Leben einzuholen. Die Kunst hat eigene Wege des Zugangs und eröffnet eine Begegnung, die nur so und nicht anders möglich ist.
Papier, Stoff oder Leinwand werden Gebäudeteilen und Platzsegmenten aufgelegt. Sie halten die Berührung fest, lassen Strukturen der Begegnung unmittelbar zurück. In der Frottage, der Berührung mit dem Papier, dem Stoff gehen die Orte mit, werden sie gesammelt. Objekte entstehen, die jene Tiefendimension in sich aufnehmen, die am Ursprungsort lebt. Der Ursprungsort weitet sich, teilt sich mit, geht auf eigentümliche Weise ein in die Struktur, die bei der Berührung zurückbleibt. Das Objekt bildet den Ort nicht ab, zeigt ihn nicht ablesbar. Das Objekt lebt den Ort, hat seine Wirksamkeit.
Die Ausstellung im Kölner Maternushaus ORTE / WEITER RAUM zeigt vom 8.10.09 bis zum 15.11.09 Arbeiten Susanne Krells, die aus dieser einzigartigen Begegnung mit Orten erwachsen sind.
Die vorliegende Publikation, die anlässlich der Ausstellung erscheint, widmet sich den Arbeiten der Künstlerin in Sakralräumen, einem Schwerpunkt ihres Schaffens. Susanne Krell stellt nicht in diesen Räumen aus. Sie arbeitet mit den Sakralräumen, spürt ihren unverwechselbaren Charakter auf und führt so zu neuen Begegnungen mit oft alt vertrauten Orten.
Der Sakralraum trägt seine besondere Wirksamkeit schon in seiner Bezeichnung, weist diese doch hin auf den nicht fasslichen Horizont des Überstiegs, der an jenem Ort vollzogen wird. Da sind die Steine, das Dach, der Boden mehr als nur, was man sehen und beschreiben kann. Die Arbeiten Susanne Krells haben so eine besondere Beziehung zu Sakralräumen. Was in der Bezeichnung solcher Orte zum Ausdruck kommt, liegt ihrem künstlerischen Schaffen zugrunde, Orte haben, auch wenn sie nicht heilig genannt werden, eine Identität und Wirksamkeit, die sprachlich nicht mehr vermittelt werden kann. In ihrer Kunst öffnet Susanne Krell einen einzigartigen Zugang zur Wirkung der Orte.
ORTE | Weiter Raum, in: ORTE | Weiter Raum Susanne Krell Arbeiten in sakralen Räumen, Künstler Union Köln 2009
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Dr. Guido Schlimbach
| Kunststation Sankt Peter Köln
ORTE | Weiter Raum
in:
ORTE | Weiter Raum Susanne Krell Arbeiten in sakralen Räumen, Künstler Union Köln 2009
Ein Blick in die Geschichte der Religionen lässt erkennen, dass nahezu allen religiösen Verzweigungen bestimmte Grundvollzüge eigen sind, die Religion offenbar ausmachen. Zu ihnen gehört neben den freilich sehr verschieden ausgeprägten Meditations- und Gebetsformen und der Einhaltung heiliger Zeiten und Feste auch die Bezeichnung besonderer heiliger Orte.
Die Vorstellung, Kirchen seien heilige Räume, scheint nahezu unumstößlich, obgleich hier katholischerseits eine andere Position vertreten wird als von protestantischer Seite. Bemerkenswert scheint, dass dem Kirchenraum besonders von jenen unter allen Umständen Heiligkeit zugeschrieben wird, die der Kirche als Glaubensgemeinschaft eher distanziert gegenüber stehen. So verwundert es nicht, wenn sich immer wieder Künstlerinnen und Künstlern von Kirchenräumen angezogen fühlen, besonders von solchen, in denen sich in ungebrochener Tradition Menschen zum Gottesdienst versammeln.
Viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler schätzen diese sakralen Räume als Orte, in denen Gläubige im Gebet Fragen stellen, nicht selten vor wunderbaren Bildern. Da dies hingegen in Museen, die ja inzwischen die Orte profaner Rituale geworden sind, weniger oder gar nicht geschieht, stellen sie ihre Kunst gerne in Kirchen aus, in denen aus ihrer Sicht die entscheidenden Fragen der Menschen gestellt werden.
Umgekehrt lässt auch nicht religiös motivierte Kunst Menschen den Geist des Ortes und die Geheimnisse des Glaubens nachhaltig erspüren. Kunstschaffende vermögen, was sie in der Religion zutiefst berührt, sichtbar zu machen und damit der Spiritualität des Ortes einen zusätzlichen Resonanzkörper zu geben. Leider scheuen sich die meisten Verantwortlichen oft, aktuelle Gegenwartskunst in den Gottesdienstraum Eingang finden zu lassen. Zu oft wird vermeintlicher Kirchenkunst und gut gemeintem Kunsthandwerk der Vorzug vor ernstzunehmenden Ansätzen der zeitgenössischen Kunst gegeben.
Susanne Krell spürt seit vielen Jahren mit ihren Rauminterventionen und Kunstprojekten der Spiritualität und dem Geschichtsreichtum sakraler Räume nach und eröffnet auf diese Weise einen weiten Raum, in dem sich kollektive und individuelle Erfahrungen berühren.
Ihr erstes derartiges Projekt realisierte die Künstlerin 1997 in der ehemaligen Prämonstratenserabtei Rommersdorf im heute zu Neuwied gehörenden Ort Heimbach-Weis. Das 1117 ursprünglich von Benediktinern gegründete Kloster wurde 1135 von dem neugegründeten Prämonstratenserorden übernommen und war bis zu seiner Auflösung im Zuge der Säkularisierung 1803 eine angesehene und wichtige Abtei, die danach mehr und mehr verfiel, so dass vor dem 1. Weltkrieg nur noch die Ruine der Klosterkirche bestand. Eine zu Beginn der siebziger Jahre gegründete Stiftung sorgte sich um die Wiedererrichtung oder Renovierung der Klosteranlage.
Im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz ersann Susanne Krell „...etwas zu Rommersdorf“ und setzte mit skulpturalen Eingriffen in das Schiff der inzwischen wieder eingedeckten Kirchenruine markante Akzente, um den Raum neu erfahren zu können. Eine 24 Meter lange mit Watte und Schaumstoff verkleidete blaue Holzbank stand in west-östlicher Richtung und ermöglichte den Besucherinnen und Besuchern, den ansonsten leeren und unwirtlichen Raum nun in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Der Blick richtete sich allerdings nicht auf den Chorraum, sondern auf die südliche und nördliche Außenwand. Eine Öffnung, die im Laufe der Zeit in den Kirchenmauern entstanden war, verkleidete die Künstlerin mit einer farbigen Folie, so dass die Sonne, die durch diese Öffnung schien, ein buntes Lichtspiel verursachte, das seine Fortsetzung in nierenförmigen Schaumstoffkissen auf den Wänden fand. Zufall und Kalkül, unbeabsichtigte Gebäudeschäden und künstlerische Eingriffe, verführte die Betrachtenden, ihre Blicke durch den Raum schweifen zu lassen, dabei ihren Gedanken nachzugehen und gleichzeitig den ursprünglich gotischen Raum mit romanischen Wurzeln neu zu lassen.
Das im Chorraum vorhandene drei Meter hohe Holzkreuz verkleidete Susanne Krell mit Spiegeln. Damit fügte sie dem nach der Renovierung neu eingebrachten, an die ursprüngliche Nutzung der Kirche erinnernden Kreuz einen neuen Akzent hinzu und ließ gleichzeitig die Betrachtenden selbst zum Teil der Installation werden. Mit diesen wenigen Raumeingriffen verband die Künstlerin sensibel historische, spirituelle, architektonische und atmosphärische Aspekte des Gebäudes und ließ auf diese Weise einen geistigen Raum in der Kirchenruine erstehen.
Zu Beginn der Neunzigerjahre begann Susanne Krell sich mit einer Technik zu beschäftigen, die seither ihre künstlerische Arbeit bestimmt, der Frottage. Dieses Verfahren, bei dem ein Bogen Papier auf dem Fußboden oder auf der Wand eines Gebäudes befestigt und dann mit Kohle schraffiert wird, fand über Max Ernst, den großen Surrealisten, Eingang in die zeitgenössische Kunst. Dadurch entsteht auf der Papieroberfläche eine Maserung, man könnte sagen eine Zeichnung, die alle Unebenheiten des frottierten Materials sichtbar macht.
Krell erkannte, dass es ihr anhand dieser Technik ermöglicht wurde, etwas sichtbar zu machen, ins Bild zu bringen, was vorher nicht zu sehen war. Gleichzeitig lud sie ihre Arbeiten durch die Berührung mit den zugrunde liegenden Orten und Gebäuden förmlich auf, so wie es in der katholischen Frömmigkeit seit Jahrhunderten mit so genannten Berührungsreliquien geschieht. Andachtsbildchen oder kleine Tüchlein wurden an Reliquien oder Reliquiare und Schreine oder Gnadenbilder angehalten im Glauben, die wundertätige und heilende Kraft, die von ihnen ausginge, möge mit dieser Berührung auf das Papier oder Tuch übergehen. Die Authentizität dieser Berührungsreliquien wurde mit kleinen Stempelchen garantiert, auf denen „attigit“ („es hat berührt“) zu lesen war, ein Begriff, der zum Titel einer später beschriebenen Arbeit von Susanne Krell werden sollte.
Als sie 1999 den Auftrag erhielt, den Andachtsraum eines Seniorenhauses im südpfälzischen Zweibrücken zu gestalten, griff sie erstmalig auf die Frottagetechnik in einem sakralen Raum zurück. Voraussetzend, dass im Haus im Rosengarten vornehmlich Seniorinnen und Senioren aus Zweibrücken ihren Altersruhesitz einnehmen, fertigte die Künstlerin jeweils zwei großflächige Frottagen der evangelischen Alexanderkirche aus dem 16. Jahrhundert und der nach dem 2. Weltkrieg errichteten katholischen Heilig-Geist-Kirche an. Die vier Abriebspuren wurden im Siebdruckverfahren auf Glas übertragen und bildeten nun ein Kreuz, das hinter dem Altar des Andachtraums zu sehen ist.
So wurden die beiden Gotteshäuser, in denen die betagten Gläubigen über Jahre ihre geistliche Heimat hatten, hineingenommen in die neue Gottesdienstsituation und waren somit weiterhin präsent in den Gebeten beider Konfessionen, die den Raum gemeinsam nutzen.
Auch im Bonner Münster, wohin Susanne Krell im gleichen Jahr eingeladen war, im Rahmen der „Stadtkunst Bonn“ einen Arkadenbogen im Kreuzgang zu gestalten, schlug die Künstlerin einen Bogen zur Geschichte des Ortes. An dieser Stelle aber nicht horizontal zu anderen Kirchen der Stadt, sondern vertikal in die Vorgeschichte der Münsterkirche. Ausgrabungen, die im Bereich des Münsters unternommen wurden, brachten zutage, dass schon vor der kleinen Nekropole, einer Gedenkstätte, die hier seit dem 2. Jahrhundert bestand, auch schon zu römischer Zeit an dieser Stelle gebetet wurde. Ausgegrabene aufanische Matronen und Weihesteine, die sich heute im Bonner Stadtmuseum befinden, deuten darauf hin.
Von diesem Altar der aufanischen Matronen fertigte Susanne Krell Frottagen an, überarbeitete diese angelehnt an die Farbigkeit des Steins in Schwarz, Weiß und verschiedenen Rottönen und ummantelte damit drei Säulen im Münsterkreuzgang aus dem 12. Jahrhundert. An Orten wie dem Bonner Münster, mit einer Tradition, die mehr als 2000 Jahre zurück reicht, fanden vielfach Überlagerungen statt. Auf den Matronen- und Totenkult der Antike fußt die spätere christliche Marien- und Martyrerverehrung. Beides muss auch im 21. Jahrhundert aktualisiert und mit Leben erfüllt werden. Die Künstlerin verbindet die Aura des antiken Kults mit der Architektur des Mittelalters und macht sie so für die Betrachtenden der Moderne sinnlich erfahrbar.
Im Jahr 2004 realisierte Krell eine Wandarbeit in der Martinskirche zu Linz am Rhein. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts errichtet, verbindet das Gotteshaus harmonisch romanische und gotische Bauformen. Bekannt ist die Kirche vor allem wegen ihrer bedeutenden Wandmalereien aus dem 13. und 16. Jahrhundert, darunter eine Jakobspilgerkrönung aus der Zeit um 1230, eine der ältesten und bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. Die Malereien waren lange unter dem Putz versteckt und wurden freigelegt. Neben Jakobus sind die Heiligen Ursula, Margarete, Katharina, Barbara, Petrus und Martin zu sehen. Eine Bischofsgestalt wird als Heiliger Erasmus, Bischof von Antiochia und einer der 14 Nothelfer, identifiziert. Susanne Krell nahm an dieser Stelle das Format und die Farbigkeit der Wandmalerei auf, verwies aber nicht auf einen anderen Raum, sondern erstellte eine selbstreferentielle Arbeit, indem sie die dahinter liegende Wand auf einem Nesselstoff abrieb und somit das Wandbild nach unten hin fortsetzte, zugleich aber auch an alte Wandbehänge und Tapisserien in Kirchen erinnerte.
Auch im Jahr 2005 beteiligte Krell sich an der „Stadtkunst Bonn“ und wurde eingeladen, eine Installation im Kreuzgang von St. Remigius zu onc. Zu dieser ursprünglich von den Minoriten errichteten gotischen Pfeilerbasilika aus dem 14. Jahrhundert gehört ein Kreuzgang. Während die kleinen Eckelemente neben den Spitzen der Drillingsfenster farbig verglast sind, weisen die Lanzetten farblose Gläser auf. Die Künstlerin griff diese Vorgabe auf und brachte in jedem der 15 Fenster eine schwarze Frottage auf transparenten Grund an, jede aus einem anderen sakralen Gebäude aus aller Welt.
Auf diese Weise erschienen die Spuren heidnischer Kultstätten wie der Dolmen „Des Pierres Plates“ im bretonischen Locmariaquer oder der Hephaistos-Tempels in Athen, bedeutender Heiligtümer des Christentums wie die Abtei Clairvaux, das Kloster Montserrat, die Sixtinische Kapelle oder die Münchner Frauenkirche, den Berliner Dom und die Basilius-Kathedrale in Moskau sowie anderer Religionen wie die Synagoge in Triest, die Ibn Tulun Moschee in Kairo und den Wat Arun Tempel in Bangkok.
In den Kreuzgang, ehemals ein Ort des stillen Gebets der Franziskanermönche, strahlten nun die Oberflächen anderer Gebetsräume, teils verlassener und aufgegebener, teils aktuell immer noch frequentierter. Die hereinstrahlende Sonne ließ auf dem Boden des Kreuzgangs eine schemenhafte Spur dieser Gebäude erkennen, besser leise erahnen. Auf diese Weise schuf Krell mit den Mitteln ihrer Kunst einen weiten Raum durch alle Zeiten hallender Rufe der Menschen, der gesprochenen, gesungenen und stumm verrichteten Gebete.
Gemeinsam mit Frottagen aus drei Budapester Synagogen präsentierte die Künstlerin im Jahr 2005 das Video „Walking / Three Synagogues“. Zunächst ist ein Geräusch ist zu hören, eine schwere Eisentür wird verschlossen. Dann zeigt das Video Füße, die durch ein altes Treppenhaus hinuntergehen, eine Straßen entlang: Straßenlärm ist zu hören, Motorengeräusche, Stimmen, die ungarisch sprechen. Nur einmal hört man deutsche Worte: die Juden. Die Schritte führen zur Synagoge in der Kazinczy utca in Budapest, halten dort auf den Stufen kurz inne. Dann sieht man die Füße weiter gehen bis zur Rumbach Sebestyén utca - Synagoge, kurzes Verhalten auf den Stufen und dann weiter zur Synagoge in der Dohány utca. Kurzes Stehen und Zurückgehen zum Haus am Klauzál ter, die Treppe hinauf und das Öffnen der Eisentür ist wieder zu hören. Das Haus am Klauzál ter steht im ehemaligen jüdischen Ghetto von Budapest.
Mit diesem eindrucksvollen Video erinnert Susanne Krell an die Zeit der Judenverfolgung durch die Nazis in Osteuropa, an das Verstecken, die Suche nach Angehörigen, die Sorge und unbändige Angst. Zugleich schlägt es den Bogen zu den Überlebenden der Schoah und deren Nachkommen, die das Geschehene niemals vergessen können, und denen, deren Vorfahren es verursacht und betrieben haben und die nun auf die Spuren des Geschehenen stoßen.
In Maastricht erlaubte sich die Künstlerin im gleichen Jahr einen kaum zu bemerkenden, geradezu heiteren Eingriff in die Architektur des Stuersgebouw. Den Fuß der Dienste des neugotischen Netzrippengewölbes bilden vier Engelfiguren, die jeweils einen Schild tragen, auf denen allerdings kein Wappen mehr zu erkennen ist. Krell bedeckte die Oberfläche dieser Schilde mit Papier und rieb die Oberfläche mit Kreide ab. Das frottierte Papier klebte sie dann auf die Schilde. So entstanden Bilder des Steins, die auf dem Stein, kaum wahrnehmbar, zu sehen waren. Das Bild wurde zum neuen Stein, ein heiteres Vewirrspiel mit neu sichtbar gemachter, vorher nicht sichtbarer Realität.
Anlässlich des Gebetstags der Religionen wurde Susanne Krell 2007 eingeladen, das Gebetszelt auf dem Bonner Münsterplatz zu gestalten. Auch hier griff sie auf die Frottagetechnik zurück und vereinte in diesem Zelt die Gebetsräume der beteiligten drei monotheistischen Weltreligionen in Bonn: die Synagoge in der Tempelstraße in der Südstadt, die Münsterkirche St. Martin am Münsterplatz sowie die Moschee An der Esche in der Nordstadt. Die drei Tücher repräsentierten somit jede der Religionen und ließen sie bei den Gebetszeiten der jeweils anderen Glaubensgemeinschaften stets anwesend sein. Ein schöner interreligiöser Dialog durch auratische Präsenz.
Anlässlich des Abschlusses der Renovierungsarbeiten an der Nikolauskirche in Wipperführt, ein eindrucksvolles Zeugnis romanischer Baukunst mit gotischen Stilelementen aus dem 12. Jahrhundert, wurde Susanne Krell im Herbst des gleichen Jahres gebeten, der Freude über den im neuen Glanz strahlenden Kirchenraum mit einer Raumintervention künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Sie tat dies ähnlich wie in St. Remigius, indem sie Spuren unterschiedlicher Orte und Gebäude aus aller Welt, die für eine Religion oder Weltanschauung stehen, in St. Nikolaus legte. 49 Frottagen wurden auf Acrylfolie gedruckt und in Form des Grundrisses der Wipperfürther Kirche ausgeschnitten. Diese transparenten Folien schwebten im südlichen Seitenschiff in unterschiedlichen Höhen über den Köpfen der Betrachterinnen und Betrachter. Um sie sehen zu können, musste man in das Seitenschiff eintreten, vom Hauptschiff aus waren sie nicht vollständig zu erkennen.
Neben einigen schon in St. Remigius gezeigten Orten waren hier zahlreiche weitere Gebäude vertreten, teils von weither, etwa der Tempel der tausend Buddhas im chinesischen Qianfoshangebirge, die Stufenpyramide Sakkara, die Grabeskirche und der Felsendom in Jerusalem, die Kathedralen in Neapel, Metz oder Köln, teils aus der unmittelbaren Nachbarschaft wie die Kirchen St. Anna in Hämmern, Herz Jesu in Niederwipper und Unbefleckte Empfängnis in Egen, die inzwischen alle zur großen Gemeinde St. Nikolaus gehören. Auch Orte aus dem Totenbuch, das neben der Turmmadonna aus dem 14./15. Jahrhundert aufbewahrt wird, Orte, in denen Wipperfürther während der Kriege umgekommen sind. Für sie stehen Frottagen aus der Pasaréti út in Budapest, einer Befestigungsmauer in Verdun sowie aus Trier und Prag. Wie ein großes Mobile entstand ein vielfältiges Gefüge von Gebäuden und Orten, Ideen und Geschichten, die nun auf verschiedene Art in Beziehung zueinander kamen. Hier, wo seit 900 Jahren Gottesdienst gefeiert und gebetet wird, lassen die Frottagen aus aller Welt mit denen aus der eigenen Gemeinde ein neues Bild entstehen.
Ein Blick in die Legenda Aurea brachte Susanne Krell auf eine besondere Würdigung des Kirchenpatrons Nikolaus. Da in der Umgebung von Myra viele noch immer an die heidnischen Götter glaubten, ließ Nikolaus einen der Arthemis geweihten Baum umschlagen. Erbost über die Zerstörung ihres Heiligtums bereitete die Göttin ein gefährliches Öl, das sie in Gestalt einer frommen Frau Seeleuten übergab, die nach Myra pilgern wollten. Diese sollten bei ihrer Ankunft die Wände der Kirche mit diesem Öl bestreichen. Nicht wissend, dass es auf Wasser und Steinen brennt, nahmen die Pilger das Öl mit. Auf ihrer Fahrt nach Myra kreuzte ein kleines Boot mit Nikolaus an Bord ihren Kurs. Der Heilige warnte die Pilger und forderte sie auf, das Öl ins Meer zu gießen. Sie gehorchten und plötzlich stand die gesamte Wasseroberfläche in Flammen. Als die Pilger wohl behalten in Myra ankamen, erkannten sie Nikolaus als den Mann im Boot wieder und dankten ihm für ihre Errettung.
In der Nische für die heiligen Öle installierte die Künstlerin zwei kleine Fenster mit den Frottagen eines Artemistempels und der Wipperfürther Nikolauskirche, sodass beide Orte auf diese Weise miteinander verbunden waren. Die kleine Installation in der Taufkapelle erzählte nun mit künstlerischen Mitteln die Heiligenlegende neu.
Den vorläufigen Höhepunkt fanden Krells Arbeiten mit Frottagen im sakralen Kontext im „attigit.projekt“, das die Künstlerin mehrere Jahre beschäftigte und das im Jahr 2008 mit einem Dokumentationsband und Ausstellungen in Bonn und Maastricht erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Eine am Petersdom in Rom am 27. Juli 2003 abgenommene Frottage nahm Krell am 29. Oktober 2003 mit nach Kairo, wo sie diese an die Al Azhar Moschee anrührte. Die zeitgleich erstellte Frottage der Moschee brachte sie dann am 30. April 2006 nach Jerusalem und berührte damit die Klagemauer. Auch hier nahm sie eine Frottage ab, die sie schließlich am 1. Dezember 2006 in den Grotten von St. Peter in Rom anrührte. „attigit“ – Es hat berührt. Klagemauer, Petersdom und Al Azhar Moschee stehen stellvertretend für die drei monotheistischen Weltreligionen, die über die jeweiligen Frottagen miteinander in Berührung kamen. Durch den Transport, das Anbringen und Berühren der Frottagen an einen anderen Ort entstand eine neue Dimension.
Susanne Krell hat sich bewegt, sie musste reisen, unzählige Kontakte knüpfen, Menschen bewegen, ihr zu helfen. Dabei führte sie zahlreiche Gespräche, um sehen zu können, was diese sehen. Neue Perspektiven wurden deutlich. Geblieben sind drei wertvolle Frottagen, die Reliquien gleich gezeigt werden können, dazu die Fotos, die das Berühren und das Abreiben zeigen. Ein eindrucksvolles künstlerisches Projekt, das auf sinnliche Weise mehr aussagen kann, als mancher philosophische oder theologische Diskurs.
Susanne Krell verleiht auf ihrer unermüdlichen Suche nach Spuren der Zeit und Hinterlassenschaften der Geschichte auf Kirchenwänden, Denkmälern und Straßenpflastern dem bisher oft Ungesehenen und Übersehenen eine künstlerische Gestalt. Ihre stummen Botschaften aus der Vergangenheit erreichen uns rätselhaft, aber beredt.
Mit ihren Arbeiten in sakralen Räumen lässt sie die Betrachtenden etwas von ihrer Aura erspüren und berührt damit auch die Geheimnisse des Glaubens. Als Künstlerin wird sie damit zur Interpretin, die der Spiritualität des Ortes auf bisher nicht gekannte Weise auf die Spur kommt, ihr einen weiten Raum eröffnet und so einen neuen Klang verleiht.
Grenzen der Identität sind auch Wege zum Anderen, in: Kat. Grenzen der Identität, Landschaftsverband Rheinland 2009
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Dr. Gabriele Uelsberg
| Direktorin LVR_LandesMuseum Bonn
Grenzen der Identität sind auch Wege zum Anderen
in:
Kat. Grenzen der Identität, Landschaftsverband Rheinland 2009
Susanne Krell hat ein künstlerisches Konzept, das sie seit vielen Jahren verfolgt. Sie erstellt Frottagen, das heißt Abriebe, von Orten und Gebäuden an den unterschiedlichsten Stellen dieser Welt. Auf diese Weise nimmt sie etwas von der Aura des Ortes, seiner historischen Dimension und seiner konkreten Dimension in die Arbeit auf und transferiert sie dann an andere Orte. Für ihre Installation „Rhizom“ in Brauweiler und in Krakau hat Susanne Krell 100 Stoffbänder von je 10 m Länge bei 2,5 cm Breite abgerieben, je 50 an den unterschiedlichsten Orten in Krakau und im Rheinland. Sie hat damit ein „Gedächtnis“ niedergelegt, das dann in einer Installation zunächst in Brauweiler im Treppenhaus, später dann in Krakau im musealen Ausstellungskontext von der Decke herab gehängt wird. Die Farbigkeit, die sie in dieser speziellen Arbeit neu eingeführt hat, bezieht sich nicht nur auf die unterschiedliche Farbigkeit der Stoffbänder, sondern auch auf die unterschiedliche
Farbigkeit der Kreiden, mit denen sie die Abriebe auf den Stoff gebracht hat. Vielfältigkeit und Sinnlichkeit kommen in diesem Werk neben den inhaltlichen Thematiken zum Tragen.
Aber natürlich auch die Art des Abreibens, die immer eine historische Dimension besitzt, sowohl was ihre Entstehung in Krakau betrifft, wie auch die Entstehung in den Orten rund um Köln, Bonn und Brauweiler. Es sind Orte mit historischer Dimension, mit aktueller Präsenz, mit alltäglicher Lebendigkeit, die Susanne Krell hier an einem Ort miteinander verbindet
attigit.projekt, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer
| Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
attigit.projekt
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Kultur und Religion sind wesentliche Grundlagen unseres Zusammenlebens. Gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln verbinden Menschen. Unterschiedliche kulturelle und religiöse Herkunft und Zugehörigkeit können gleichzeitig eine Barriere zwischen Menschen bilden. Mit den Mitteln der Kunst und auf dem Weg des Dialogs überwinden wir das Trennende zwischen Kulturen und Religionen.
Unsere deutsche Gesellschaft steht vor einer Integrationsaufgabe, die verschiedene Kulturen und Religionen umfasst. Die Realität der Zuwanderungsgesellschaft ist auch eine kulturelle und religiöse Herausforderung. Deshalb ist der angemessene Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft.
In dem am 12. Juli 2007 vorgelegten Nationalen Integrationsplan hat die Bundesregierung gemeinsam mit Ländern und Kommunen, mit Migrantenverbänden und zahlreichen anderen nichtstaatlichen Akteuren über 400 Maßnahmen und Selbstverpflichtungen zur Integration verabschiedet. In einem umfassenden Dialogprozess haben Verantwortliche aller staatlichen Ebenen sowie zahlreiche Einrichtungen und Akteure der Bürgergesellschaft, zu denen auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie Kulturschaffende gehören, einen gemeinsamen Plan für eine nachhaltige bundesweite, sparten- und themenübergreifende Integrationspolitik verabschiedet. Bundeskanzlerin Merkel sprach von einem Meilenstein in der Geschichte der Integrationspolitik.
Die Deutsche Islamkonferenz ergänzt den Nationalen Integrationsplan. Wir brauchen einen langfristig angelegten Dialog der Religionen. Der Islam als größte zugewanderte Religionsgemeinschaft stellt uns vor die größten Herausforderungen. Und die Muslime selbst stehen vor der Herausforderung einer erfolgreichen Integration in die deutsche Gesellschaft und Rechtsordnung. Die Deutsche Islamkonferenz bildet auf der Bundesebene den Rahmen für diesen schwierigen Prozess.
Der interkulturelle und der interreligiöse Dialog auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen muss fortgesetzt und intensiviert werden. Mit den Mitteln der Kunst gelingt eine Verständigung auch dort, wo das Wort nicht weiter kommt. Dies initiiert das attigit.projekt in besonderer Weise, indem es die drei abrahamitischen Religionen, Christentum, Judentum und Islam symbolisch zusammenführt.
attigit.projekt ist eine der Kunst und dem interreligiösen Dialog gewidmete Publikation, der ich in diesem Sinne viel Erfolg wünsche.
Eine Idee: das attigit.projekt, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Susanne Krell
| Künstlerin
Eine Idee: das attigit.projekt
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Eine Frottage von einem Ort erstellen heißt eine Idee, ein (Ideen-)Gebäude berühren und durch eine Durchreibung die jeweilige Struktur festzuhalten. Frottagen repräsentieren für mich jene Ordnungen, Regelwerke und Ideen, für die das jeweilige Gebäude steht. Das Arbeitskonzept entstand bei einem Besuch der prähistorischen Steinalleen und Dolmen in Carnac/ Bretagne vor einigen Jahren bei der Suche nach einer geeigneten Möglichkeit, etwas mitnehmen zu können von einem Ort, ohne ihn zu zerstören: die Idee der Frottage als Sammlung einer Spur. Foto oder Zeichnung haben Distanz zum Gegenstand, nur die Frottage ist die distanzlose Berührung. Ein Prozess der Annäherung ist notwendig, das Vor-Ort-Sein ist Bedingung. Es muss etwas in Berührung gebracht werden: attigit – hat angerührt. Dazu braucht es einen konkreten Gegenstand. Eine Frottage zeigt einen Abdruck der Oberfläche, individuell und einzigartig für den Ideenort, einem Fingerabdruck ähnlich.
Gebäude, Ideengebäude verbleiben üblicherweise an ihrem Ort. Für das attigit.projekt wurden die drei monotheistischen Religionen in Stellvertreterbauwerken als Frottage aufgenommen. Über die Frottage reisen diese zum anderen. Durch das Transportieren der Frottage an einen anderen Ort und die Berührung des anderen Gebäudes entsteht eine neue Dimension. Es kommt zu einer Berührung der Ideen.
Petersdom Rom / Abnahme einer Frottage 27.07.2003 / Berührung Klagemauer 1.12.2006
Al Azhar Moschee Kairo / Berührung Petersdom und Abnahme einer Frottage 29.10.2003
Klagemauer Jerusalem / Berührung Al Azhar Moschee und Abnahme einer Frottage 30.04.2006
Ich wusste nicht, was sich entwickeln würde, als ich im Juli 2003 die Abnahme an St. Peter in Rom machte, versteckt hinter den Portalsäulen, kein Italienisch sprechend, niemanden stören wollend. Immer steht die Frage im Raum, wie soll ich reagieren, wenn jemand kommt und Anstoß nimmt? Ist es ein unerlaubter Eingriff? Oder wird man mein Tun akzeptieren? Wie immer, wenn ich reise, habe ich Papier, Kreiden, Klebeband, Reinigungsmaterial dabei. Nie gehe ich durch eine Stadt ohne Gepäck. In einer Mappe oder Rolle sind Papiere, Tücher oder Leinwände untergebracht, der Rest in der Tasche. Was begegnet mir? Was ist wichtig? Welcher Ort interessiert mich? Vielleicht komme ich niemals mehr an diesen Ort, und er hat doch so viele Geschichten in sich. Immer bereit sein für eine Arbeit, immer entscheiden, jetzt, hier? Ist das ein geeigneter Ort? Was sagt er? Was sehe ich? Was klärt sich für mich? Ist die Spurenabnahme hier möglich? Gibt es jemanden, der meine Arbeit ablehnen wird? Gibt es eine schöne Struktur an der Oberfläche? Habe ich Lust, wieder den ganzen Tag mit schwarzen Fingernägeln herumzulaufen? Wie ist das Wetter? Weht der Wind das Blatt davon? Wird es nass bei Regen?
Die Frottage von St. Peter war also jetzt vorhanden – eine Frottage wie viele in meiner Sammlung und doch von einem besonderen Ort, einem Zentrum des Christentums.
Kurze Zeit später gab es einen unerwarteten Kontakt nach Kairo, eine Reisemöglichkeit. Da entstand der verwegene Gedanke, den Petersdom mitzunehmen – als Frottage mitreisend im Gepäck – und einen Kontakt mit einem anderen Glaubenszentrum zu suchen: die Al Azhar-Moschee.
In Kairo finde ich erst am Tage vor der Abreise jemanden, der bereit ist, mir zu helfen. Alleine wäre das Vorhaben für mich nicht möglich. Selbstverständlich muss ich ein Kopftuch tragen. Am Seiteneingang der Moschee legen wir die Schuhe ab und geben den alten Männern, die dort wachen, etwas Geld. Sie amüsieren sich über uns, so scheint es mir. Schauen von ihrem Sitzplatz aus, was wir tun. Die Vorübergehenden fragen meine Begleitung, was da passiert. Ich arbeite. Ich hänge den Petersdom an die Al Azhar-Moschee. Ich mache Photos und hänge ein neues Blatt für eine neue Abnahme auf. Meine Begleitung beschützt meine Arbeit. Ich zittere vor Aufregung.
Frottage Petersdom und Frottage Al Azhar-Moschee liegen auf der Reise dann zusammen in der schwarzen Transportrolle, dicht beieinander. Die Spurenabnahmen, nur auf weißem Papier mit schwarzen Kreiden, ähneln einander und sind doch so grundsätzlich verschieden. Ich bin immer wieder aufs Neue erstaunt, wenn ich sehe, wie differenziert die Abnahmen sind. Ähnliche Strukturen, sie gibt es nur an diesen ganz besonderen Orten. Und doch haben sie grundsätzlich eine andere Bedeutung. Oder nicht?
Mein Plan war ursprünglich, die Frottagen von Petersdom und Al Azhar in einer Synagoge in Deutschland zusammenzubringen; als Bedeutungsträger für ihren Herkunftsort, zusammen an einem dritten Ort. Abraham als Urvater der drei Religionen ging mir durch den Kopf. Der Rabbiner in Berlin, der sich nach vielen fruchtlosen Versuchen der Kontaktaufnahme mit der jüdischen Gemeinde bereit erklärt, mit mir zu sprechen, schaut sich kurz meine Arbeiten an und sagt, der einzig richtige Ort dieses Projekt fortzuführen sei die Klagemauer in Jerusalem. Alleine hätte ich diesen Gedanken sicher nicht gewagt. Doch der Rabbiner sagt mir Unterstützung zu, da er mich auf diesen Gedanken gebracht hat und sich nun verantwortlich fühlt. Er organisiert ein Treffen mit einem Rabbiner in Jerusalem im darauffolgenden Jahr.
Eine Bekannte will mich auf meiner Reise begleiten, doch sagt sie eine Woche zuvor ab. Es gab zu viele Attentate in Israel. Soll ich fahren? Ich habe die Verabredung mit einem Rabbiner am Jaffator in Jerusalem. Die kann ich nicht absagen. Also fliege ich. Wieder die schwarze Rolle in der Tasche, im Flieger, im Taxi, im Bus, am Aussichtspunkt gegenüber der Stadtmauer von Jerusalem. Wir laufen uns am Jaffator fast in die Arme, der Rabbiner und ich. Die Begegnung tut sehr gut. „What will you do exactly?” fragt er. Ich erkläre. Wir gehen zur Klagemauer, vorbei an Soldaten, Sperren, durch Durchleuchtungsgeräte. Wir werden untersucht. Ich habe ein harmloses Blatt Papier in einer schwarzen Rolle. Die Klagemauer hat einen Bereich für Männer und einen für Frauen. Der Rabbiner kann nicht mit. Er sagt: “You have the permission”. Damit gehe ich los, er wartet draußen, lesend in meinem Katalog.
Es ist sehr viel Betrieb an der Klagemauer. Die Frauen stehen dicht gedrängt vor der Mauer, in dichten Reihen, wiegend, lesend, die Mauer berührend. Da komme ich niemals dicht heran, denke ich. Ich warte, gehe ein Stückchen vor, sondiere die Lage, warte, gehe ein Stück vor. Schließlich stehe ich in der zweiten Reihe. Vor mir betende Mädchen, Schuluniformen, blaue Röcke, Blusen. Sie wiegen sich im Gebet. Sie werden das lange tun. Ich hocke mich hin zwischen die Betenden, hole meine Rolle, öffne sie, mache vorsichtig kleine Klebstreifen an das Papier und hänge es ganz behutsam zwischen die betenden Mädchen. Haben sie es bemerkt? Sie reagieren nicht. Jetzt hängt die Al Azhar-Moschee an der Klagemauer! Ich zittere wieder einmal vor Aufregung. Ich lasse das Bild auf mich wirken. Dann suche ich den Photoapparat, mache einige Photos. Anschließend fertige ich einen Abrieb von der Klagemauer an, eine Spurenabnahme, die nur hier an dieser Stelle, auf diese Weise, durch die Berührung dieses Steines entstehen kann. Als ich wieder beim Rabbiner bin, sieht er meine Aufregung. Er lädt mich erst einmal zum Kaffee ein. Er gibt mir das Gefühl, dass es richtig ist, was ich tue. Es sind wunderbare Momente. Dann reisen Al Azhar-Moschee und Klagemauer zurück, zusammen in einer Rolle.
Und jetzt soll die Klagemauer an den Ausgangspunkt, an St. Peter in Rom.
Trotz wiederholter Anfragen, erhalte ich den ganzen Sommer 2006 über keine Antwort aus dem Vatikan. Zuletzt erfahre ich, dass keine Antwort auch eine Antwort bedeuten kann. Keine Antwort bedeutet wohl Zustimmung für meinem Antrag an St. Peter arbeiten zu dürfen. Diesmal geht ein Pater mit mir. Wir treffen uns an der Porta Sant’Anna, an der langen Mauer am Vatikan. Erkennungszeichen ist meine schwarze Rolle. Der Petersplatz ist abgesperrt. Es gibt nur wenige Eingänge. Schleusen sind zu passieren, wieder Durchleuchtungsanlagen. Rechts vom Petersdom gehen wir vorbei, hinunter in den Gang zu den Grotten. Unter dem Petersdom, ein langer Gang, Säulenstümpfe mit Basen, Mauerreste links und rechts, Sarkophage, dann ein Fundamentstück, etwas länger, waagrecht. Das wähle ich aus. Wir hängen die Klagemauer an die Fundamente, an die Reste der Konstantinischen Basilika, nahe beim vermuteten Petrusgrab. Ich hole das Papier mit den Spuren der Klagemauer aus der Rolle, bereite kleine Kleber vor, die das Papier halten sollen, befestige sie an der Rückseite. Und dann hänge ich das Papier an: Klagemauer berührt St. Peter. Wir sind beide sehr aufgeregt. Der Pater betet. Für mich ein erhabener Augenblick.
Ein simples Stück Papier mit ein paar schwarzen Spuren. Nichts aufregendes, es sieht ganz harmlos aus. Aber das Papier hat die Klagemauer berührt, die Spuren sind von dort.
Ich war in Kairo, war in Jerusalem, in Rom; habe die Papiere dorthin getragen. Wie Reliquien habe ich sie behütet und geschützt. Ich musste mich bewegen, um diese Arbeit tun zu können. Ich musste viele Menschen überzeugen, mich zu unterstützen und habe mit vielen das Gespräch gesucht, um versuchen zu sehen, was sie sehen. Ich musste reisen. Ich musste lernen, mich an sehr unterschiedlichen Orten zu bewegen. Ich musste Ängste überwinden.
Nun ist es rund, das Projekt. Rom - Kairo - Jerusalem – Rom. Der Kreis ist geschlossen.
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Susanne Krell
| artist
description
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
To design a frottage means to touch an idea – an "idea building". Attigit (lat.: …has touched).
An approaching process is necessary, the movement of the producer to the location. The "touching" has to be at the location. Consequently it becomes a touch without a distance, to be on the spot is compulsory.
A frottage has a different dimension than a photo or a drawing. Something has to be touched: attigit – ' has touched' . It needs to be an actual item for a frottage. No inner picture is revealed, no construction, no technical experiments. It is exactly what you see…
A frottage shows an imprint, individual and strange for the idea-location, like a fingerprint.
The frottage and the naming of its origin become projections for the receptors. No image is available, a new picture of its own has to be designed.
The inner picture is created by the frottage and its title. The frottage is an ambassador for a place, it becomes a carrier of a meaning for an idea. Paper and canvas become carriers of ideas by covering and tracing. No specific image of a location is visible.
An autonomous self portrait of the carried meaning develops. The producer becomes a media with consciously reduced influence on the process of tracing.
Buildings, idea-buildings usually remain at their location. The three monotheistic religions were recorded in representative buildings and travel from one to the other as a frottage.
St. Peters Dome in Rome/ Creation of a frottage 27/07/2003/ Touching Wailing Wall 01/12/06
Al Azhar Mosque Cairo/ 'Touching' of St. Peters Dome and creation of a frottage 29/10/2003
Wailing Wall Jerusalem/ 'Touching' of Al Azhar Mosque and creation of a frottage 30/04/2006
A new possibility is created when the frottages are transported from one place to the other and "touching" is enabled. An encounter of the ideas, a virtual and spiritual unification. The term "touching" appears to be the appropriate expression.
For three years now, I have followed this trail and could not predict its outcome. I have made steps, work has developed and I have followed a goal. Now it appears I must return to where it all began. The St. Peters Dome is where the project started. I now plan to ' touch' the frottage from the Wailing Wall with the St. Peters Dome. A brief encounter. This would close the circle.
Whatever I experience at these locations it is an individual situation. If I do this project then it will inevitably push me into a new individual experience. My work therefore, has a somewhat openness and I would like to preserve this openness. My work of art includes reception. It is tipped into motion and progresses within the observer. Everything else would in my opinion appear too heavy. I can supply a hint, but not a statement for the world.
Spur der Steine, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Dr. Christoph Schreier
| stellvertretender Direktor Kunstmuseum Bonn
Spur der Steine
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Seit den Zeiten des ‚Sturm und Drang‘ und der Romantik ist uns die Vorstellung vom Künstler als Schöpfer, der – statt die Realität nachzuahmen oder ästhetisch zu kultivieren – in der Lage ist, neue, nie zuvor gesehene Wirklichkeiten zu schaffen, bestens vertraut. Leibnitz fand hierfür schon vor mehr als 300 Jahren den Begriff des Künstlers als ‚Alter Deus‘, also die Definition des Künstlers als profanen Schöpfer-Gott, und nachfolgende Generationen feierten das Genie, das, nur sich selbst und seinen Visionen verpflichtet, aus dem leeren Weiß des Papiers und der Leinwand schöne und schreckliche Gestalten hervorzuzaubern vermag.
So faszinierend dieses Konzept von Künstlertum auch sein mag, so sicher ist doch, dass sich diese Idee des schöpferischen Berserkertums in den letzten Jahren und Jahrzehnten verbraucht hat. Die postmoderne Krise des Identitäts- und Subjektivitätsbegriffs hat fraglos Spuren hinterlassen, Zweifel an diesem Modell von Kunstproduktion ausgelöst. Mag sein, dass man gerade deshalb verstärkt auf Künstler aufmerksam wird, die andere Wege gehen, nicht lauthals ihre Einzigartigkeit konstatieren, sondern hinhören; nicht Spektakuläres in Szene setzen, sondern dem bisher Übersehenen Raum geben. Zu dieser Kategorie von Künstler gehört ganz sicher auch Susanne Krell, deren Kunst sinnliche Präsenz mit einem hohen reflektorisch re-aktiven Potential verbindet. Ebenso künstlerisch wie philosophisch geschult, münden beide Qualifikationen in einem Werk, das stark konzeptuell geprägt ist und sich an klar definierten Themenstellungen orientiert.
Zu diesen Themen gehört seit einigen Jahren die Auseinandersetzung mit Orten, die eine historische, kulturelle oder religiöse Prägung erfahren haben. So reiste Susanne Krell, im eigenen Auftrag, nach Athen, Budapest und London, nach Bogota, Jerusalem und Dakar, um nur einige Orte zu nennen, stets auf der Suche nach den Spuren, die Zeit und menschliches Handeln an Kirchenwänden, Denkmälern, Eingängen von Synagogen und an Grabmalen hinterlassen haben. Denn für Susanne Krell sind diese Steine mehr als nur ‚Material‘, sie sind neutraler ‚Stoff‘, aus dem hoch komplexe (Gedanken-)Gebäude errichtet werden. Schon für sich genommen sind sie aussagekräftig, und nie käme sie auf die Idee, diese zu Material ihrer ‚Kunst‘ zu verwandeln, sie also zu Objekten eines gleichermaßen souveränen wie geschichtsvergessenen Gestaltungswillens zu machen. Susanne Krell geht es nicht um persönliche Botschaften, vielmehr sind ihre Arbeiten Palimpseste des Historischen, rätselhafte Botschafter des Vergessenen, Verborgenen und Verdrängten.
Insofern könnte man sie mit gutem Grund als eine Spuren sichernde Dokumentarin bezeichnen, die sich in ihrer Arbeit durchaus unterschiedlicher Medien bedient. An erster Stelle wäre ganz sicher das Medium, die Gattung der Zeichnung zu nennen, die bei ihr eine eindeutig objektivierende Funktion besitzt. Statt, wie oben schon formuliert, Ausdruck des Künstlersubjekts zu sein, stellt Susanne Krell die Zeichnung in den Dienst des Objekts, des historischen Fundstücks, das gleichsam protokolliert wird. Dabei bedient sie sich des von den Surrealisten, genauer von Max Ernst, entwickelten ‚Frottage‘-Verfahrens, bei dem ein Papier erst auf einer Oberfläche, einer Wand oder einem Boden etwa, fixiert und dann schraffiert wird. Die in diesem Verfahren erscheinende ‚Zeichnung‘ konserviert dann die kleinen Unregelmäßigkeiten der Materialoberfläche und macht diese, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, sichtbar. So geht Susanne Krell beispielsweise vor, wenn sie die Stufen von drei Budapester Synagogen, Reste der Berliner Mauer oder Platten des Ground Zero in New York abschraffiert. Dann leistet sie so etwas wie Spurensicherung, sie rettet und sichert das, was uns im Sog einer sich immer schneller verändernden Welt, verloren zu gehen droht.
Was ihr und uns bleibt sind allerdings nur auratische Bruchstücke, die Susanne Krell in dem Video ‚Beschränkungen‘ mit großer Sorgfalt beschreibt und dem Betrachter vorführt. Ein Fragment nach dem anderen wird unter Hinweis auf seine Herkunft vorgestellt, eine Welt in Trümmern, die auch in der langen Reihe der Fundstücke zu keiner Gesamtheit findet. Susanne Krells Welt ist eine Welt der Fragmente und dies dokumentiert sich auch in der ‚Tutti‘ betitelten Arbeit, die mit ihren Dimensionen von 5,50 x 2,80 Metern eines der größten Werke ist, die die Künstlerin bisher geschaffen hat. ‚Tutti‘ besteht aus einer aufwändig grundierten Leinwand, auf der Krells Frottagetechnik die Oberflächenstruktur von 137 Steinen bzw. Fundstücken konserviert hat. Eher unsystematisch angeordnet tauchen die Schatten der Objekte auf der großen Fläche auf, wie Inseln auf einer Weltkarte der Erinnerung, die noch manche leere Stelle kennt.
Zu schließen sind diese Lücken allenfalls mit unserer Imagination, unserer Phantasie, die in Betrachtung dieser Werke in hohem Maße gefordert ist. Zwar ist die Frottage im gewissen Sinn eine Dokumentationstechnik, doch bieten die Schraffuren, in der Weise wie sie uns gegenübertreten, genug Raum für unsere Phantasie. Denn allzu viel Identifizierbares, Zuzuordnendes zeigen diese Bilder nicht, auch wenn sie Abdrücke der Wirklichkeit sind. . Letztlich sieht man vor allem eine Körnung, die freilich zur Projektionsfläche unserer Vorstellungen wird. Angespornt durch die Titel und die Ortsbezeichnungen begibt sich unsere Phantasie auf eine Reise durch Raum und Zeit – zur Jahrtausende alten Stadtmauer Jerusalems, zum Ueno-Park, der über einem Schlachtfeld, auf dem die Einheit Japans erstritten wurde, angelegt worden ist, oder zum Ground Zero, um einen Ort der jüngsten Geschichte zu zitieren. Wer spürt da, angesichts gerade der staubartig feinen Frottage der Steine von Ground Zero nicht den Atem der Geschichte, die Aura des Ortes? Niemand wird sich der Magie dieser ‚Zeichnungen‘ entziehen können, die in der Kombination mit Video und Fotografie eher noch an Aussagekraft gewinnen. Denn Susanne Krells Videoarbeiten und Fotografien sind im Vergleich mit ihren Papierarbeiten ganz ohne Frage nüchterner, in ihrer Abbildlichkeit eindeutiger. Darüber hinaus dokumentieren sie Ereignisse und nicht – teilweise Jahrhunderts währende – Zeitverläufe, wie eben die Frottagen.
Nirgendwo wird dies deutlicher als bei der Arbeit Susanne Krells, die die abschraffierte Haut der Jerusalemer Stadtmauer mit einem zur Bombenentschärfung eingesetzten Roboter konfrontiert. Dann stoßen zwei Zeitebenen aufeinander, die sich gleichwohl kontrapunktisch ergänzen. Zeichnung und Fotografie erfüllen nämlich beide die Aufgabe des Dokumentarischen, weshalb sie auch in einem Werk zusammengeführt werden können. Beleg hierfür sind etwa die ‚China Ansichten‘ des Jahres 2007, kleinformatige Collagen, die Zeichnung und Fotografie verbinden und die Spuren der Geschichte dadurch gleich zweifach bewahren. Ein Foto zeigt einsame Spaziergänger in einem Hutong, einem traditionellen chinesischen Wohnviertel, das dem Abriss preisgegeben ist. Wie so vieles werden auch diese Häuser, wird auch diese Straße dem Fortschrittsoptimismus geopfert werden. Susanne Krell erhebt dagegen keinen Einspruch, doch setzt sie mit ihrer Kunst ein Zeichen des Bewahrens, ein Zeichen der Erinnerung, dann, wenn sie dem Verlorenen durch ihre Kunst eindrücklich Präsenz verleiht.
Dass sie dabei die Grenze des rein Dokumentarischen überschreitet, liegt, bei aller Referentialität, auf der Hand. Gerade die Frottagen leben vom Berührungszauber, der Begegnung des Blattes mit dem Ort seines Entstehens. Dadurch werden sie zum ‚vera ikon‘ all der Orte, Plätze und Geschichten, die uns im Flimmern der Graphitpunkte ahnungsvoll-auratisch, ungreifbar und präsent in einem, vor Augen treten.
Bildnerische Ringparabel, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Dr. Gabriele Uelsberg
| Direktorin LVR_LandesMuseum Bonn
Bildnerische Ringparabel
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
In ihrem attigit.projekt unternimmt die Künstlerin Susanne Krell neben dem Konzept einer auratischen Dokumentation von historischen Plätzen, Orten und Monumenten den Versuch, die künstlerischen Aspekte ihres philosophisch fundierten Arbeitsansatzes noch um eine Komponente der Ideenaneignung zu erweitern. Indem Susanne Krell ihre besondere Spurensuche auf heilige Orte der drei großen Weltreligionen fokussiert, entwickelt sich im Kontext ihrer bildkünstlerischen Arbeit auch ein essentieller Dialog der Kulturen und Religionen. Die Auseinandersetzung, der sich Susanne Krell in diesem engagierten, ehrgeizigen Projekt stellte, war denn auch mit sehr viel mehr Faktoren verbunden als nur der Frage nach Ort, Zeit und Raum. Es bedurfte einer großen Anstrengung, ihre bildkünstlerische und inhaltliche Idee zu vermitteln und sich das Einverständnis und die Mitarbeit der philosophisch religiösen Einrichtungen zu sichern, mit denen sie sich in ihrer Arbeit auseinandergesetzt hat. Viele Gespräche, in denen sie ihr Vorhaben erklärte, waren notwendig, um das Projekt überhaupt zu realisieren. Denn für das künstlerische Projekt attigit war die Einverständniserklärung der Religionsvertreter unabdingbar notwendig, um zu vermeiden, dass die künstlerische Idee von einem Akt des „Überfalls und der Nötigung“ überschattet wird, der dem Prozess der Aneignung von atmosphärisch-historischem Wissen entgegengewirkt hätte.
Man fühlt sich nicht von ungefähr an die Ringparabel aus Nathan dem Weisen von Gotthold Ephraim Lessing erinnert. Lessing wurde durch die Veröffentlichung der so genannten Wolfenbüttler Fragmente, einer religionskritischen Schrift des Orientalisten Prof. Samuel Reimarus, zu seiner literarisch-theologischen Auseinandersetzung um die Freiheit wissenschaftlicher Forschung angeregt. Für Lessing ist der Nathan sein in dramatische Form gegossenes freiheitliches Glaubensbekenntnis. Lessing will weniger die Wirklichkeit beschreiben, als ein Ideal verkünden. Im Werk soll nicht das Idealbild eines Juden, sondern das Bild eines wahren Menschen im Mittelpunkt stehen, dem Toleranz und Freiheit ein Herzensanliegen ist. Lessing diskutiert dabei nicht den transzendentalen Gehalt der Religionen, vielmehr wertet er sie in ihrer Aufgabe, dem Menschen auf Erden den Umgang mit seinem Nächsten zu erleichtern. Menschenliebe, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Mildtätigkeit und Erziehung werden von Lessing zum Kern des Humanitätsbegriffes konzentriert. Goethe, der Nathan der Weise sehr bewunderte, sprach den Wunsch aus: „Möge das darin ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl der Nation heilig und wert bleiben!“
Die in der Parabel und Erzählung enthaltene Aufforderung zu Menschlichkeit und Toleranz der verschiedenen Religionen und aller Menschen untereinander überwältigt in dem Bühnenwerk den Sultan und lässt ihn zum Freund des Juden Nathan werden. So wie schon immer der edle Nathan die starren Religionsunterschiede für nichtig erachtet hat, so führt im Theaterstück das Leben Christen, Muslime und Juden zusammen. Über die trennenden Grenzen der Religion und Kulturen finden sie sich wieder in reiner Menschenachtung. Die Ringparabel sei hier noch einmal von Nathan erzählt:
„Vor grauen Jahren lebt′ ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Daß ihn der Mann im Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, daß dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. –
Versteh mich Sultan.
So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,
Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;
Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
Die alle drei er folglich gleich zu lieben
Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit
Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald
Der dritte, sowie jeder sich mit ihm
Allein befand, und sein ergießend Herz
Die andern zwei nicht teilten, – würdiger
Des Ringes; den er denn auch einem jeden
Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen.
Das ging nun so, so lang es ging. – Allein
Es kam zum Sterben, und der gute Vater
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
Verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? –
Er sendet insgeheim zu einem Künstler,
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
Zwei andere bestellt, und weder Kosten
Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,
Kann selbst der Vater seinen Musterring
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
Er seine Söhne, jeden insbesondre;
Gibt jedem insbesondre seinen Segen, –
Und seinen Ring, - und stirbt.
Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. –
Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder
Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst
Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
Erweislich; –
Fast so unerweislich, als
uns itzt – der rechte Glaube.
Die Söhne
Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter,
Unmittelbar aus seines Vaters Hand
Den Ring zu haben. – Wie auch wahr! – Nachdem
Er von ihm lange das Versprechen schon
Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu
Genießen. – Wie nicht minder wahr! – Der Vater,
Beteurte jeder, könne gegen ihn
Nicht falsch gewesen sein: und eh′ er dieses
Von ihm, von einem solchen lieben Vater,
Argwohnen lass′: eh′ müss′ er seine Brüder,
So gern er sonst von ihnen nur das Beste
Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels
Bezeihen; und er wolle die Verräter
Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.
Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel
Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? –
Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
Doch das nicht können! – Nun: Wen lieben zwei
Von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt?
Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht
Nach außen? Jeder liebt sich selber nur
Am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei
Betrogene Betrüger! Eure Ringe
Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
Vermutlich ging verloren. Den Verlust
Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
Die drei für einen machen.
Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr
Nicht meinen Rat, statt meines Spruches wollt:
Geht nur! – Mein Rat ist aber der: Ihr nehmt
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den Echten. – Möglich; daß der Vater nun
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
in seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß;
daß er euch alle drei geliebt, und gleich
eliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
Um einen zu begünstigen. – Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochenen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring′ am Tag
Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad′ ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der
Bescheidne Richter.
Susanne Krell scheint den Erzählfluss der Ringparabel in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung aufgenommen zu haben, indem sie an die heiligen Stätten der großen Religionen reiste – fast wie in einem Akt des Pilgertums – und dort Abdrücke nimmt und Abdrücke hinterlässt. Die Idee der Vernetzung und gegenseitigen Toleranz und Wertigkeit wird in ihrer Arbeit manifest.
Die von Susanne Krell erstellten Frottagen und Fotografien sind Momente der Berührung und Verinnerlichung der „Vertretergebäude“ der drei abrahamitischen Religionen. Die so erstellten Abbilder besitzen in ihrer bildkünstlerischen Präsenz eine Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit, die den identischen Ringen in der Geschichte entsprechen. Der Akt der Abreibung und die Konzentration der auratischen Situation auf die Verdichtung von Grafitspuren auf Papier befreit die Bildserie von allen anekdotischen oder detailbezogenen Elementen der unterschiedlichen Realität der Orte und lässt sie zu einer bildkünstlerischen Parabel von Bedeutung und Tiefe werden. Dabei spielt es eine wichtige Rolle in der ansonsten in Serien konzipierten Arbeit von Susanne Krell, dass hier nur drei Gebäude und drei Aktionen miteinander verknüpft werden. Die Bedeutung der Orte und der dort durch Berührung gewonnenen Bilder sind dadurch unmittelbar mit den religionsphilosophischen Berührungspunkten der drei Religionen identisch. Die Künstlerin stellt somit die Gleichwertigkeit und auch die Bedeutungsintensität der drei Abdrücke sicher. Es geht ihr im attigit.projekt nicht um den universellen „Niederschlag“ von vielen örtlichen und atmosphärischen Verdichtungen, sondern um das Konzentrat einer Gesamt-Idee von religionsphilosophischer Komplexität, die sie aus den gleichwertigen Bildsymboliken miteinander in Beziehung setzt.
Betrachtet man darüber hinaus, wie Susanne Krell an den unterschiedlichen Orten unter oft schwierigen politischen oder auch sozialen Bedingungen ihre Aktionen mit einem „Kniefall“ vor der Vergangenheit und der Geschichte durch die Abriebaktionen vollzieht, ist die Verneigung vor der Besonderheit von Ort, Raum und Zeit im attigit.projekt besonders sinnfällig. Waren bislang die Realisierungen von Susanne Krells Aktionen oftmals mit einer Vielzahl von Reisen verbunden, die sich über einen längeren Zeitraum vollzogen haben, wurde hier die „Anreise“ zu den drei Monumenten zum größten und längsten Unternehmen: Ein Prozess der Annäherung, des Dialoges, der Werbung um Verständnis und Akzeptanz und der immerwährend dokumentierten und gelebten Achtung vor der jeweils anderen philosophisch religiösen Anschauung.
Das attigit.projekt von Susanne Krell ist in seiner Konzentration und Dichte sicherlich in ihrem Werk ein Solitair und wird es auch in Zukunft bleiben, da hier – entsprechend der Ringparabel – ein Schritt vollzogen worden ist, der sich weder steigern noch wiederholen, noch analogisch verwenden lässt. Die Berührung des Themas bleibt symbolisch, einzigartig und wächst im Bewusstsein der Berührung des Unberührbaren.
Das Schweißtuch der Susanne Krell - Ein Exkurs über Glaube, Bild und Aura, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Dr. Mario Kramp
| Direktor Mittelrhein-Museums Koblenz
Das Schweißtuch der Susanne Krell Ein Exkurs über Glaube, Bild und Aura
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Für Schwester Brandina Paschalis Schröder, Nonne vom Orden der schweigenden Trappistinnen, ist der Fall klar. Das Bildnis Jesu Christi auf Leinen in der Kirche des Abruzzen-Dorfes Manoppello ist der wahre Abdruck vom Gesicht des Heilands. Um ihm nahe zu sein, hat sie ihr Kloster Maria Frieden in der Eifel verlassen und ist als Eremitin in die italienischen Berge gezogen. Denn wie heißt es bereits um 1263 in der Legenda aurea über dieses Bild, das die heilige Veronika mitbrachte und das mit Geld nicht zu bezahlen sei: „das Bild erzeugt seine Kraft allein einem gläubigen und andächtigen Herzen“.
Da im Rheinland – in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz – die katholische Bilderwelt Kunst und Künstler über Jahrhunderte prägte und weil sich Susanne Krell beiden Ländern gleichermaßen verbunden fühlt, sei dieser Einstieg erlaubt. Zumal er mehr ist als Anekdote und Pointe, denn er führt uns mitten hinein in jene Kernfragen von Bild und Religion, von Aura und Symbolik, die im Mittelpunkt der Arbeiten von Susanne Krell stehen.
Das Problem der heiligen Veronika
Veronika, eine der Frauen aus dem Umkreis Jesu, bewunderte ihren Heiland in frommer Ergebenheit. Ständig wollte sie bei ihm sein, doch Jesus zog predigend mit seinen Jüngern von Ort zu Ort. Da verfiel Veronika auf einen nahe liegenden Gedanken: Sie beschloss, einen Künstler aufzusuchen, um bei ihm ein Bildnis des Heilands anfertigen zu lassen, auf dass sie „davon Trost empfinge wann er selbst nicht gegenwärtig war“, wie die Legenda aurea berichtet. Mit einem Stück Leintuch für das Portrait ging sie zum Bildnismaler. Unterwegs begegnete ihr Jesus und erbat von ihr das Tuch. Als er es ihr wieder zurückgab, zeigte es sein Antlitz. So bekam Veronika auf wundersame Weise das authentische Bildnis des Herrn.
Die Fragestellung, vor der Veronika stand, ist höchst aktuell – und zugleich alltäglich wie philosophisch. Es ist auch die Fragestellung von Susanne Krell.
Haben oder Sein
Denn, Hand aufs Herz: Wer von uns hat es nicht schon einmal gewollt, etwas zu haben, festzuhalten, zu besitzen von einer angebeteten Person, von einer ganz besonderen Situation? Wer hat noch nie etwas „mitgenommen“ von einem herausragenden historischen oder religiösen Ort, auf Reisen etwa? Einen kleinen Stein, eine Pflanze, Muscheln, etwas Sand… Derartige symbolische Mitbringsel zieren ungezählte Kaminsimse. Eine solche Mitnahme ist – wie im Fall antiker Reste – zuweilen sogar mit Recht verboten. Aber dennoch verständlich. Und auf legalem Weg ist dies oft nur dann möglich, wenn – selten genug – Abriss oder Zerstörung des begehrten Originals ohnehin offiziell beschlossen ist. Was zugegebenermaßen noch keineswegs ausgemacht war, als abertausende „Spechte“ sich bereits Stücke aus der Berliner Mauer brachen und als Souvenir mit nach Hause nahmen.
Die entscheidende Frage lautet: wie nehme ich ein „echtes“ Stück mit, ohne damit zwangsläufig das Original oder dessen Idee zu versehren? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten.
Die erste ist strukturell protestantisch (und steht wohl auch der islamischen Lehre nahe). Sie ist exklusiv. Sie lautet: es geht gar nicht. Jedenfalls nicht materiell, denn alleine auf das Wort, das Geistige, die Idee komme es an, nicht auf das Bild. Bezeichnenderweise hatte Martin Luther für das in Rom aufbewahrte Bild der heiligen Veronika nur Spott übrig: Die Päpste in Rom gäben vor, „es sei unseres Herrn Angesicht“, doch in Wirklichkeit sei es „nichts denn ein schwartz Bretlin, viereckt.“
Die zweite Antwort ist strukturell katholisch. Sie ist integrativ. Sie lautet: wir kennen die Menschen, wir kennen uns selbst, wir benötigen Bilder, wir benötigen materiell existierende Zeugnisse – also müssen wir Mittel und Wege finden, diese anzubieten.
In diesem grundsätzlichen Dilemma zwischen tendenziell bilderfeindlicher jenseitiger Konsequenz und tendenziell bildseliger diesseitiger Inkonsequenz wurde große Kulturgeschichte geschrieben.
Aura und „attigit“
Die Genügsameren unter uns greifen auf Artefakte zurück – Bücher, Postkarten, Fotos. Die Frommen bevorzugen theologisch halbwegs abgesicherte Transfer-Produkte wie geweihtes Wasser aus Lourdes, Heiligenbilder mit (echtem oder fast echtem) Ablass aus Rom oder Steine und Sand aus Galiläa, worüber der Heiland vermeintlich geschritten ist.
Die Kunst hat im Lauf ihrer langen Geschichte viele Möglichkeiten symbolischer und materieller „Mitnahme-Effekte“ hervorgebracht: Das Bild im Bilde, die Spolie, die Kopie, die Variante, die Fotografie, Reliquien und Berührungsreliquien, Abklatsche, Abgüsse, Frottagen. Sie alle versuchen dasjenige im wahrsten Sinne des Wortes einzufangen, was man als das „Ursprüngliche“, das „Heilige“, das „Symbolische“, das „Einzigartige“, das „Original“, den „Bedeutungsträger“ bezeichnet – oder, um mit Walter Benjamin zu sprechen: dessen „Aura“.
Es verwundert kaum, dass der Katholizismus hier besonders erfindungsreich war. Als in Aachen während der alle sieben Jahre stattfindenden Heiligtumsfahrt die dortigen Reliquien gezeigt wurden, drängten sich die Menschenmassen so sehr, dass nicht alle Pilger die begehrten „Heiltümer“ erblicken konnten. Ein neues Produkt fand daher im 14. Jahrhundert reißenden Absatz: Pilgerzeichen in Form handlicher Metallreliefs mit einem kleinen integrierten Spiegel. Man hielt sie hoch über die unzähligen Köpfe der frommen Menge und fing so den Glanz und die vermeintliche Heilkraft der Reliquien ein. Andere Pilger brachten kleine Tücher oder Papierchen mit und hielten diese an die Reliquien bzw. an deren Behältnisse. Dadurch sollte sich die segensreiche und heilende Kraft der Heiligtümer auf Papier oder Tuch übertragen und konnte so „mitgenommen“ werden. Die „Echtheit“ und Heilkraft solcher Sekundär- oder Berührungsreliquien wurde auf daran angebrachten kleinen Zetteln bestätigt, auf denen „attigit“ (lat.: „hat berührt“) zu lesen war.
Merke: Die „Aura“ einzufangen klappt immer und gelingt doch nie. Um es gleich vorwegzunehmen und in der gewählten Metaphorik zu bleiben: Susanne Krell, die die schöne Bezeichnung „attigit“ als Titel für ihr ehrgeiziges Projekt nutzt, ist von der Konsequenz der intensiven geistig-intellektuellen Durchdringung ihrer Arbeit her protestantisch, die schöpferischen Ergebnisse ihres Denkprozesses aber sind in ihrer Präsenz, Symbolik und Sinnlichkeit höchst katholisch.
Veronikas „Frottage“
Doch zurück zur heiligen Veronika. Die katholische Tradition bietet gleich mehrere Versionen des magischen und faszinierenden Bildtransfers an. Im Gegensatz zu dem erwähnten wundersamen Geschenk Christi berichtet eine andere Version davon, dass Veronika den angebeteten Erlöser in Jerusalem auf dessen Kreuzweg nach Golgatha begegnete. Sie bot ihm an, seine Schmerzen zu lindern und reichte ihm ein Tuch, damit er seinen Schweiß trocknen und sein Blut abwischen konnte. In dieses Tuch soll der Todgeweihte sein Gesicht gedrückt haben. Zuhause entfaltete Veronika ihr Schweißtuch und sah darauf als Negativabdruck das Antlitz des Herrn. Wiewohl durch keine frühe Schriftquelle bestätigt, fand diese Version als kanonisierte sechste Station des Kreuzwegs Eingang in die katholische Lehre. Zu Recht, lotet sie doch radikal die Möglichkeiten des frommen Bildtransfers aus – auf dem schmalen Grat zwischen Volksfrömmigkeit, Aberglaube und monotheistisch-theologischer Lehre.
Kaum nötig zu erwähnen, dass dieses Verfahren des quasi göttlichen Direktabdrucks auch der Arbeit der Susanne Krell sehr nahe steht.
Im Anfang war das Bild
Die anrührende Geschichte vom Schweißtuch der Veronika blieb in der Kunstgeschichte nicht ohne Folgen. Während Susanne Krell im April 2008 im Historischen Gewölbe des Koblenzer Mittelrhein-Museums ihre Ausstellung „in situ – so viele Geschichten“ präsentierte, wurde zwei Stockwerke höher die Werkschau „Unser Mittelalter“ vorbereitet. Dazu gehörte auch die Analyse des Gemäldes einer „Gregorsmesse“, das vermutlich um 1500 in Brüssel entstand und zum Ur-Bestand des Museums gehört (Inv.-Nr. M33). Die kleine kostbare Holztafel zeigt – dem üblichen Kanon folgend – Papst Gregor kniend vor einem Altar, auf dem Christus als Schmerzensmann umgeben von den Werkzeugen der Passion erscheint.
Entstehung und Verbreitung des Motivs der „Gregorsmesse“ sind in der Kunstgeschichte inzwischen gut erforscht. Demnach löste nicht eine Geschichte eine Bilderflut aus, sondern im Gegenteil: Ein konkretes Bild selbst führte zur Entstehung einer folgenreichen Legende, die dann erst weitere zahllose Bilder hervorbrachte. Dieses „Urbild“ war eine wohl aus Byzanz stammende, von zahllosen Pilgern verehrte Mosaik-Ikone des Schmerzensmanns in der römischen Kirche Santa Croce in Gerusamme. Der Bericht von der Vision Gregors aus dem 6. Jahrhundert sollte die Authentizität des Bildes aus dem 14. Jahrhundert nachträglich untermauern.
Analog entstand das Veronika-Motiv. Inmitten der Passionswerkzeuge auf der Koblenzer Gregorsmesse erkennt man auch das „Schweißtuch der heiligen Veronika“: Es zeigt das Antlitz Christi, das Gesicht eines etwa 30 Jahre alten Mannes in Frontalansicht, mit langen dunklen Haaren und einem zweigeteilten Bart. So wurde es verbreitet, so prägte es unsere Vorstellung vom Aussehen Christi – vom mittelalterlichen Kölner Meister der heiligen Veronika bis zu den Christusbildchen unserer Tage. Doch auch hier gilt: Im Anfang war das Bild. Erst existierte das sagenumwobene, „nicht von Menschenhand geschaffene“ Bild des Schweißtuchs, und zwar unter den in der römischen Peterskirche aufbewahrten Heiligtümern. Dann erst tauchten die Veronika-Legenden aus dem Dunkel der Apokryphen mit Macht ans Licht. Sie dienten der nachträglichen Bestätigung der Echtheit des in Rom regelmäßig und feierlich präsentierten (und von Luther verspotteten) Bildes mit dem wundersam authentischen Antlitz Jesu.
Du sollst dir kein Bildnis machen
Die dem Dritten Gebot zuwiderlaufende Existenz eines Bildnisses von Gott oder Christus ist die contradictio in adiecto des Katholizismus und paradoxerweise zugleich ihre conditio sine qua non: ein platonischer Prüfstein von kosmischer Dimension. Höher kann man nicht greifen – dagegen sind alle Bildnisse von Heiligen, Bilder anderer Bilder, Artefakte oder Spolien von heiligen Stätten und die Reliquien sämtlicher 11.000 Jungfrauen rein illustrative Glasperlenspiele. Und wie erst, wenn es sich nicht um einen Artefakt, um das posthume Idealbildnis des „wahren Menschen und wahren Gottes“ Christi handelt, sondern sogar um einen „realen“ Abdruck vom real existierenden Heiland?
Das Schicksal des Schweißtuchs
Wer sich in Nachforschungen hierzu begibt, hat endlos zu tun. Nach der byzantinischen Version handelt es sich um das „Mandylion“, das sich einst König Abgar von Edessa von Christus höchstpersönlich zu seiner Genesung erbeten haben soll und das auf verschlungenen Wegen in Ostrom als Argument im Hin- und Her des spätbyzantinischen Bilderstreits zur allseits verehrten Reliquie avancierte. Nach römisch-katholischer Lesart ist es das erwähnte „Sudarium“, das Schweißtuch mit dem Bildnis Jesu, das Veronika persönlich nach Rom gebracht haben soll, um Kaiser Tiberius zu heilen – was übrigens zur Bestrafung und zum Tod des Pilatus führte, der ja den vom kranken Tiberius begehrten „jüdischen Wunderheiler“ Jesus bereits hatte kreuzigen lassen. Oder sind Mandylion und Sudarium womöglich identisch? Vielleicht befindet sich das das römische Bildnis schon lange nicht mehr im Petersdom, sondern als „Volto Santo“ im erwähnten Abruzzen-Dorf Manoppello – falls es sich nicht sogar um das weltberühmte Turiner Grabtuch handelt…
Stoff für diverse Doktorarbeiten. Und im Sinngehalt fragwürdig, denn darauf kommt es wohl eigentlich nicht an. Papst Johannes Paul II. war 1998 klug genug, über das heiß umstrittene Turiner Grabtuch ein wahrhaft katholisches Urteil zu sprechen: „Die geheimnisvolle Faszination des Grabtuches wirft Fragen über die Beziehung dieses geweihten Leinens zum historischen Leben Jesu auf. Da das aber keine Glaubensangelegenheit ist, hat die Kirche keine besondere Befugnis, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen.“
Veronika, Susanne und „das wahre Bild“
Veronika selbst jedenfalls wurde in vielfacher Hinsicht zur Bildträgerin. Ihre laut Lexikon der christlichen Ikonographie „unhistorisch-legendäre Persönlichkeit“ verschwindet hinter ihrer Funktion. Selbst ihre Identität ist fragwürdig: Handelte es sich um Martha, die Schwester des Lazarus aus Bethanien (Lk 10,38ff; Jo 11,1 und 12,2), oder war sie die von Christus geheilte Blutkranke (Mt 9,20; Mk 5,25; Lk 8,43) oder etwa deren Tochter, oder, wie andere vermuten, die Frau des Zöllners Zachäus (Lk 19,1)? Offen ist, ob sie das Bildnis noch zur Zeit der Wirksamkeit Christi oder während seines Kreuzwegs bekam. Auch über ihr weiteres Schicksal herrscht Uneinigkeit. Nach der bereits erwähnten Version brachte sie das Schweißtuch nach Rom zu Kaiser Tiberius, nach einer anderen überließ sie es dort Papst Clemens – wo es erst 705 schriftlich erwähnt wird –. Ist sie die gleiche Veronika, die in Soulac an der Girondemündung begraben liegt und in Bordeaux verehrt wird? Stimmt die Überlieferung in der um 1300 geschriebenen Bibel des Robert von Argenteuil? Oder eher der Bericht in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine? Dieser hatte etwa 40 Jahre zuvor das Dilemma der „Wahrheit“ der Veronika diplomatisch zusammengefasst: „Also steht es in jener apokryphen Geschichte zu lesen. Ob das aber zu halten sei, steht bei des Lesers Urteil.“
Die schönste Erklärung aber formulierte um 1700 auf der Schwelle von Gegenreformation zur frühen Aufklärung in Paris Jean Mabillon, Benediktiner in Saint-Germain-des-Prés und zugleich Begründer der Historischen Hilfswissenschaften: Der Name der hinter ihrem Bild verschwindenden „Veronica“ geht demnach zurück auf das legendäre Bild selbst – als Anagramm nämlich der Bezeichnung des wahren Bildnisses des Herrn, der „Vera icon“.
Auch die Künstlerin Susanne Krell verschwindet hinter ihrer Kunst. Sie prägt sie nicht durch große Gesten, durch ihren eigenen Duktus oder durch die sonst so gern zitierte „unverwechselbare künstlerische Handschrift“. Prägung erfährt ihre Arbeit – im wahrsten Sinne des Wortes – durch die grafische Struktur des Abriebs heiliger Stätten, ergo durch diese selbst und deren Aura. Dass darin Bedeutung liegt, ist inhärent. Dass ihre Methode sowohl aktuell als auch im tiefsten Sinn historisch und philosophisch ist, wird offenbar. Dass darin Schönheit liegt, ist auf scheinbar wunderbare Weise immer wieder möglich.
Dr. Mario Kramp
| Director of the Mittelrhein-Museum in Koblenz
The Sudarium of Susanne Krell An excursus on faith, image and aura
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
For Sister Brandina Paschalis Schröder, a nun with the contemplative order of Trappists, it is an open and shut case. The portrait of Jesus Christ in linen, housed in the church in the Abruzzo commune of Manoppello is the true impression of the face of the Saviour. To be close to the portrait, she left her convent – Maria Frieden, in the Eifel region of Germany – and took up residence as a hermit in the Italian mountains. For as is said of this image even in the year 1263, in the Legenda aurea, brought by St. Veronica and of priceless value: ‘the image derives its force from a devout and pious heart alone’.
Because Catholic imagery have influenced art and artists in the Rhineland – in North Rhine-Westphalia and Rhineland-Palatinate – for centuries, and because Susanne Krell has ties of equal strength to both of these German Laender, this is an appropriate way of broaching the topic of this article. Particularly since the introduction serves as more an anecdote or point, as it leads us to the heart of the core issues of image and religion, aura and symbolism, that are at the heart of the works of Susanne Krell.
The problem of St. Veronica
Veronica, one of the women in the circle of those closest to Jesus, admired her Saviour in pious devotion. She wanted to be with him continuously, yet Jesus travelled from place to place with his disciples, preaching. Veronica came up with an understandable idea: she decided to visit an artist and to ask him to create an image, saying: ‘My lord and my master when he went preaching, I absented me oft from him, I did do paint his image, for to have alway with me his presence, because that the figure of his image should give me some solace’, as the mediaeval version of the Legenda aurea reports. 1 With a piece of linen for the portrait, she set out to visit the portraitist. On her way there, she met Jesus, who asked her for the piece of cloth. When the cloth was returned to her, it bore his likeness. This is the wondrous way in which Veronica obtained the authentic image of the Lord.
The question with which Veronica was presented is highly contemporary – and both quotidian and philosophical at the same time. It is also the question that presents itself to Susanne Krell.
To have or to be
After all, honestly: who among us has not, at one time or another, wanted to have, to hold onto or to own something belonging to a person we worship, or something from a very special situation? Who among us has never ‘walked off’ with some memento from an outstanding historical or religious place, perhaps during our travels? A small stone, a plant, seashells, a bit of sand… Such symbolic souvenirs can be found adorning countless fireplace mantles. A keepsake such as this is – as in the case of the remnants of antiquity – occasionally prohibited by law. Still, the urge to take one is understandable. Collecting souvenirs legally is often possible only when – rarely enough – the sought-after original has already been officially designated for demolition or destruction. Which, admittedly, was by no means a foregone conclusion when thousands upon thousands of ‘woodpeckers’ hacked fragments out of the Berlin Wall and took them home as souvenirs.
The decisive question is this: how do I take along ‘genuine’ fragment without inevitably vitiating the original or its idea? There are two answers to this question.
The first is, structurally, Protestant in nature (and doubtless comes close to Islamic theory). It is exclusive. And the answer is: it can’t be done. At least not in a material sense, for what matters is the word of a long, the spiritual aspect, the idea, and not the image. Significantly, Martin Luther had only ridicule for the image of St. Veronica housed in Rome: the Popes in Rome claimed ‘it is the countenance of our Lord’, but in reality it is ‘nothing more than a little black board, squared.’
The second answer is, structurally, Catholic in nature. It is integrative. And this answer is: we know human nature, we know ourselves, we need images, we need materially existing evidence – so we need to find ways and means of providing these.
In this fundamental dilemma – between an otherworldly consistency that is essentially inimical to imagery, on the one hand, and a worldly inconsistency that is essentially encouraging of imagery on the other – great cultural history has been written.
Aura and ‘attigit’
The more modest among us seek recourse to artefacts – books, postcards, photos. The devout prefer halfway theologically approved transfer products such as holy water from Lourdes, likenesses of the saints with (genuine or nearly genuine) indulgence from Rome, or stones and sand from Galilee, over which the Saviour is presumed to have walked.
Over the course of its long history, art has generated a host of avenues for symbolic and material ‘take-away effects’: images within images, spolia, copies, variations, photographs, relics and contact relics, imitations, casts, rubbings. They all represent the attempt to capture, in the full sense of the term, what has been referred to alternately as the ‘initial’, the ‘holy’, the ‘symbolic’, the ‘unique’, the ‘original’, or the ‘bearer of meaning’ – or, to use a term familiar from the work of Walter Benjamin: the ‘aura’ of the object in question.
It should scarcely come as any surprise that Catholicism has been particularly inventive in this respect. When the relics in Aachen were shown as part of the pilgrimage to the city that took place every seven years, the press of the crowds was such that not all of the pilgrims could catch a glimpse of the sought-after ‘sacred objects’. Which is why a new product sold like hotcakes in the 14th century: pilgrims' badges in the form of compact metal reliefs equipped with a small mirror. The pilgrim held the badge high above the countless heads of the pious crowd, thereby capturing the lustre and the purported healing power of the relics. Other pilgrims came equipped with small pieces of cloth or scraps of paper and touched them to the relics or to their containers. The idea was that the beneficial and healing power of the relics would transfer to the paper or cloth, making this power ‘portable’. The ‘genuineness’ and healing power of such secondary or contact relics was certified on small tags attached to them, bearing the inscription ‘attigit’ (Lat.: ‘has touched’).
Note: one always manages, and yet always fails, to capture the ‘aura’. To anticipate the point while remaining within the confines of the chosen metaphor: Susanne Krell, who has chosen the lovely designation of ‘attigit’ as the title for her ambitious project, is Protestant for the consistency of the intensive spiritual-intellectual approach with which her work is suffused; for their presence, symbolism and sensuousness, however, the creative results of her thought process are extremely Catholic.
Veronica’s ‘frottage’
But let us return for a moment to St. Veronica. Catholic tradition actually offers several versions of the magical and fascinating transfer of the image of the Saviour. In contrast to the above-mentioned wondrous gift of Christ, another version reports that Veronica encountered the adored Redeemer in Jerusalem as he was carrying his cross to Golgotha. She offered to mitigate his pain and handed him a cloth with which to dry his perspiration and wipe off his blood. Legend has it that he pressed his face against the cloth. At home, Veronica unfolded her sudarium only to discover a negative of the countenance of the Lord. Although not confirmed by any early written sources, this version was incorporated into Catholic theory as the canonized sixth station of the Cross. And rightly so, as it radically plumbs the possibilities of the pious transfer of image – along the narrow path between popular devotion, superstition and monotheistic-theological theory.
It scarcely warrants mentioning that this process of the quasi-divine direct impression is also very closely related to the work of Susanne Krell.
In the beginning was the image
The touching story of the sudarium of St. Veronica was not without art-historical consequence. As Susanne Krell presented her exhibition, entitled ‘in situ – so viele Geschichten’, in April 2008 in the Historic Vault of the Mittelrhein-Museum in Koblenz, Germany, two storeys higher, preparations were ongoing for the exhibition of works entitled ‘Unser Mittelalter’ [Our Middle Ages]. This latter exhibition also included an analysis of the painting of a ‘St. Gregory’s Mass’, presumably painted around 1500 in Brussels and part of the museum's original collection (Inv. no. M33). The small precious wood panel illustrates - in keeping with conventional canon – Pope Gregory kneeling before an altar upon which Christ as the Man of Sorrows appears, surrounded by the tools of the Passion.
The art-historical genesis and dissemination of the motif of the ‘St. Gregory’s Mass’ have since been thoroughly researched. Researchers have determined that it was not a story that unleashed a flood of images but rather quite the opposite: a specific image itself led to the development of a momentous legend which, in turn, generated countless images. This ‘initial image’ appears to have been a mosaic icon of the Man of Sorrows, dating originally to Byzantium, worshiped by countless pilgrims in the Roman Church of Santa Croce in Gerusamme. The report to the vision of St. Gregory in the sixth century was intended to corroborate the authenticity of the 14th-century image, after the fact.
The Veronica motif came about in a similar fashion. Amidst the tools of the Passion seen in the St. Gregory’s Mass in Koblenz, one notices the ‘Sudarium of St. Veronica’: it shows the countenance of Christ, a frontal view of the face of a roughly 30-year-old man, with long, dark hair and a parted beard. The image was disseminated in this fashion, thus determining the picture we have of the appearance of Christ – from the mediaeval Cologne Master’s rendition of St. Veronica down to the modern-day miniatures of Christ. Here, too, however, the maxim applies: in the beginning was the image. First, there was the legendary image of the sudarium ‘not created by human hands’, which was housed among the sacred objects at St. Peter's Basilica in Rome. Only then did the Veronica legends begin to come to light in full force, emerging from the darkness of the Apocrypha. They provided a retrospective confirmation of the genuineness of the wondrously authentic countenance of Jesus regularly and solemnly presented in Rome (and ridiculed by Luther).
You shall not make for yourself an idol
The existence of an image of God or Christ, which runs counter to the Third Commandment, is the contradictio in adiecto of Catholicism and paradoxically at the same time its conditio sine qua non: a Platonic touchstone of cosmic proportions. One cannot reach higher than this – in comparison, all likenesses of saints, images of other images, artefacts or spolia of sacred places in the relics of all 11,000 virgins are nothing more than illustrative glass bead games. And how much more of the contradiction is there when what is involved is not an artefact, not a posthumous ideal rendering of the ‘true man and true God’, but rather a ‘real’ impression of the real, existing Saviour?
The fate of the sudarium
Those who delve into the investigations of this face an endless task indeed. According to the Byzantine version, the sudarium is the ‘mandylion’, originally requested by King Abgar of Edessa, in a petition submitted to Christ himself, to aid in the former’s convalescence. The sudarium, according to this version, convolutedly ended up in the Byzantine Empire as an argument in the back-and-forth of the late Byzantine iconographic controversy over the universally venerated relic. According to the Roman Catholic reading, it is the same ‘sudarium’, the perspiration-cloth featuring the likeness of Jesus, that Veronica is said personally to have brought to Rome to heal the Emperor Tiberius – which, incidentally, led to the punishment and death of Pilate, who had already ordered the crucifixion of the ‘Jewish miracle-healer’ Jesus sought by the ailing Tiberius. Or are the mandylion and sudarium possibly one in the same? Perhaps the Roman image has long since vanished from St. Peter's Basilica and is to be found instead as a ‘Volto Santo’ in the above-mentioned Abruzzo village of Manoppello – unless it is not actually the world-famous Shroud of Turin …
This is material for a variety of doctoral dissertations. Not to mention semantically questionable, as this actually misses the point. In 1998, Pope John Paul II was clever enough to pronounce a truly Catholic judgement in regard to the hotly contested Shroud of Turin: ‘The mysterious fascination of the Shroud forces questions to be raised about the sacred Linen and the historical life of Jesus. Since it is not a matter of faith, the Church has no specific competence to pronounce on these questions.’
Veronica, Susanne and ‘the true image’
Veronica herself, at any rate, became a bearer of images in multiple respects. Her ‘unhistorical-legendary personality’, in the words of the Lexikon der christlichen Ikonographie [Dictionary of Christian Iconography] is eclipsed by her role. Even her identity itself is questionable: is it in fact Martha, the sister of Lazarus of Bethany (Lk 10.38ff; Jo 11.1 and 12.2), or was she the woman who had been suffering from a haemorrhage and was healed by Christ (Mt 9.20; Mk 5.25; Lk 8.43), or perhaps her daughter, or – as others suspect – the wife of Zaccheus, the tax collector (Lk 19.1)? Whether she obtained his likeness during the time of his works, or as he was marching to his crucifixion, remains an open question. There is also a lack of agreement as to her ultimate fate. According to the version already mentioned, she brought the sudarium to Rome, to Emperor Tiberius; according to another version, there she presented it to Pope Clemens – where the first written mention of it is to be found in the year 705 –. Is this the same Veronica who lies buried in Soulac at the mouth of the Gironde estuary and is worshiped in Bordeaux? Is there truth to the traditional account in the bible of Robert of Argenteuil, written around the year 1300? Or rather the report in the Legenda aurea of Jacobus de Voragine? Some 40 years prior, he had diplomatically summarised the dilemma that the ‘truth’ surrounding Veronica entailed: ‘And hitherto is this story called apocryphum read. They that have read this, let them say and believe as it shall please them.’2
But the most beautiful explanation was provided around the year 1700, on the threshold of the Counter-Reformation in the early Enlightenment in Paris, by Jean Mabillon, a Benedictine in Saint-Germain-des-Prés and simultaneously the founder of palaeographics: according to Mabillon, the name of the ‘Veronica’ who vanished behind her image traces back to the legendary image itself – as an anagram of the designation of the true likeness of the Lord, the ‘Vera icon’.
The artist Susanne Krell, too, disappears behind her art. She shapes her work not with major gestures, or through her own style or through the otherwise so frequently cited ‘unmistakable artistic trademark’. Her work receives its stamp – in the fullest sense of the term – by virtue of the graphic structure of the rubbings taken from holy sites, ergo through these sites themselves, and through their aura. It is inherent that the results of this work should be vehicles of meaning. That her method is both contemporary and most profoundly historical and philosophical, is apparent. The apparent miracle in her work is that it entails the possibility of perennial beauty.
„Noli me tangere“ - Gedanken zum attigit.projekt aus christlich-theologischer Sicht, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Prof. Dr. Albert Gerhards
| Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn
„Noli me tangere“ – Gedanken zum Attigit-Projekt aus christlich-theologischer Sicht
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Biblische Grundlagen
„Noli me tangere - Faß mich nicht an!“, so übersetzte der Kirchenvater Hieronymus in seiner lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, das griechische Wort „haptein“ bei der Schilderung der Begegnung Marias von Magdala mit dem auferstandenen Jesus (Joh 20,17). Die neueren Übersetzungen schreiben: „Halte mich nicht fest!“. Um das Haptische geht es auch im attigit.projekt von Susanne Krell. In der biblischen Tradition beider Testamente sowie in der christlichen Liturgie spielt das Berühren eine große Rolle. Dabei kommt immer wieder die Ambivalenz dieses Gestus zum Vorschein. Das Berühren des Unreinen sondert aus der Gemeinschaft aus, das Berühren des Heiligen kann zur Heilung und zum Heil, aber auch zum Verderben führen. Weist der auferstandene Jesus die Berührung der Maria zurück, so fordert er am Ende des gleichen Kapitels den zweifelnden Apostel Thomas auf, seine Wunden zu berühren: „Streck deinen Finger aus - hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,27 f).
Auch im Leben des irdischen Jesus kommen immer wieder Berührungen vor, so bei den Heilungsberichten: „Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.“ (Mk 7,32-35). Die Menschen versuchen ihrerseits, Jesus zu berühren, um Heilung zu erfahren (Mt 14,36; Mk 3,10; Lk 6,19). Am eindrucksvollsten ist die Erzählung von der Frau, die an Blutungen litt: „Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten an ihn heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Sofort hörte die Blutung auf und sie spürte deutlich, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein“(Mk 5,27-34).
Hier wie bei der Erscheinungsgeschichte am Ostermorgen kommt die Ambivalenz der Berührung des Heiligen zum Ausdruck, wie sie im Ersten Testament grundgelegt ist. Wer unautorisiert den heiligen Berg Sinai (Ex 19, 12 f) oder die Bundeslade (Num 4,14; 1 Chr 15,13) berührt, ist verloren. Auch wer Unreines berührt, ist ausgestoßen, wenn er sich nicht der kultischen Reinigung unterzieht, d.h. mit dem Reinigungswasser in Berührung kommt (Num 19,1-22). Am Versöhnungstag galt das Blut von Opfertieren als Entsühnungsmittel (Lev 16). Auf die Reinigungsrituale des jüdischen Opferkultes nimmt der Hebräerbrief Bezug: „Christus aber ist gekommen als Hohepriester der künftigen Güter; und durch das erhabenere und vollkommenere Zelt, das nicht von Menschenhand gemacht, das heißt nicht von dieser Welt ist, ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt. Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh die Unreinen, die damit besprengt werden, so heiligt, dass sie leiblich rein werden, wie viel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst kraft ewigen Geistes Gott als makelloses Opfer dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen, damit wir dem lebendigen Gott dienen“ (Hebr 9,11-14).
Liturgische Vergegenwärtigungen
Wohl wie keine andere Religion lässt das Christentum die Gläubigen mit dem Heiligen in Berührung kommen. Nicht nur das äußere Berührtwerden mit dem Heiligsten, sondern das In-sich-Aufnehmen gehört zum Wesen des christlichen Glaubens, realisiert in der Liturgie des Abendmahles, der Eucharistie: „Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sagte: Nehmt und esst; das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet und reichte ihn den Jüngern mit den Worten: Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,26-28).
In allen sakramentalen Vollzügen der römisch-katholischen Liturgie gibt es rituelle Berührungen. Bei der Taufe kommt der Täufling mit dem geweihten Wasser in Berührung (vgl. Ez 47,1-12; Offb 22,1). Explizite Berührungen gibt es bei den Salbungen, der Bekreuzigung, der Handauflegung und beim Effata-Ritus (vgl. Mk 7,32-35). Auch die Firmung wird als Berührungsritus in Kombination von Handauflegung, Salbung und Bekreuzigung vollzogen. Der Backenstreich des älteren Ritus ist jedoch weggefallen. Auch das Bußakrament kennt ursprünglich die Handauflegung bei der Lossprechung. Die Krankensalbung wird ebenfalls als Berührungsritus mit Salbung und Handauflegung gespendet. Bei der Trauung ist das Händereichen der Brautleute konstitutiv, die Bekräftigung durch den Repräsentanten der Kirche geschieht ebenso in Form einer Berührung (Stolaritus). Schließlich sind die Ordinationen (Bischofs-, Priester- und Diakonweihe) voll von Berührungsriten in Form von Handauflegungen, Salbungen und dem Friedenskuss.
Neben den sakramentalen Kernriten gibt es eine Fülle weiterer Berührungsriten und -gesten in der Liturgie: der Kuss zur Verehrung von heiligen Zeichen und Bildern, das Reichen der Hände zum Friedensgruß, das Besprengen und Segnen mit geweihtem Wasser etc.
Insbesondere die Volksfrömmigkeit kennt vielfältige Formen der Kontaktnahme mit dem Heiligen durch Berührung: das Berühren heiliger Orte, Bilder und Reliquien, die Mitnahme von Berührungsreliquien von Wallfahrtsheiligtümern. Hier schließt sich der Kreis zum attigit.projekt.
Theologische Reflexionen
Die besondere Nähe christlicher Religiosität zum Phänomen des Berührens hängt sicherlich mit dem Dogma von der Menschwerdung des Logos zusammen. Es geht nicht nur um das Hören und Schauen, sondern um das im wörtlichen Sinne „Begreifen.“ So heißt es zu Beginn des Ersten Johannesbriefs: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens“ (1 Joh 1,1). Diese Konkretheit der Inkarnation bis hin zum Tod des menschgewordenen Gottessohnes am Kreuz macht zugleich das Scandalum des Christentums im Verhältnis zu den anderen monotheistischen Religionen aus. Kann man, darf man den unfasslichen Gott so denken, dass er anfassbar wird? Auch der christliche Gott ist nicht einfach ein Gott „zum Anfassen.“ Er ist da, und zugleich entzieht er sich dem Zugriff. Maria von Magdala und die Jünger müssen lernen, Jesus loslassen zu können, damit er auf eine neue Weise gegenwärtig werden kann. Die Sinne können eine Hilfe sein, doch können sie den Glauben, der in der biblischen Tradition vom Hören (im Sinne des Zeugnis-Gebens) kommt, nicht ersetzen. Thomas von Aquin (13. Jh.) dichtete in seinem Fronleichnamshymnus „Adoro te devote“: „Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir, doch des Wortes Botschaft offenbart dich mir“ (Visus, tactus, gustus in te fallitur, sed auditu solo tuto creditur). Die Kirche darf sich der Gegenwart ihres Herrn zwar gewiss sein, doch bleibt diese Gegenwart verborgen bis zum Ende der Zeiten, wenn der zum Vater zurückgekehrte Sohn nach dem christlichen Glaubensbekenntnis „wiederkommt in Herrlichkeit“.
Dieses Wissen um die gleichzeitige Gottesnähe und –ferne nähert die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam einander an. Alle drei sind bezogen auf das Wort der Offenbarung, das unabhängig von Orten und Zeiten wirkt. Dennoch kennen alle drei Religionen heilige Zeiten und heilige Orte als Markierungspunkte auf dem Weg. Die Wallfahrt zu heiligen Stätten ist eine zutiefst menschliche Übung, die durch die Offenbarungs- bzw. Schriftreligionen zwar relativiert, aber nicht substituiert ist. Nicht die Dinglichkeit des Ortes an sich, sondern sein Verweischarakter auf die besondere Nähe zu Gott, wie sie z.B. in der Person heiligmäßiger Menschen erfahrbar wird, ist von Bedeutung. So kennen alle drei Religionen das Aufsuchen der Begräbnisstätten bedeutender biblischer Gestalten, haben also gemeinsame Wallfahrtsstätten.
Das attigit.projekt fügt dem Bekannten eine wesentliche neue Dimension hinzu. Möglich geworden ist dies aufgrund der gewandelten Beziehungen zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen, die trotz aller verbleibenden und gelegentlich sich wieder verschärfenden Differenzen stärker vom Dialog geprägt sind als je zuvor. Der Besuch heiliger Stätten der jeweils anderen Religion durch führende Religionsvertreter oder gar das Beten für den Frieden am gleichen Ort wie 1986 von Papst Johannes Paul II. mit Vertretern der Weltreligionen in Assisi veranstaltet, wäre vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Das Neue des attigit.projekts ist das Einander-in-Beziehung-Setzen wichtiger „heiliger Orte“ der drei Religionen. Die Frottage von einem heiligen Ort schafft eine Art Berührungsreliquie, die nun im Austausch, in der „Visitatio“, eine neue Form des Dialogs aufnimmt. Die trennenden Gegensätze werden nicht geleugnet, aber doch auf einer anderen Ebene miteinander ins Gespräch gebracht. Der Blick konzentriert sich nicht mehr vornehmlich auf die Differenzen, sondern auf das den drei Religionen Gemeinsame im Bekenntnis des einen Gottes, des Schöpfers, Erhalters und Vollenders der Welt. Die von Menschen errichteten Mauern ihrer heiligen Orte sind Hilfen für den Glauben an den Gott der Treue. Der im attigit.projekt künstlerisch zum Ausdruck gebrachte Dialog ist eine Mahnung, aber auch eine Ermutigung an die Adresse der Juden, Christen und Muslime, ihren gemeinsamen Beitrag für den Weltfrieden zu leisten.
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Prof. Dr. Albert Gerhards
| Professor for Liturgical Studies at the Catholic-Theological Faculty of the University of Bonn
„Noli me tangere“ – Thoughts on the attigit.projekt from a Christian-Theological Point of View
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Biblical Foundations
‘Noli me tangere – Do not touch me!’ This is how the Early Father of the Church Hieronymus rendered the Greek word ‘haptein’ in his Latin translation of the Bible, the Vulgata, in describing the encounter between Mary Magdalene and the risen Jesus (John 20.17). More recent translations write: ‘Do not hold me’. The haptic is also at issue in the attigit.projekt of Susanne Krell. Touching plays a major role in the Biblical tradition of both Testaments, and in the Christian liturgy. The ambivalence of this gesture comes to light over and over again. Touching of the impure sorts people out of the community, touching of the sacred can lead to healing and to salvation, but it can also lead to ruin. Whereas the resurrected Jesus repudiates the touch of Mary, at the end of the same chapter he calls on the doubting Apostle, Thomas, to touch his wounds: “‘Put your finger here, and see my hands; and put out your hand, and place it in my side; do not be faithless, but believing.’ Thomas answered him, ‘My Lord and my God!’” (John 20.27 f.).
Touching is a recurrent event in Jesus' earthly life as well, as in the reports of healing: ‘And they brought to him a man who was deaf and had an impediment in his speech; and they besought him to lay his hand upon him. And taking him aside from the multitude privately, he put his fingers into his hears, and he spat and touched his tongue; and looking up to heaven, he sighed, and said to him, “Eph’phatha,” that is, “Be opened.” And his ears were opened, his tongue was released, and he spoke plainly.’ (Mark 7.32-35). For their part, people try to gain healing by touching Jesus (Mt 14.36; Mk 3.10; Lk 6.19). The most impressive is the narrative of the woman who suffered from haemorrhaging: ‘She had heard the reports about Jesus, and came up behind him in the crowd and touched his garment. For she said, “If I touch even his garments, I shall be made well.” And immediately the haemorrhage ceased; and she felt in her body that she was healed of her disease. And Jesus, perceiving in himself that power had gone forth from him, immediately turned about in the crowd, and said, “Who touched my garments?” And his disciples said to him, “You see the crowd pressing around you, and yet you say, ‘Who touched me?’” And he looked around to see who had done it. But the woman, knowing what had been done to her, came in fear and trembling and fell down before him, and told him the whole truth. And he said to her, “Daughter, your faith has made you well; go in peace, and be healed of your disease.”’ (Mark 5.27-34).
Here, as in the story of the appearance on Easter morning, we find an expression of the ambivalence of touching of the holy, the way it is established in the First Testament. Whosoever touches the holy Mount Sinai (Ex 19. 12 f) or the Ark of the Covenant (Num 4.14; 1 Chr 15.13) is lost. And he who comes into contact with the impure is ostracized if he does not subject to ritual purification, i.e., if he does not come into contact with purifying waters (Num 19.1-22). On the day of atonement, the blood of sacrificial animals was considered a means of expiation (Lev 16). The Letter to the Hebrews refers to the purification rituals of the Jewish sacrificial rituals: ‘But when Christ appeared as a high priest of the good things that have come, then through the greater and more perfect tent (not made with hands, that is, not of this creation) he entered once for all into the Holy Place, taking not the blood of goats and calves but his own blood, thus securing an eternal redemption. For if the sprinkling of defiled persons with the blood of goats and bulls and with the ashes of a heifer sanctifies for the purification of the flesh, how much more shall the blood of Christ, who through the eternal Spirit offered himself without blemish to God, purify your conscience from dead works to serve the living God.’ (Hebr. 9.11-14).
Liturgical Visualisations
To a degree unlike any other religion, Christianity allows its faithful to contact with the sacred. Beyond an external being-touched by the Holiest of Holies, corporeal assimilation is also part and parcel of Christian faith, and is realised in the liturgy of Holy Communion, the Eucharist: ‘Now as they were eating, Jesus took bread, and blessed, and broke it, and gave it to the disciples and said, "Take, eat; this is my body." And he took a cup, and when he had given thanks he gave it to them, saying, "Drink of it, all of you; for this is my blood of the covenant, which is poured out for many for the forgiveness of sins."' (Mt 26.26-28).
Ritual touching can be found in all of the sacramental consummations of the Roman Catholic liturgy. In the case of baptism, the person to be baptized comes in contact with holy water (cf. Ez 47.1-12; Rev 22.1). There are explicit acts of touching in the case of anointing, making the sign of the cross, and the Ephphatha rite (cf. Mk 7.32-35). Confirmation, too, is carried out as a rite of touching, in combination with the laying of hands, anointing and the making of the sign of the cross. The slap that once constituted part of the rite is no longer performed, however. The sacrament of reconciliation, too, originally involved the laying of hands as part of absolution. The anointing of the sick is also administered as a ritual of touching, with anointment and laying of hands. In the case of the sacrament of marriage, the joining of hands of the bride and groom is constitutive, and the authentication by the representative of the Church also takes place in the form of a form of contact (stola rite). Finally, the ordinations (holy orders for bishops, priests and deacons) are full of rites of touching, in the form of laying of hands, anointment and the kiss of peace.
Along with the core sacramental rites, the liturgy features a wealth of other rites and gestures involving touching: the kiss as a sign of worship of holy signs and images, extending one’s hand as a sign of peace, sprinkling and blessing with holy water, etc.
Folk religion in particular is characterised by a variety of forms of contact with the holy through the sense of touch: the touching of holy places, images and relics, the taking of contact relics from pilgrimage relics. This is where we come full circle to the attigit.projekt.
Theological Reflections
The particular closeness of Christian religiosity to the phenomenon of touching is certainly connected to the dogma of the incarnation of the logos. What this involves is not just hearing and beholding but also, quite literally, the moment of ‘grasping’. Thus, at the beginning of the First Letter of John, it is written: ‘What existed from the beginning, what we have heard, what we have seen with our eyes, what we observed and touched with our own hands-this is the Word of life’ (1 Joh 1.1). This concreteness of the incarnation, extending up until the death of the Son of God made man on the cross, is also constitutive of the skandalon of Christendom in relation to the other monotheistic religions. Can one, may one, conceive of the unfathomable God in such a way that He becomes a graspable being? Even the God of Christianity is not simply a ‘hands-on’ God. He is here, and yet He escapes our grasp. Mary Magdalene and the Disciples have to learn to let Jesus go, so that he can become present in a new way. While the senses may be of some assistance, they are no substitute for faith, which in the Biblical tradition comes from hearing (in the sense of bearing witness). Thomas Aquinas (13th century) wrote in his Corpus Christi hymn, ‘Adoro te devote’: ‘Seeing, touching, tasting are in thee deceived: / How says trusty hearing? that shall be believed’ (Visus, tactus, gustus in te fallitur, sed auditu solo tuto creditur). The Church may be certain of the presence of its Lord, yet this presence remains concealed until the end of time, when the Son, who has returned to the Father, ‘comes again in glory’.
This knowledge of the simultaneous proximity and distance of God reconciles the three monotheistic religions of Judaism, Christianity and Islam to one another. All three derive from the word of revelation that is operative regardless of place and time. And still, all three religions recognise sacred times and sacred places as landmarks along the way. The pilgrimage to sacred sites is a profoundly human exercise, one perhaps marginalised but by no means substituted by the religions of revelation and the written word. Of importance is not the objective existence of the place in itself but rather the referentiality to a special proximity to God, as can be experienced e.g. by saintly persons. Thus, all three religions are familiar with visits to significant Biblical figures, so they share pilgrimage destinations in common.
The attigit.projekt adds a fundamental, new dimension to the already-familiar. This became possible on account of the transformed relationships among the three monotheistic world religions that – in spite of all of their residual and at times mounting differences – are now more characterised by dialogue than ever before. The visit by leading religious figures to the other religions’ sacred sites, or indeed the act of praying for peace at the same location, as Pope John Paul II did with representatives of the world religions in Assisi in 1986, would have been inconceivable just a few decades ago. What is new about the attigit.projekt is the creation-of-relationships-through-juxtaposition of key ‘holy sites’ of the three religions. The rubbing from one holy site creates a kind of contact relic which then through exchange, through ‘visitatio’, enters into a new form of dialogue. No attempt is made to deny the differences among the religions, and yet on another level, the religions are convened in dialogue with one another at another level. The gaze is no longer trained mainly on differences but rather on the factors common to all three religions in their creed in a single God, the creator and keeper of, and the agent of perfection in, the world. The walls that people have made for their sacred sites are aids to faith in a God of fidelity. The dialogue given artistic expression in the attigit.projekt is a warning, yet at the same time an encouragement addressed to Jews, Christians and Muslims to make their shared contribution to world peace.
Kultur der Berührung im Islam - Zum attigit.projekt, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Dr. Nadeem Elyas
| Beiratsvorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland
Kultur der Berührung im Islam - Zum attigit.projekt
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Kunst war und ist noch immer das wahre Abbild der Menschheit. Sie ist Ausdruck des Ist-Zustandes der Zivilisationen mit ihren Ideologien und Überzeugungen, mit ihrer Moral und Ethik, mit ihren Denk- und Handlungsweisen und mit ihrer intellektuellen und humanitären Stellung. Die Kunsthinterlassenschaften einer jeden Zivilisation können ein Lehrstück sein über ihr Menschsein in jeder Hinsicht.
Kunst war aber auch und ist noch immer Ausdruck von Wünschen und Sehnsüchten, Projektion von Idealen und Ambitionen und Bühne für Träume und Visionen. Damit wird aus der beschreibenden, gegenwarts- und vergangenheitsgewandten Kunst eine belehrende, erziehende, zukunftsorientierte Kunst.
Das attigit.projekt scheint mir von der Sehnsucht nach Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften beflügelt zu sein. Eine Sehnsucht, die die meisten Menschen haben und die wir alle brauchen. Die Voraussetzungen für diesen Frieden sind Begegnungen und Dialoge, bei denen gegenseitiges Kennenlernen die Vorurteile gegen den Anderen beseitigen und das dabei zu erreichende Vertrauen gemeinsames Handeln ermöglichen kann. Die Vermischung der Kulturträger macht dies zur überlebenswichtigen Notwendigkeit und erleichtert gemeinsames Handeln zudem. Religionen und Kulturen sind nicht mehr an nationale und geographische Grenzen gebunden. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr so sehr in Kulturräume eingeteilt, wie sie es noch vor einem Jahrhundert war. In jeder Stadt überall in der Welt findet man Vertreter fast aller Weltanschauungen, und diese nicht selten als beachtlich große Minderheit. Dies birgt Potential für Konflikte, aber auch die Chance für Begegnung und Bereicherung. Dort, wo es weniger „Fremde“ gibt, wachsen die Berührungsängste, weil die Möglichkeit der Berührung nicht vorhanden ist. Die eigenen Vorurteile haben keine Gelegenheit, durch den Kontakt mit dem Anderen korrigiert zu werden. Die Neuen Bundesländer sind hier als Beispiel zu nennen. Nur dort, wo Begegnung intensiv über Jahrhunderte stattgefunden hatte, überwogen die Vorteile der gegenseitigen Bereicherung und des zivilisierten friedlichen Zusammenlebens. Die historischen Orte Andalusien, Jerusalem und Bosnien können als Beispiele dafür dienen.
Das Projekt bedient sich der symbolischen Berührung zur Vermittlung seiner Botschaft.
Eigentlich hat Berührung erst dann einen Sinn, wenn sie zwischen wahrnehmenden, vernünftigen Lebewesen stattfindet. Der Händedruck gilt in jedem Kulturkreis als Ausdruck von Freundlichkeit und Friedfertigkeit. Er unterstreicht das gesprochene und besiegelt das gegebene Wort. Die islamische Tradition erzieht dazu: Allahs Gesandter ergänzt seine Empfehlung „Verbreitet den Friedensgruß unter euch!“ mit dem Hinweis „Wenn immer zwei von euch sich begegnen und sich die Hand geben, fallen ihre Sünden, wie das Laub vom Baum.“ Er steigert es noch mit der Empfehlung, sich nach einer Reise zu umarmen, auch wenn es sich um eine kurze Reise gehandelt hat.
Allahs Gesandter pflegte bei seinen Krankenbesuchen die Hand auf das leidende Organ des Kranken zulegen und zu sagen: „O Du Herr aller Menschen wende das Leid ab. Gib ihm Heilung, Du bist der Heiler. Gib ihm Heilung, die kein Leid übrig lässt.“ „Ich bitte Allah, den Erhabenen, Herrn des erhabenen Thrones, dass Er das, was dich quält und was dich besorgt, von dir nimmt.“ Die heilende Wirkung kommt nicht durch die physische Berührung, auch wenn diese durch den Propheten vollzogen ist; die Heilung kommt allein von Gott. Mildernd wirken allerdings der Zuspruch der Worte und die menschliche Wärme der Berührung.
Wenn selbst für den Propheten gilt, dass von ihm keine Heilung und kein Segen ausgehen, sondern nur von Gott allein, so gilt das nach der traditionellen islamischen Lehre eher für alle anderen Menschen und Gegenstände.
Selbst die Kaaba als größtes Heiligtum im Islam gilt nur als Gebetsrichtung. Die Berührung der Kaaba darf nicht damit verbunden werden, Segen, Kraft oder Heilung von dieser Berührung erhalten zu wollen. Beim Berühren des Schwarzen Steines, der in einer Ecke der Kaaba eingebracht ist, sagte der Khalif Omar: „Ich weiß, du bist ein Stein, der weder nützen noch schaden kann. Hätte ich nicht den Propheten dich küssen sehen, würde ich dich nicht küssen.“ Der Islam will, dass der Mensch sein Schicksal nicht an Gegenständen knüpft, sondern sich Gott ergeben, auf Ihn vertrauen und durch das eigene vernünftige Handeln sich selbst helfen soll. Nichtsdestotrotz suchen manche Muslime Heil und Segen durch Berührung von Mausoleen, Bäumen und Steinen.
Die Berührung von Gegenständen kann durch die menschliche Wahrnehmung große Wirkung erzielen. Sich vorzustellen, die größten Heiligtümer der Weltreligionen begegnen sich allesamt an einem Ort, bedarf einer unermesslichen Phantasie. Es wäre viel leichter, Vertreter dieser Weltreligionen an einem Ort zusammenzuführen. Dies wurde gelegentlich praktiziert. Meistens blieb es aber als symbolische Geste von kurzer Lebensdauer und so blieb bei vielen der Wunsch und die Sehnsucht nach einer effizienten Begegnung der Weltanschauungen bestehen. Die graphischen Versuche, die Begegnung der Weltreligionen zu veranschaulichen, stießen auf kontroverse Reaktionen. Die Symbole der Weltreligionen in den Logi multireligiöser Verbände zu vereinen oder die verschiedenen Heiligtümer in Fotokollagen zusammenzuführen, erzeugte bei manchen Missbehagen, bei vielen jedoch Nachdenklichkeit und bei wenigen sogar Rückbesinnung auf die vorhandenen Gemeinsamkeiten. So gesehen, haben diese Versuche ihr Ziel nicht verfehlt.
Die drei Monumente: der Petersdom, Al-Azhar und die Klagemauer haben für die jeweilige Religionsgemeinschaft eine hervorragende Bedeutung. Al-Azhar ist als die älteste Universität der Welt für viele Muslime Symbol für Gelehrsamkeit, Vernunft und Glaube. Bei der Betrachtung des attigit.projekts kommt mir immer wieder der Gedanke, die drei behandelten Orte besuchen sich gewissermaßen durch die künstlerischen Aktionen von Susanne Krell gegenseitig. Das Anbringen der Frottage eines dieser Monumente auf das nächste hat den Wert einer Begegnung und einer Berührung. Die Frottage zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Abbildung ist, sondern eine kontaktbedingte Wiedergabe und durch direkte Berührung erzeugte Selbstdarstellung. Und so überträgt die Frottage einen echten Teil vom einen zum anderen, lässt beide sich gegenseitig spüren, die Hand geben und umarmen. Dabei behalten alle beteiligten Monumente ihre Identität und Besonderheit. Keines ist genötigt, sich zu verleugnen oder Kompromisse zu schließen. Sie alle sind dadurch nicht ärmer und nicht weniger geworden, sondern durch die anderen bereichert worden.
Daraus geht für mich die Botschaft dieses Projekts an die Anhänger der drei monotheistischen Religionen: Sich im gegenseitigen Respekt zu begegnen, den Dialog zivilisiert zu führen, sich auf die Gemeinsamkeiten zu besinnen und sich gemeinsam den Problemen der Menschheit zu stellen.
„Sag: O Leute der Schrift, kommt her zu einem zwischen uns und euch gleichen Wort, dass wir niemandem dienen außer Gott und Ihm nichts beigesellen und sich nicht die einen von uns die anderen zu Herren außer Gott nehmen.“
Dr. Nadeem Elyas
| Chairman of the Central Council of Muslims in Germany
Culture of Contact in Islamt - On the attigit.projekt
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Art always has been, and remains, the true reflection of humanity. It is the expression of the actual condition of civilisations, with their ideologies and convictions, their morals and ethics, their mentalities and methods, and their intellectual and humanitarian stances. The objects of art that every civilisation leaves behind can educate us about what it means, for each civilisation, to be fully human.
Still, art has also been, and remains, an expression of desires and yearnings, a projection of ideals and ambitions, and a stage upon which dreams and visions are played out. Hence, even descriptive contemporary and retrospective art has an instructive, an educational and future-oriented, role for us.
The attigit.projekt seems to me to be carried aloft by a yearning for peace among religious communities – a yearning most have, and one we all need. This peace builds upon encounters and dialogues in which mutual acquaintance can take the place of mutual prejudices, resulting in a trust that makes common action possible. As the vehicles of culture increasingly blend together, this mutual acquaintance proves vital to survival while at the same time making common action easier to achieve. Religions and cultures are no longer tied to national and geographic boundaries. No longer is the world of the 21st century easily divisible into regions of cultural influence the way it was just a century ago. In every city, all over the world, you can find representatives of practically all worldviews, not infrequently in numbers that constitute a sizable minority. This involves not only the potential for conflict but also the opportunity for encounters and enrichment. Fear of contact with “foreigners” flourish best where these ‘foreigners’ are only rarely seen – for want of an opportunity for contact. One’s own prejudices cannot find rectification through contact with persons considered ‘other’. The newly formed states of the former East Germany provide an example of this. Only in places where such encounters have taken place at an intensive level over the centuries has the balance been tipped in favour of the benefits of mutual enrichment and civilised, peaceful cohabitation. The historical sites of Andalusia, Jerusalem and Bosnia serve as examples of this.
The project utilises symbolic contact to convey its message.
Actually, contact becomes meaningful only once it occurs between sentient, reasonable living beings. In every society, handshaking is considered an expression of friendliness and a peaceable approach. It underscores the spoken word while confirming the word by which one stands. The Islamic tradition promotes this outlook: the Messenger of Allah supplements his recommendation, ‘Spread the greeting of peace amongst yourselves!’, remarking: ‘Any two Muslims who meet and shake hands before parting, their sins fall as leaves fall from a tree.’ He enhances this with the recommendation to embrace after a journey, even if it is only a short journey.
When visiting the sick, the Messenger of Allah used to lay his hand upon the sick person’s ailing organ, saying: ‘O Allah! The Lord of the people, the Remover of trouble! (Please) cure (Heal) (this patient), for You are the Healer. None brings about healing but You; a healing that will leave behind no ailment.’ ‘I ask Allah, the Mighty, the Lord of the mighty Throne, to cure you.’ Healing is not the result of physical contact, even if this is what the Prophet accomplished; healing comes from God alone. Words of comfort, however, and the warmth of the human touch, are soothing as well.
If it can be said of the Prophet himself that healing and blessing proceed not from him but from God alone, then this is all the more true, according to traditional Islamic theory, for all other people and objects.
Even the Kaaba, as the most sacred monument in Islam, is only a direction for prayer. Contact with the Kaaba may not be linked with the desire to obtain a blessing, strength or healing as a result of this contact. Upon touching the Black Stone built into one corner of the Kaaba, Caliph Omar observed: ‘Verily I know that thou art a stone; thou dost no good or harm in the world, and if it was not that 1 saw the prophet kiss thee, I would not kiss thee.’ Islam wants man not to tie his fortunes to objects, but rather to surrender to God, to place his trust in Him; and, through his own reasonable actions, to help himself. Nonetheless, some Muslims seek their welfare and blessing through contact with mausoleums, trees and stones.
Contact with objects can have a major effect through the workings of human perception. It takes a vast imagination indeed to envisage the greatest shrines of the world religions all converging in a single location. It would be much easier to convene representatives of these world religions in a single location. This has actually been achieved, from time to time. Usually, however, these encounters have remained short-lived symbolic gestures. Consequently, many still have the desire and yearning for an effective encounter among the major worldviews. Graphic attempts to visualise an encounter of world religions have been met with controversial responses. Combining the symbols of the world religions in the logos of multi-religious associations, or assembling the various sacred shrines in photo collages, has aroused misgivings for some, have prompted reflection for many, and for a few they have even turned attentions back to the existing commonalities. From this point of view, these attempts have not missed their mark.
The three monuments: St. Peter’s Basilica, Al-Azhar Mosque and the Western Wall are all sites of major significance for their respective religious communities. As the oldest university in the world, for many Muslims Al-Azhar is a symbol of erudition, reason and faith. When viewing the attigit.projekt, a recurrent thought of mine is that the three locations treated pay visits to one another through the artistic interventions of Susanne Krell. Installing the frottage of one of these monuments on the next has the quality of an encounter and an act of physical tangency. Characteristic of the frottage is that it is not a likeness but rather a summary, produced through physical contact, and a self-projection generated through direct touch. And in this way, the frottage transfers a genuine portion of one to another, causing each to sense the other, to shake hands and embrace. Yet each of the monuments retains its identity and specificity. None is forced to disown itself or to make compromises. None is the poorer for the encounter, none is diminished; rather, through the others, all have been enriched.
For me, the message of this project for the followers of the three monotheistic religions proceeds from this. It is a call to experience one another in mutual respect, to conduct a civilised dialogue, to reflect on the things these religious communities have in common and, together, to face up to the problems confronting all of humanity.
‘Say: O People of the Scripture! Come to an agreement between us and you: that we shall worship none but Allah, and that we shall ascribe no partner unto Him, and that none of us shall take others for lords beside Allah.’
Na laga’at: Bitte berühren - Gedanken zu Susanne Krells Arbeiten aus jüdischer Sicht, in: attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
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Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka
| Rektor des Abraham Geiger Kollegs der Universität Potsdam
Na laga’at: Bitte berühren
Gedanken zu Susanne Krells Arbeiten aus jüdischer Sicht
in:
attigit.projekt, Wienand Verlag Köln 2008
Zu den wohl berührendsten Ansichten aus Jerusalem gehören die Bilder von Gläubigen an der Westmauer, der Stützmauer des im Jahre 70 n.d.Z. zerstörten Tempels. Voller Ehrfurcht und Sehnsucht spüren sie dem nach, was hier einst das Allerheiligste des jüdischen Volkes war. „Wir sehen alle verhüllten Hauptes die Hände ringen, oder ein jüdisches Gebetbuch mit den Fingern mit weinender Stimme sich gebärden, jetzt den kalten Stein küssen, jetzt die glatte Mauer anfassen“, schrieb Johann Nepomuk Sepp, der seine Reise nach Palästina 1863 in Jerusalem und das Heilige Land festhielt.
So wie Pilger der Gegenwart Gottes an der Westmauer nachspüren, so fängt Susanne Krell in ihren Frottagen das Wesen dieses Ortes ein, flüchtig und immerwährend zugleich. Das Verhältnis von Ferne und Nähe, das auch den Gegensatz von Unreinem und Reinem birgt, kennen wir mit Bezug auf die Offenbarung Gottes schon aus der Hebräischen Bibel: „Du musst aber rings um das Volk eine Grenze machen, ihnen aber sagen: ‚Hütet euch, den Berg zu besteigen oder einen Teil davon zu berühren’“, sprach Gott zu Mose am Sinai (Ex 19:12), und in Num 4:19f ist davon die Rede, dass das Heiligtum und alle heiligen Geräte zunächst eingewickelt werden müssen und erst dann von den Kindern Kehats getragen werden sollen, „damit sie das Heiligtum nicht unmittelbar anrühren und sterben.“
Nach der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des jüdischen Volkes ist, um es mit Heinrich Heine zu sagen, die Tora zu unserem „portativem Vaterland“ geworden. Ehrfurcht und Liebe gelten nun ihr: Ehe im Gottesdienst die Segenssprüche über die Tora gesprochen werden, vor und nach der öffentlichen Toralesung, berührten die Gläubigen sie einst mit ihren Fingerspitzen oder Lippen. Da der Talmud derartige Berührungen eines geheiligten Gegenstandes als ungebührlich betrachtet, ist es üblich geworden, ein Stück der Tora mit dem Gebetsschal oder auch mit einem Gebetbuch zu berühren und dieses Objekt dann zu küssen. So erklärt sich vielleicht auch der Brauch, dass man bei der Toralesung einen Zeigestab benutzt: es entspricht nicht der Würde der Tora, sie beim Lesen womöglich mit den Fingern zu berühren. Deshalb braucht es vermittelnde Objekte, um den Kontakt zum Heiligen aufzunehmen.
Juden in aller Welt halten bis heute die Erinnerung an den zerstörten Tempel lebendig, indem sie ein Stück Wand in ihrem Heim unverputzt lassen oder ein „Misrach“ an die Wand hängen, eine Bildtafel, die auf Osten, auf Jerusalem verweist. Warum sollten wir uns dies nicht auch durch eine Frottage der Westmauer, der Kotel, vergegenwärtigen? So kann uns die Struktur der geheiligten Oberfläche mit einem heiligen Ort verbinden.
Die Technik ist nicht ganz unbekannt. Uns Juden in Deutschland sind Frottagen bisher vor allem als Mittel bewusst, im Verfall befindliche jüdische Friedhöfe zu inventarisieren und sie damit vor dem Vergessen zu bewahren. Dabei werden die noch erkennbaren Inschriften und Symbole auf den Grabsteinen mittels Abreibungen kopiert und archiviert. Gut 70 Jahre nach Verfolgung und Schoa ist das ein einfacher und wirkungsvoller Weg, an ausgelöschte jüdische Gemeinden zu erinnern, an den Zeitbruch, den man oft auch mit einem Satz aus dem Buch Habakuk beschreibt: „Denn der Stein schreit aus der Mauer.“ So ist die Geschichte des jüdischen Volkes: mehr als Steine ist uns oft nicht geblieben.
Wer sich vor der Schoa retten konnte, trug an seinem Schicksal, wie es Hilde Domin gegen Ende ihrer Poetik-Vorlesungen beschrieb: „Exilant, der den Stein schleppen muss. Sein Stein ist die Heimat, sein Stein ist die Sprache.“ Umso größer ist die Sehnsucht: „Zurück / ins zukünftige / Meinland Deinland / Hier heißt der Stein / Zeder Zitrone […]“, dichtete etwa Rose Ausländer, und nicht von ungefähr hat etwa die makellose Oberfläche des Etrogs, einer Zitrusfrucht, besondere rituelle Bedeutung.
Der Stein von Jerusalem aber, beiger Kalkstein, den die Briten zur Mandatszeit zum obligatorischen Baumaterial machten, ist zu einem Symbol Jerusalems in aller Welt geworden. So sehr, dass eine Synagoge in Berlin-Wilmersdorf meinte, eine Replik der Jerusalemer Kotel in diesem honigfarbenen Material aufrichten zu müssen.
Aber Heiligkeit lässt sich nicht kopieren. Die Frottagen von Susanne Krell machen uns die Westmauer um vieles be-greif-barer und bringen uns in geistige Einstimmung auf das ewige Jerusalem. Ganz wie Hilde Domin in ihrem Gedicht: „Wo die neue Stadt beginnt, Jerusalem, die Goldene, aus Nichts.“
Blickt man aus diesem Bewusstsein einfachster Mittel auf die Arbeiten von Susanne Krell, so vermittelt sie Präsenz des Heiligen – aus Nichts. Man möchte sagen: Na laga’at: Bitte berühren.“
Susanne Krell, in: in situ | so viele Geschichten, Kat. Koblenz 2008
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Dr. Gabriele Uelsberg
| Direktorin LVR_LandesMuseum Bonn
Susanne Krell
in:
in situ | so viele Geschichten, Kat. Koblenz 2008
Wer sich mit den zeitgenössischen Arbeiten von Susanne Krell auseinandersetzt, begibt sich mit ihr zugleich auf den Weg und die Reise einer Sichtbarmachung von Vergangenheit, Geschichte und Örtlichkeit, die in ganz besonderem Maße den Begriff der „Vergegenwärtigung“ plausibel macht. Die Künstlerin begibt sich auf die Suche nach den Spuren einer über die Aktualität hinaus gültigen Zeitlichkeit, die sie mittels Frottagetechnik auf Papier und Leinwände von Mauern, Gebäuden, Plätzen und Steinen abreibt. Bisweilen integriert sie auch die unmittelbar petrifizierte Form von Zeit – nämlich Steine - in ihre Arbeiten, die sie von Orten und aus Landschaften heraus als sichtbar gewordene Lithografien der Historie einsammelt.
Mit der Ausstellung „In Situ – so viele Geschichten“ thematisiert Susanne Krell unter anderem auch die Geschichte des Mittelrhein-Museums und des historischen Gebäudes, in dem dieses beheimatet ist. Das ehemalige Kaufhaus für Waren aus aller Welt mit seinem historischen Gewölbekeller ist ein Ort, in dem sich die Spuren der Vergangenheit wie eine dicht gefügte Patina auf die Flächen und Räume niedergelegt haben, und denen die Künstlerin in ihrer besonderen Art und Weise nachspürt. Für die Präsentation im Mittelrhein-Museum hat Susanne Krell bewusst eine Kombination gewählt aus originalen Objekten und Videoarbeiten, in denen sie gleichsam die Summe ihrer Reise-Aktionen, mit den entsprechenden Realisationen zusammengefasst hat und die nun in ein kontinuierlich sich wandelndes Bild ergeben.
Die Hauptvideo-Arbeit „In Situ“ besteht so aus 148 Orten und 148 Frottagen, die die Künstlerin über einen langen Entwicklungszeitraum gesammelt hat und zeigt in 32 konzentrierten Minuten Orte und Gebäude aus aller Welt, die Susanne Krell aufgesucht und reflektiert hat und jeweils in einer konkreten Frottage abgerieben und mitgenommen hat. Die Videoarbeit ist in einer kleinen weißen Holzsäule installiert, so dass die Besucher sich darüber beugen müssen, wenn sie die Bilder des Monitors betrachten wollen. Dieser „Umstand“ verweist auf die Situation, in der sich die Künstlerin selbst mit ihrer Arbeit vor Ort befindet, bei der sie sich – manchmal unter schwierigen örtlichen, politischen oder auch sozialen Bedingungen – in der Öffentlichkeit bewegt, um die Frottagen an teils belebten, teils an durch besondere bedeutende Aspekte befrachteten Räume durchzureiben. Die räumlichen Koordinaten fordern dabei nicht selten von ihr „sich zu verbiegen“, um die Aktion durchzuführen. Dabei ist es aber in erster Linie auch mental stets ein „Kniefall“ vor der Vergangenheit und der Geschichte im Prozess der Arbeit, den die Künstlerin vollzieht.
Diese Verneigung vor der Besonderheit von Ort und Raum in der Zeit mag den Betrachter des Videos „In Situ“ allein dadurch berühren, dass auch er gezwungen ist, sich niederzubeugen, um die besondere Faszination zu erfahren, die in der Inhaltlichkeit der Arbeit evident wird. Die 148 Abriebzeichnungen aus aller Welt werden auf einem kleinen waagerecht liegenden Bildschirm gezeigt und im jeweils nachfolgenden Bild einem ganz bestimmten Ort oder Bauwerk zugewiesen. Es finden sich auf der ganzen Welt verteilte Plätze und bedeutende Gebäude von Budapest bis Bangkok, von Pompeji bis Kroatien, von Barcelona bis Frankfurt an der Oder, von Kairo bis Koblenz, an denen Susanne Krell ganz authentisch ihre Kunstaktionen durchgeführt hat.
Die Künstlerin Susanne Krell gestaltet ihr Ausstellungskonzepte stets um eine Serie oder eine Reihe, die einen längeren Zeitraum mit vielen Reisen und Ortswechseln überspannen und konzentriert die Präsentation dann bewusst auf einen Ort und eine Installation. So gelingt es ihr aus der Fülle der Eindrücke aus aller Welt eine verdichtete Komposition an einem einzigen Ort zu gerieren, die in sich die Summe aller Bezüge trägt. Im einem zweiten Ansatz begibt sich Susanne Krell dann jedoch in der Regel am Ort der Präsentation auf erneute Spurensuche und zieht so Bezüge zu der Geschichte und atmosphärische Zeitlichkeit des unmittelbaren Ausstellungsraumes, in der die komprimierte Präsentation realisiert wird.
Dieses Ausstellungskonzept realisiert die Künstlerin natürlich auch in der geschichtsträchtigen Stadt Koblenz und an dem Ausstellungsort Museum in seinem historischen Gebäude mit seiner historischen Sammlung. Susanne Krell ist in der Stadt und im Museum selbst auf die Suche gegangen und hat Plätze und Orte befragt und untersucht, um sie dann in einer Zusammenfassung in die Ausstellungskonzeption zu integrieren. Entstanden ist aus dieser Auseinandersetzung zum einen die Video-Projektion „Staples“, in der unter Bezugnahme auf die wechselnde Geschichte des Museumsgebäudes als Warenhaus, Bilder und Begriffe gesammelt sind, aus der Vergangenheit und als Bildstreifen wie in die Höhe gestapelt auf das vorhandene Lapidarium projiziert werden. Die Begriffe, die auf die Vergangenheit des Kaufhauses aber auch auf die Vergangenheit der Stadt Koblenz insgesamt abzielen, verdichten sich so zu einem Bild- und Wortteppich mit Bezügen unterschiedlichster Form. Eine weitere Arbeit realisierte sich noch kurz vor Fertigstellung der Ausstellung in Bezug auf die Platzanlage um das Museum herum, dessen wechselvolle Geschichte so auch direkt in die Gebäudesituation des Mittelrhein-Museums eingebracht ist.
Unmittelbarer noch nimmt eine weitere Arbeit direkt auf das Museum selbst Bezug. In der großen Wandarbeit „Bogen“, die die Künstlerin auf Nessel gestaltet hat, zeigt sie in einer farbigen Frottage in Übereinanderschichtungen die Orte, an denen die Sammlung des Museums in der Vergangenheit gelagert wurde. Die verschiedenen Orte ergeben so ein gemeinsames Bild mit farbiger Gestaltung und erreichen neben der historischen Dimension hier auch einen hohen Grad an malerischer Dichte und atmosphärischer Präsenz.
Die Aneignung von Ort und Zeit, gelingt Susanne Krell immer wieder vor allen Dingen durch die Technik der Frottage. Diese Form des Abreibens einer Oberfläche ist nur auf den ersten Blick hin ein „Eingriff“ und enttarnt sich bei näherer Betrachtung als ein äußerst subtiler und respektvoller Umgang mit dem vorgefundenen Objekt der Auseinandersetzung. Susanne Krell hat selbst einmal die Bedeutung dieser Technik für ihre Arbeit wie folgt erklärt:
„Eine Frottage erstellen heißt eine Idee, ein Ideengebäude berühren. Frottagen repräsentieren für mich jene Ordnungen, Regelwerke und Ideen, für die das jeweilige Gebäude steht. Bei einem Besuch der prähistorischen Steinalleen und Dolmen in Carnac/Britannien vor einigen Jahren entstand nach langem Suchen nach der geeigneten Möglichkeit, etwas mitzunehmen von diesem Ort, ohne ihn zu zerstören, die Idee der Frottage als Sammlung einer Spur. Foto oder Zeichnung haben Distanz zum Gegenstand, nur die Frottage braucht diese distanzlose Berührung. Ein Prozess der Annäherung ist notwendig, das Vor-Ort-Sein ist Bedingung.“
Seit Jahren nun arbeitet Susanne Krell nun mit diesem so gewonnenen und immer noch wachsenden Archiv von Spuren und öffnet sich die Option im Atelier und unter den unterschiedlichen Installationsbedingungen von Ausstellung, Präsentation und Werkserien in einer Art und Weise befreit vom ursprünglichen Ort im Bewusstsein und in der Assoziation seiner Bedeutung und seiner Gewichtigkeit in immer wieder neuen Konstellationen und Verbindungen zu agieren. Gerade die Befreiung des Bildsymbols vom Ort macht es in seiner Nutzbarkeit unter künstlerischen Aspekten als Idee einer Vergangenheit zum tragfähigen Element einer neuen Konzeption und Verdichtung. Die Arbeiten und Werkserien, die Susanne Krell aus den so gewonnenen Bildmodulen entwickelt sind allerdings nie als reines Zeichenmaterial miss zu verstehen, sondern sind in ihrer Bedeutung immer zugleich reine Bildwirkung und assoziative Kraft der Erinnerung. Aus diesen beiden Faktoren verdichtet Susanne Krell Gestaltungen, die sie zu neuen Bild- und Installationskonstellationen zusammenwirkt. Dabei verwebt sie in unterschiedlicher Wertigkeit den Ort, die Situation des Abriebs und die neue Vergesellschaftung mit anderen Bildelementen. In diesem Sinne sind alle Arbeiten von Susanne Krell „Vergegenwärtigungen“. Sie machen die Vergangenheit gegenwärtig und spiegeln sie im Kontext einer lebendigen Zeitgenossenschaft als die Präsenz einer immerwährenden Vergangenheit.
Historie życia w pracy, in: OBIEG, Warszawa 2008
...read german
|
...read polish
Prof. Dr. Izabela Kowalczyk
| Kunsthistorikerin, Kulturwissenschaftlerin, Professorin an der Universität der Künste in Poznan
Lebensgeschichten im Werk Confessions von Susanne Krell und Anna Tyczyńska
in:
OBIEG
Warschau 2008
Persönliche Erzählungen, Geschichten über das Leben, Erinnerungen – kennen wir aus den Zeitungen, aus dem Fernsehen, aus dem Radio, aus Büchern und manchmal auch von Kunstwerken. „Oral History“ - die erzählte Geschichte ist auch zu einer der Hilfsmethoden der Geschichtswissenschaften geworden. Die Methode beruht auf Niederschreiben von Erinnerungen und Erzählungen, die nur in der mündlichen Form existieren. „Erzählte Geschichte“ wird besonders gern zum Niederschreiben von Erinnerungen der Zeitzeugen benutzt, die langsam heimgehen. Sie wird auch dazu genutzt, vom Alltagsleben so genannter „normaler“ Menschen zu erfahren. Auf diese Art und Weise werden Lücken in der konventionellen Geschichte geschlossen.
Auf diese Methode haben Susanne Krell und Anna Tyczyńska in ihrem Werk „Confessions“ (Zwierzenia/Offenbarungen 2007/2008) zurückgegriffen. Die Autorinnen haben einige zehn Lebensgeschichten von unterschiedlichsten Frauen gesammelt: von Polinnen und Deutschen im verschiedenen Alter, mit verschiedener Ausbildung, von Hetero- und Homosexuellen (und einer Transvestiten), von kinderlosen und kinderreichen, von denen, die mit jemandem zusammen leben, und anderen die einsam sind, von gesunden, aber auch von jenen, die schwere Krankheiten durchmachten. Die Autorinnen haben ihnen einfache Fragen gestellt: nach dem Leben, der Liebe und dem Glück.
Diese scheinbar einfache, übliche Geschichten berühren viel stärker als Geschichten der Frauen, die wir aus Frauenzeitschriften kennen. Es kommt in ihnen gewisse Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit durch. Obwohl diese Frauen am Anfang sagen, dass sie glücklich sind, stellt sich im Laufe ihrer Geschichten heraus, dass sie es nicht sind, dass sie sich nach etwas sehnen, dass ihnen etwas fehlt, dass sie mehr für andere als für sich selbst leben und, dass sie sich bewusst sind, sie haben etwas verloren, etwas verpasst.
Die Geschichten, die den Autorinnen erzählt wurden, zeigen, wie sehr das Leben dieser Frauen an die Vorstellungsbilder von der traditionellen Weiblichkeit erinnern. Irena, eine von den ältesten Protagonistinnen, die angehört wurde, erzählt von der Atmosphäre ihres Familienhauses. Ihre Offenbarungen sind beinahe eine exakte Kopie der Vorstellungen von den heldenhaften Mütter-Polinnen. Ebenso sind die Träume dieser Frauen, ihre Vorstellungen vom Glück und der Liebe, die gesellschaftlich und kulturell bedingt sind und die beinahe eine Nachbildung der Werbung sind.
Eine der Frauen sagt: „Mein Traum ist, auf dem Lande zu wohnen. Und das ist bisher nicht vorbei. Damit der Wind weht. Und dass man die Wäsche draußen trocknen kann…“.
Es stellt sich heraus, dass die Mythen, Vorstellungen und Stereotype nicht nur gesellschaftlich bedingte Konstrukte sind, sondern dass sie tatsächlich in die Vorstellungen vom Leben durchdringen und auf diese Art das Leben prägen.
Vielleicht muss man manchmal von eigenen Träumen fliehen, von klischeehaften Vorstellungen vom Leben, vielleicht muss man die bunten Vorhänge der Mythen, Schemata und Stereotype herunterreißen, um anzufangen, wirklich eigenes Leben zu leben?
Die in diesem Projekt erzählten Geschichten geben keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Ein Teil der Frauen lebt nach diesen Schemata, andere versuchen, sie abzulehnen, noch andere kämpfen gegen sie einschränkende Bedingungen, noch andere passen sich der Situation an, noch andere leben in Erinnerungen und Träumen, wiederum andere versuchen, ihr Leben nach eigenen Plänen zu gestalten. Hier gibt es keine eindeutigen Antworten. Weil jede Geschichte anders ist. Jedoch, um das zu wissen, ist es wichtig, eine Gemeinsamkeit aufzubauen, sich gegenseitig Unterstützung zu leisten, sich gegenseitig zu vertrauen und sich Geschichten anzuhören, die in gesellschaftlich konstruierten Rahmen keinen Platz finden, unwichtig und unwesentlich erscheinen, so wie Frauen, die immer noch zum Schweigen verurteilt werden.
Iza Kowalczyk
| historyczka sztuki, badaczka kultury, Profesor nadzwyczajny na Uniwersytecie Artystycznym w Poznaniu
Historie życia w pracy "Confessions" Susanne Krell i Anny Tyczyńskiej; Miejskie BWA w Lesznie
OBIEG, Warszawa 2008
Osobiste narracje, opowieści o życiu, wspomnienia znamy z gazet, z
telewizji, radia, z książek, niekiedy również z dzieł plastycznych. Oral history
- historia mówiona stała się też jedną z metod pomocniczych nauk
historycznych. Metoda ta polega na zapisywaniu wspomnień, opowieści,
które istnieją jedynie w formie ustnej. "Historia mówiona" szczególnie
chętnie wykorzystywana jest do zapisu wspomnień odchodzących powoli
świadków wielkich wydarzeń, takich jak II wojna światowa i Holocaust.
Ale ta metoda wykorzystywana jest również do tego, aby dowiedzieć się o
życiu codziennym tzw. zwykłych ludzi. Wykorzystywana bywa także przez
badaczki feministyczne, które, między innymi na podstawie wspomnień,
tworzą historię kobiet - historię zwykłego, codziennego zmagania się z
życiem.
Do tej metody sięgnęły Susanne Krell i Anna Tyczyńska w pracy
zatytułowanej "Confessions" prezentowanej od 4 marca 2008 w Miejskim BWA
w Lesznie. Pierwsza prezentacja tej pracy miała miejsce na wystawie
"Scharf!" w Museum fur Kunst und Gewerbe w Hamburgu w 2007 roku
Artystki zebrały kilkanaście historii życia różnych kobiet: Polek i
Niemek, w różnym wieku, o różnym poziomie wykształcenia, hetero- i
homoseksualnych, jednej transseksualistki, bezdzietnych i mających różną
ilość dzieci, żyjących z kimś oraz samotnych, zdrowych, ale również
takich, które przeszły poważne choroby. Autorki zadały im proste pytania
- o życie, miłość, szczęście.
Historii tych kobiet możemy wysłuchać przysiadając na poduszkach przy
kolorowych domkach przypominających lampiony. W tych domkach ukryte są
odtwarzacze, do których przyczepione zostały słuchawki. Z pozoru proste,
zwykłe historie okazują się dużo bardziej poruszające niż historie
kobiet znane chociażby z prasy kobiecej. Jest w nich zawarty jakiś
smutek, jakaś beznadziejność. Bo mimo, że część tych kobiet mówi na
początku, że są szczęśliwe, w trakcie opowieści okazuje się, że nie są,
że za czymś tęsknią, czegoś im brakuje, że żyją bardziej dla innych niż
dla siebie, że zdają sobie sprawę z tego, że coś przegrały, coś im
umknęło, coś straciły.
Historie opowiedziane artystkom pokazują, jak bardzo życie tych kobiet
przypomina trajektorię wyobrażeń o tradycyjnej kobiecości. Irena, jedna z
najstarszych wysłuchanych protagonistek, opowiada o surowej atmosferze
jej rodzinnego domu. Jej wyznania są niemal kalką wyobrażenia o
bohaterskich Matkach-Polkach. Podobnie marzenia tych kobiet, ich
wyobrażenia o szczęściu i o miłości uwarunkowane są społecznie oraz
kulturowo, odnajdziemy w tych opowieściach niemal przebitki z reklam.
Jedna z kobiet mówi: "Moim marzeniem było zawsze mieszkać na wsi. I
wcale mi to nie przeszło. Żeby wiatr wiał. I żeby pranie suszyć na
dworze...".
Mity, wyobrażenia, stereotypy to społeczne konstrukcje, które w istotny
sposób oddziałują na kształt naszego życia. W pewnym sensie są też
umacniane i reprodukowane przez podmioty doznające z ich strony opresji.
Kultura popularna przenika więc do naszych wyobrażeń o życiu. Zgodnie z
jej przekazami kobiety powinny być zawsze, piękne, młode, szczęśliwe,
zadowolone. Krell i Tyczyńska dla wydobycia kontrastu pomiędzy
zwierzeniami kobiet a stereotypami utwierdzanymi przez kulturę
popularną, pokryły ściany drugiego pomieszczenie galerii fotografiami z
prasy kobiecej. "Krzyk" tych fotografii kontrastuje z intymnością i
ciszą sytuacji wsłuchiwania się odbiorców w historie życia
poszczególnych kobiet. Ale z drugiej strony, to dopowiedzenie wydało mi
się już niepotrzebne, zbyt proste i banalne...
Prezentacji w Lesznie towarzyszy też zapisany na ścianie galerii tekst, który zaczyna się słowami:
"Jesteśmy kobietami...
Żyjemy w rożnych krajach, w różnych domach, w różnych warunkach...
Jesteśmy różne...
Jesteśmy takie same...".
To rzadkie wyznanie w czasach feminizmu trzeciej fali akcentującego
indywidualność, zróżnicowanie, różne uwarunkowania sytuacji
poszczególnych podmiotów. To wręcz dziwne wyznanie w czasach
dekonstrukcji samej kobiecości, wskazania na to, że wszystko jest
konstruktem, również płeć, ciało, natura. Ale, jak pokazują wspomnienia
zebrane przez Krell i Tyczyńską, a także, jak pokazuje sytuacja
społeczna, w której wciąż ma miejsce dyskryminacja kobiet,
konstruktywizm nie daje nam możliwości zmiany sytuacji, a raczej
zatrzymuje nas na poziomie dywagacji, że wszystko już było, wszystko
jest relatywne i wszystko jest społecznie skonstruowane. I choć w teorii
wygląda to dobrze, jakoś z trudem przychodzi skonstruowanie sytuacji
społecznej jako zdecydowanie korzystniejszej dla kobiet czy chociażby
zdekonstruowanie, ale w praktyce, dyskryminacji kobiet. Czy porzucenie
wspólnotowego myślenia, nie skazało nas na marazm, a może nawet i
cynizm?
Może więc klucza do zmiany sytuacji należy szukać gdzieś indziej?
Autorki tym wyznaniem, jak i samą konstrukcją swojej pracy kładą nacisk
na wspólnotowość, na wspólnotę doświadczeń, przeżyć, wspomnień, ale
również marzeń. Chcą zbudować (odnowić?) możliwość identyfikacji,
akcentując to, co prywatne i osobiste, to, co niekiedy traumatyczne i
skryte, co wspólne dla historii życia tak wielu (bo jednak bałabym się
napisać: wszystkich) kobiet.
Autorki, jakby prześwietlają te prywatne historie, odsłaniają skrywające
je zasłony, likwidują to, co zwykle oddziela publiczne od prywatnego.
Mówi się, że prywatność dzieje się w czterech ścianach naszych domów,
zaś nasze wyobrażenie o nietykalności sfery prywatnej, każe nam odwracać
wzrok od czyjegoś dramatu, nie słyszeć krzyków za ścianą, lub choćby
tylko nie interesować się czyjąś prywatnością (ci, którzy to robią
traktowani są jako niedyskretni i wścibscy). Ale zarazem prywatność jest
także towarem: odpowiednio skonstruowana wystawiana jest na pokaz w
mediach, ujawniana w talk-showach, odsłaniana w reality-show, itp.
Jednakże ta prywatność niewiele ma wspólnego z naszą prywatnością, ze
światem naszych emocji, naszych przeżyć i doświadczeń. I może dlatego
historie, które nagrały Krell i Tyczyńska tak poruszają, gdyż są jakby
naszymi historiami?
To odsłonięcie prywatności podczas pierwszej prezentacji "Confessions"
na wystawie "Scharf!" w Hamburgu miało swe odzwierciedlenie formalne. Ze
względów ekspozycyjnych artystki stworzyły bardziej laboratoryjną,
czystą sytuację. Domki były ustawione na podeście obok siebie, były
przezroczyste, wewnątrz znajdowały się odtwarzacze CD połączone ze
słuchawkami, a na ścianach autorki umieściły teksty poszczególnych
opowieści. Domki zostały pozbawione ścian, zasłon, a więc warstwy
ochronnej. Prywatność została tu ujawniona, odkryta, odsłonięta, a wręcz
- "wybebeszona". Przez tę sterylną formę nacisk został położony na same
historie kobiet. Historie, które zostały pozbawione ochrony, ale które z
drugiej strony - zostały wydobyte z niebytu prywatności (bo według
tradycyjnych przekonań, to, co prywatne nie nadaje się do
reprezentacji). Historie te prezentowane na wystawie są w ogóle odarte z
ochraniającej je warstwy, narażone są bowiem na brak empatii ze strony
widzów, zniecierpliwienie, zniechęcenie, a może nawet kpinę. Bo przecież
na te wszystkie możliwe formy odbioru wystawiły się kobiety
opowiadające artystkom swoje historie.
Prezentacja w Lesznie, gdzie domki pokryte są kolorowym materiałem,
gdzie musimy przysiąść obok nich, stwarza sytuację bardziej ochronną
(ale jednak - czy ta ochrona nie jest pozorna?), stwarza wrażenie
ciepła, przytulności, intymności. Siadając obok tych domków na
poduszkach, musimy się do nich zbliżyć, musimy wytężyć słuch, by
usłyszeć te historie, a więc musimy jakby zbliżyć się do prywatnego
świata tych kobiet. Tu bardziej zaakcentowane są więc: wspólnotowość,
potrzeba wysłuchania opowieści życia innych kobiet, wskazanie na
społeczną niewidzialność tych narracji. Ujawnia się tu również ten
esencjonalny rys, który pojawił się w przytoczonym już fragmencie
tekstu: "Jesteśmy kobietami...".
Kobiecość jest tu jednak definiowana dość tradycyjnie - przez
prywatność, przez ograniczenie do sfery domu (zamkniętej, pozornie
kojarzonej z ciepłem, ochroną, jednakże często skrywającej tragedie, lub
choćby tylko smutki i niespełnione marzenia), przez tradycyjne zajęcia,
jak np. szycie, na co wskazuje tekstylna oprawa domków. Tym samym te
domki interpretować można jako klatki, niczym piękne klatki dla ptaków
(jeden z domków pokryty jest zresztą materią ukazującą kolorowe ptaki).
Kobiecość skonstruowana jest społecznie niczym klatka, utkana z
kolorowych marzeń i wyobrażeń - ileż razy jeszcze trzeba tę prawdę
przypomnieć?
I dlatego mam wobec tej pracy dość ambiwalentne odczucia. Z jednej
strony wydaje mi się zbyt tradycyjna, za bardzo esencjonalistyczna,
trochę nazbyt dekoracyjna, a z drugiej dostrzegam we współczesnym
dyskursie artystycznym ogromny brak tego typu prac. Sztuka feministyczna
w Polsce uległa w ostatnim czasie pewnemu wyczerpaniu. Artystki, którym
jest bliski feminizm wydają się zajmować wyszukanymi problemami, często
zupełnie oderwanymi od rzeczywistości. Nie interesuje ich
rzeczywistość, ale raczej jej symulacje, jeśli nawet krytykują system,
to zarazem z nim flirtują. Można zauważyć, że feminizm stracił swoje
radykalne, krytyczne ostrze, a niekiedy nawet służy za niezłą podporę
dla fallogocentrycznej władzy. Tymczasem brakuje prostych
feministycznych przekazów, pytania o to, jak żyją kobiety i z jakimi
problemami się borykają, dlaczego wciąż tak wiele kobiet dotyka
dyskryminacja. I sądzę, że praca Kroll i Tyczyńskiej, mimo, że bardziej
opisowa niż krytyczna, wprowadza jednak zupełnie inne spojrzenie, każąc
właśnie zadać to niewygodne, może zbyt naiwne pytanie o kobiety.
Ta praca każe zapytać o możliwość zerwania kolorowych zasłon mitów,
schematów, stereotypów, czy można zacząć żyć naprawdę - żyć własnym
życiem?
Praca Krell i Tyczyńskiej nie daje odpowiedzi na te pytania. Część
kobiet żyje podług schematów, inne starają się je odrzucać, część walczy
z ograniczającymi je warunkami, inne poddają się sytuacji, jedne żyją
wspomnieniami i marzeniami, inne próbują ułożyć sobie życie według
własnych planów. Tu nie ma jednoznacznych odpowiedzi. Bo każda historia
jest inna. Ale, żeby to wiedzieć, warto najpierw zbudować wspólnotę,
udzielić sobie wzajemnie wsparcia, obdarzyć się zaufaniem, wysłuchać
historii, które w społecznie skonstruowanych ramach, nie znajdują sobie
miejsca, wydają się nieważne i nieistotne, jak same kobiety, które wciąż
jeszcze skazywane są na milczenie.
Ein Rundblick, in: scharf! Die Frau in der Gesellschaft heute, Kat. Hamburg 2006
Kunst als Brücke zwischen West und Ost, in: auf dem Wege ..., Kat. Bonn 2006
Das Gespräch der Steine, in: Susanne Krell – Projektionen, Kat. Stadtmuseum Siegburg und Roentgen-Museum Neuwied 2005
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Prof. Dr. Frank Günter Zehnder
| Ehemaliger Direktor LVR_LandesMuseum Bonn
Das Gespräch der Steine
in:
Susanne Krell – Projektionen, Kat. Stadtmuseum Siegburg und Roentgen-Museum Neuwied 2005
Wenn man das stille Atelier von Susanne Krell in Aegidienberg besucht, verliert man bald das Gefühl, im heimatlichen idyllischen Siebengebirge zu sein. Ebenso bald spürt und weiß man aber auch, dass die Künstlerin diesen Ort des Rückzugs als festen Bezugspunkt in ihrem umtriebigen Schaffen braucht. Die durch zahlreiche – auch alte und berühmte – Steinbrüche geöffnete Bodenlandschaft der sieben Berge, die mit dem dort gebrochenen Steinmaterial errichteten Kirchen, Klöster, Kapellen, Burgen, Herrensitze, Bauernhöfe und Bürgerhäuser sowie die in die Berge getriebenen ehemaligen Stollen vermögen immer wieder den Blick auf etwas Ursprüngliches, ja auf den Ursprung der Welt zu lenken. So trägt jeder Stein, sei er auch noch so zeitgenössisch bearbeitet und verfeinert, eine archaische Botschaft in sich, kann Geschichten und Geschichte erzählen. Ein aus der Felswand gebrochener oder ein aus dem Boden geborgener Stein wird irgendwann zum ersten Male von der Hand und den Augen eines Menschen wahrgenommen, er wird technischen Prozessen unterzogen und einer Funktion zugeführt. So verbleibt er zum Beispiel dienend im Mauerverband einer Wand über Jahrhunderte sichtbar, aber unbemerkt, während ein anderer herausgehoben und als künstlerische Skulptur geadelt, gegen Gebühr besichtigt wird. Einmal verbaut, bleiben Steine in der Regel da, wo sie sind, und sie haben immer die gleichen Nachbarn. Denn sie finden sich selten in Zweit- oder Drittverwendung, werden oft vom Putz verhüllt, und schließlich können Gebäude auch kaum wandern.
Wer interessiert sich schon für Steine? Susanne Krell. Sie hat das Reizvolle an ihnen entdeckt und für sich und andere eine andauernde Faszination daraus geschöpft. Jeder belassene Stein ist urtümlich, jeder bearbeitete ist kultiviert. Die Künstlerin hat Gefühl, Verständnis und Begeisterung für Steine, die ja keine tote Materie sind, entwickelt und gibt sie weiter. Das ist es, was das Atelier materiell und spirituell füllt und was aus der heimatlichen Region weit hinausgreift: Steine aus aller Welt, aus vielen möglichen Zusammenhängen, aus manchen Ebenen und Funktionen, mit der persönlichen Geschichte der Finder, der Finderinnen oder der Künstlerin verbunden, grobe oder geschönte. Sie alle sind Zeugnisse von etwas, sie finden - entdeckt, geborgen, mitgenommen, aufbewahrt und mitunter über weite Distanzen transportiert – auf ganz merkwürdige Weise im Atelier zueinander. Von keinem der Steine hätte man das zuvor annehmen können. Hier werden sie registriert, nummeriert, inventarisiert, sie werden begutachtet, bewundert, geliebt. So sind seit Ende der achtziger Jahre einhundertfünfundfünfzig Steine - Wandersteine gewissermaßen – zusammengekommen und bilden eine Art Reliquienschatz von Susanne Krell. Darunter ist zum Beispiel ein Stein von der Sergiuskirche in Kairo, von jener Stelle, an der nach der Überlieferung Maria und Joseph mit dem Jesuskind auf ihrer Flucht nach Ägypten Rast gemacht haben. Ein anderer Stein stammt aus einer Parkanlage in Tokio, unter der das Schlachtfeld liegt, auf dem der
Tenno im Jahre 1868 dem Shogunat die Macht abnahm. Solche Steine sind Zeugen und Bedeutungsträger, ebenso wie die etwa aus Theresienstadt oder New York. Wenn man die Künstlerin von ihren Steinen und deren Kontexten erzählen hört, gewinnt man den Eindruck, dass eine Beseelung von ihnen ausgeht, die auf einer schrecklichen oder erfreulichen Geschichte, auf Erinnerung, Mahnung oder gar Magie beruht. Susanne Krell geht es nicht um die reine Materie, nicht um geologische Belege, sondern wohl eher um die Materialität, jene aus historischen oder funktionalen Zusammenhängen erwachsene spirituelle Qualität. Die bekannten Probleme einer Magazinhaltung und der verfügbare Raum im Atelier setzen dem Sammeltrieb eine Grenze, so dass der Umgang mit den Realien sich schließlich in einer anderen Form fortsetzt. Diese ist sowohl einfacher als auch komplizierter, ist sowohl haptisch als auch bildhaft, ist sowohl weltumspannend als auch auf engstem Raum stapelbar.
Susanne Krell hat ein künstlerisches Verfahren entwickelt, dessen Ergebnisse man in Anlehnung an die erwähnte Sammlung von Steinen als Primärreliquien - nun eher als Sekundärreliquien bezeichnen möchte. Aus der Geschichte des vielen Religionen gemeinsamen Wallfahrts- oder Pilgerwesens ist bekannt, dass man mitgebrachte Tüchlein oder Papierchen an die Originalreliquien bzw. deren Behältnisse anhielt und damit die Heilswirkung übertrug und mitnehmen konnte. Ausdrücklich trugen zum Beispiel solche christlichen Devotionalien die Aufschrift „attigit“ (lat.: hat berührt), die Flachware wurde dadurch zum schützenden Talisman, zur Botschaft und zum Heilsbringer. Etwas von dieser traditionellen Überlieferung steckt auch noch in der langen, längst nicht abgeschlossenen Werksequenz von Susanne Krell, die sich mit Bauten, Mauern und Steinsetzungen in aller Welt befasst. Dahinter steht ein wohl überlegtes Konzept, das trotz sorgfältiger Planung mit spontaner Umsetzung korrespondieren kann. Es bleibt aber nicht beim Konzept, sondern wird in sinnlich erlebbaren Originalen hautnah, ist trotz gleicher Herstellungsweise eine Kette von Unikaten und prägt einen unverwechselbaren Kunstprozess mit langem Atem.
Die Künstlerin bedient sich bei ihren Aktionen der Abreibetechnik, mit der ursprünglich beispielsweise auf metallene Grabplatten gravierte Abbildungen in Kirchen Englands auf Papier übertragen wurden. Max Ernst hat diese Technik 1924/25 unter dem Begriff „Frottage“ in die moderne Kunst eingeführt. Susanne Krell legt einen Papierbogen, manchmal auch Transparentpapier, auf den ausgewählten Stein, hält ihn an das Mauerstück oder die Wand und reibt mit Ölkreide die entsprechenden Strukturen auf. Ein solcher Übertragungs-Prozess dauert in der Regel so um die zehn Minuten. Da sich die ausgewählten und aufgesuchten Objekte aber in verschiedenen Ländern und Erdteilen befinden, sind eine aufwendige Logistik und zeitraubende Reisen zwingende Voraussetzung. Die so
zusammengetragenen alleine einhundertachtzehn Schwarz-Weiß-Abreibungen etwa aus Moskau, Triest, Kroatien, aus Italien, Frankreich und Ägypten bilden einerseits eine Art Archiv der Baugeschichte in mikrokosmischen Ausschnitten, andererseits sind sie mit Fingerabdrücken oder einer Gen-Datei zu vergleichen. Da findet sich für die wichtigsten Architekturen der Welt unter anderem ein Abdruck von der CheopsPyramide bei Kairo ebenso wie – in der nationalen Bedeutung vergleichbar - einer vom Platz der Einheit in Triest. Der Louvre in Paris, der Petersdom in Rom und auch der Dom wie das Prada-Stammhaus in Mailand sind dabei, der Dom zu Neapel, die Al-Azhar-Moschee in Kairo und der Kölner Dom, bretonische Dolmen und die berühmte Klosteranlage von Cluny sind ebenso vertreten wie das Bonner Beethovenhaus. Susanne Krell weiß von eher ausgefallenen und zufälligen Bildgewinnen zu berichten: Sie legte Hand an das Grab des Schahs von Persien in der Kairoer ar-Rifä'i–Moschee und besuchte bei Kairo das „Haus der Schwester der Schwiegermutter von Alyaa“, die als deutschsprachige Freundin sie dorthin einlud. Von besonderer Bedeutung und von Erinnerungswert ist ihr eine Abreibung vom Elternhaus in Betzdorf/Sieg, das - in den sechziger Jahren erbaut – verkauft ist. Über die Abreibung bleibt ihr ein originalgroßes und originales Stück Haus erhalten, kann berührt werden und ist somit greifbarer, begreifbarer als eine Fotografie. Nicht nur aufstehende Gebäude werden signifikant auf die Frottage gebannt, sondern auch Plätze und Straßen wie etwa das Bahnhofspflaster in Neapel, die Via di Regina in Pompeij oder der bereits erwähnte Platz in Triest. Die Blätter sind als pars pro toto Stellvertreter-Bilder bedeutender Orte und bilden geradezu eine kleine eigene Weltkarte. Natürlich darf der Bonner Hauptbahnhof in dieser Sequenz nicht fehlen, ist er doch der Ort, von dem aus jede Bilderoberung startet und zu dem jede zurückkehrt. Natürlich geben die Abreibe-Aktionen in der Öffentlichkeit auch Anlass zu Verwunderung und Zwischenfällen, so als etwa am Moskauer Kreml oder am Kölner Dom die herbeigeeilte Polizei den Sinn der unschädlichen Arbeit skeptisch überprüfte. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Kunst ein Alleinstellungs - Merkmal für sich reklamieren kann. Susanne Krell arbeitet vor Ort außerordentlich konzentriert, um keinen Millimeter Stein zu schädigen, um sich die ausgewählte Partie exakt einzuprägen und um den Prozess der Abnahme mit allen Sinnen zu erfassen. Die gesamte jeweilige Situation hat schließlich etwas von einer Performance, die auch in der Erinnerung die unauslöschliche Brücke zwischen dem stehenden Original und der beweglichen Abreibung bleibt. Im Moment der Arbeit sind alle Sinne der Sinnpyramide beteiligt: das Sehen wie das Hören, das Riechen wie das Fühlen. Für die Künstlerin ist dann der jeweilige Bildträger eine Projektionsfläche, auf die sie das Original mittels körperlichem Tastsinn, künstlerischer Technik und emotionaler Anrührung überträgt. Ein behutsames Vorgehen, immer auch darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen und keine Gefühle zu verletzen, findet seine Balance zwischen zärtlicher Berührung und pragmatischer Arbeitserledigung. In jedem Fall verleiht sie einem von ihr ausgewählten Stein oder einer Wandpartie eine neue Bedeutung, indem die Abreibung den Bau, den Ort, die Religion, die Funktion repräsentiert und als Botschafterin eingesetzt wird. So ist jede Abreibung auch so etwas wie eine Hoheitsformel. Hinter dem gesamten laufenden Projekt steht eine Idee, die auch Welt ordnet, die Teile unterscheidbar und damit erkennbar macht. Denn alle Oberflächen sind signifikant anders, die einen sind
durch Bearbeitung oder dauernde Berührung glatt, die anderen durch Arbeitsspuren oder Witterung voller Narben, die einen grob, die anderen fein, wieder welche voller geometrischer Muster und welche offenbaren den Steinwuchs. So gleicht kein Stein, keine Abreibung der anderen, auch wenn es durch die Jahrhunderte und über die Funktionen hinweg formale Annäherungen gibt.
Das Projekt und seine Etappen würdigen mit den Bauten Religionen und Völker, deren Geschichte und Gegenwart, Kunstform und Lebenskampf. Die Frottagen zeigen von Station zu Station, von Blatt zu Blatt absolut individuelle Muster und spiegeln die Oberflächen von Steinen, die im Dienste der Politik, der Wirtschaft, der Religion, des Verkehrs, der Kultur standen bzw. stehen. Es ist deshalb eine faszinierende und konsequente – am Petersdom entstandene - Idee, die über die Welt verstreuten Gebäude mittels der Kunst- und Papierform über Grenzen und Zeiten, über Ideologien und Räume hinweg zusammenzurücken, in zweidimensionaler Weise in Berührung zu bringen, was sich realiter nie treffen kann. So war inzwischen schon der Kölner Dom an der Kathedrale von Moskau, dem Patriarchensitz Alexij II. und der Petersdom an der al-Azhar-Moschee, der von Susanne Krell erhoffte nächste Schritt soll ein Besuch dieser Moschee an der Synagoge in Berlin sein. So lässt sich als künstlerische Vision und vielleicht auch in Wirklichkeit ein weites Netz von unterschiedlichen Bezügen über alle Gegensätze hinweg spannen. Akribisch hält die Künstlerin alle Vorgänge fest, weiß von jeder Steinabreibung wie etwa der Nr. 100 aus Los Arcos am spanischen Camino Fundort und Abnahmedaten, Lebenslauf und Eigenheiten, die samt der Abbildung in einem Findbuch ordentlich inventarisiert und dokumentiert werden.
Susanne Krell geht noch einen Schritt weiter, indem sie die Original-Abreibungen in farbige Bilder - auch größeren Formates – umsetzt. Farbe und Raum, in ihrer jeweiligen Dominanz und im Zusammenwirken, beschäftigen sie seit langem. Im Jahre 1997 hat sie in der Klosterruine Rommersdorf eine gestreckte blaue Bank inszeniert, hat die Farbkraft im steinfarbenen Raum und im Kontext zu Gelb so sensibel wie kraftvoll ausgelotet, hat die lyrischen und dynamischen Energien, die warmen und die kalten Signale beobachtet und Erfahrungen gewonnen, die sie seit dem Jahre 2000 alleine auf dem Farbklang von Blau und Gelb aufbauen lassen. Unendliche Möglichkeiten hat sie entdeckt, einige davon finden sich in den Unterlegungen der farbigen Steinbilder. Einhundertsiebzig bis einhundertachtzig solcher Arbeiten liegen bisher vor, in denen die Farben Blau und Gelb um die Führungsrolle ringen oder sich in jeweils anderen Mischungen, Proportionen oder Zusammenklängen finden. Die Valeurs entstehen durch gesonderte mehrfache Farbaufträge, die Helligkeit oder Verschattung durchdeklinieren. Sie verleihen jedem Bild einen ganz eigenen Charakter, der aus der Situationserinnerung der Malerin und aus dem momentanen Malakt geboren wird. So begegnen in den Augenblicken der Bildwerdung die individuelle Geschichte des Steins, die gespeicherte und erinnerte Wahrnehmung der Künstlerin sowie der autonome leidenschaftliche Farbauftrag einander. Das Prinzip und die Freiheit seiner Wandlung werden gewissermaßen in immer neuen Prozessen malerisch erprobt.
Unter den Farbarbeiten fallen zwei Ausdrucksweisen auf, die sich auch in ihrer Genese unterscheiden: Da gibt es einmal die lediglich abgeriebenen Bilder und zum anderen Werke, die aus Steinabreibungen collagiert bzw. komponiert sind. Leben die einen aus einer in allen Partien originären Struktur, wiederholen sich in den anderen die Muster. Lässt das eine an das Informel denken, erinnert das andere an die Ornamentmalerei. Susanne Krell ist auch dazu übergegangen, Originalfrottagen abzuzeichnen und nach autonomen Kompositionsprinzipien zu setzen. Sie gelangt so zu einem fast automatischen Arbeiten, das sich dem Zustand der Meditation annähert. Die Erinnerung an Ort und Moment der Originalabnahme stimuliert dabei den Werkprozess. Das Ganze schafft sozusagen innerhalb des gesamten Prozessverlaufs notwendige Pausen zur Neuorientierung.
Der Wahrnehmung von Realität, der Mitnahme von originalen Strukturen und Dimensionen, der malerischen und kompositorischen Neufassung sowie der Verbringung und Zueinanderführung von Steinprofilen fügt Susanne Krell jüngst noch die Form der künstlerischen „Steinwerdung“ zu. Von den Original-Vorlagen lässt sie Kartonblätter bedrucken, die sich an den Falzen zu Steinen falten lassen, die ihrerseits wieder Bauten werden können. Da finden sich neben anderen die Pont du Gard, die Kathedrale von Verona oder die Bonner Villa Hammerschmidt. Mit diesen Faltsteinen kann man die ganze Welt zusammenbauen und die unterschiedlichsten Weltideen zu einer neuen Architektur zusammenfügen. So könnte man aus Cheops-Pyramide, Kreml, Louvre und Moschee beispielsweise eine Kirche bauen und aus Dolmen einen Bahnhof. Da deuten sich viele und geistreiche Perspektiven an.
Und auch in den jüngsten Arbeiten wie der Wandarbeit „Erasmus“ in der Kirche St. Martin zu Linz/Rh. (2004) sowie in den vorhergehenden Wandgestaltungen in der Bonner Alten Rotation (2002), in der Redoute zu Bad Godesberg (2002) oder der Säulenarbeit im Kreuzgang des Bonner Münsters (2000) werden Parallelversuche sichtbar, die wie im Gut von La Roche-sur-Grane die Abreibungen am Originalort belassen und damit die alte Frage nach dem Verhältnis von Bild und Abbild diskutieren.
Nicht Lithomanie treibt Susanne Krell um, sondern ein leidenschaftliches künstlerisches Suchen, das sich mit geradezu spirituellen Ambitionen und einer Art Spurensicherung verbindet, sind die Triebfedern ihres aktuellen Schaffens. Steine und ihre Abreibungen sind – scheint's – ihre fernen und nahen Freunde. Mit intellektuellem Potential, mit kreatürlichem und kreativen Spürsinn sowie mit leichtem Gepäck ist sie ihnen auf der Spur. Dass sie stets fündig wird und dass jede neue Trophäe weitere Perspektiven gebärt, ist Gewähr dafür, die Sequenz fortzusetzen, sicherlich ohne jemals ein natürliches Ende zu finden. So ist Susanne Krell wohl auch weiterhin als Kunst-Nomadin unterwegs, um dem eigentümlichen Reiz des Gespräches mit den Steinen gelungene Bilder folgen zu lassen.
Prof. Dr. Frank Günter Zehnder
| Former Director LVR_LandesMuseum Bonn
The Voices of the Stones
About the current works of Susanne Krell
When you enter Susanne Krell`s quiet studio in Aegidienberg you easily forget you are in the idyllic hometown countryside of the Siebengebirge (Seven Hills).
At the same time you sense that this is her retreat where she devotes herself to perpetual creation. The outcrops and excavations around the seven hills, whether old or recent diggings, have provided the building material for the surrounding churches, monasteries, chapels, castles, mansions, farms and manor houses and always offers a picture of some origin, even the origin of the world.
So it is that each stone, however reshaped or prepared, discloses an ancient message or tells stories from within. A stone broken from a rocky cliff or dug from the ground and initially envisaged and appraised by a human hand and eyes is in due course technically fashioned and endowed with a purpose.
It may remain visible but unnoticed for centuries as part of a wall or be used in a honoured artistic sculpture for which you must pay to see. Once in place, stones usually remain where they are next to each other indefinitely.
Stones are hardly ever used for any other purpose than their initial function and often disappear under plaster and paint. After all buildings can´t travel.
But who is really interested in stones? Susanne Krell. She has discovered their charm, become fascinated by them and infected others with the same feeling. Each stone is primitive in origin, becoming cultivated when worked on. The artist has developed feelings, understanding and fascination for stones which are by no means dead material. She passes these emotions on to others. This is what fills her studio materially and spiritually and spreads far beyond the home region. Stones from all over the world, all with their different histories and tales linking finder and artist. Outlines or exaggerations. They are all witnesses of something found, discovered, retrieved or taken, saved and occasionally transported over long distances, finally ending up at her studio. This is not obvious for any of the stones. They are registered, numbered and stored. Observed, admired and loved.
One hundred and fifty-five stones - moving stones so to speak - have been collected and form what Susanne Krell calls a treasury of remains.
A stone, for example, from the Sergius Church in Cairo, said to be where Mary and Joseph spent the night with Jesus the boychild as they fled to Egypt. Another is from a park in Tokyo which now covers the old battlefield where the Tenno seized power from the Shogun in 1868. Such stones are witnesses and messengers like those from Theresienstadt or New York. When you listen to the artist talking about her stones you get the impression of a spirit escaping from them, revealing their good or evil stories, in memoriam or as warning, or even magic. Susanne Krell is not concerned about the basic material or geological evidence but with the materialistic cohesion between history and function which develops a spiritual quality. The familiar problems of storing material in the restricted space of the studio hindered further collection necessitating a more practical and, as it turns out, more compact, even picturesque system.
Susanne Krell has developed an artistic process which, in regard to the above mentioned collection of primary relics, results perhaps in secondary relics. Following historical religious belief in pilgrimage, we know that people felt they could absorb the healing or curing magic by applying a piece of cloth or paper to original relics and cribs and taking it away with them. Some Christian vessels used in worship carried the words "attigit" (lat.: has touched) giving these textiles the blessed synonym for mojos, messages or healers. Some of these traditions are apparent in the long and far from finished work sequence of Susanne Krell who has applied her studies to buildings, walls and stone structures all over the world. This carefully prepared concept corresponds well with spontaneous activity. It doesn´t remain a concept, but becomes a sensual and intimate experience; the making process may remain the same but each work emerges as its own unique breath in a long sigh of artistry.
The artist applies the technique of rubbing, similar to the original “brass rubbing” developed in English churches in which a sheet of paper is pressed onto the metal plaques set into the tombs and its surface “rubbed” with wax or graphite. Max Ernst introduced this technique, using the term “frottage”, into modern art. Susanne Krell places a sheet of paper, sometimes tracing paper, on the selected stone, holds it against the surface and rubs the resulting relief structure with crayon onto the paper. This copying process takes roughly 10 minutes. The locations of these chosen or discovered objects mean that much effort and time is spent on travelling and logistics. The 118 black and white rubbings from Moscow, Trieste, Croatia, Italy, France and Egypt are not only an archive of architectural history in the form of microcosmic extracts but are also comparable to fingerprints or genetic data. Some of the most famous buildings in the world like the pyramid of Cheops near Cairo or, equally important in national respect , Unity Square in Trieste, the Louvre in Paris, St.Peter’s in Rome, the cathedral or the Prada district in Milan, Naples cathedral, the Al-Azhar mosque in Cairo , Cologne cathedral, English cathedrals, and the famous monastery of Cluny are included as well as the house in Bonn where Beethoven was born. Susanne Krell knows of other exotic or coincidental pictures: she laid hands on the tomb of the Shah of Persia in the ar-Rifaí-mosque in Cairo and visited the “House of the Sister of the Mother-in-law of Alyaa”, who invited her as a German speaking friend. Of special significance is her rubbing of her parent’s home in Betzdorf/Sieg, which, built in the sixties, was eventually sold. The rubbing gives her a natural sized piece of the house to be touched and, therefore, remains close to her– closer than a photo. Vertical buildings are not the only structures she uses. Streets and squares, like the railway station cobblestones in Naples, the Via di Regina in Pompeii or the square in Trieste mentioned earlier. The sheets of paper are pars pro toto representative pictures of places and draw their own world map. Of course, the Bonn railway station is also included in this sequence, this being the starting point of all “conquering” journeys and the point of return. Naturally, doing these rubbings in public cause surprise and triggers incidents, as in the case of the Moscow Kremlin or Cologne cathedral, when police sceptically inspected the innocent work. This is evidence enough that the work may claim its own uniqueness. Susanne Krell works emphatically and in a determined way at each place to preserve every millimetre of the stone, to reproduce each selected part exactly and to absorb the process with all senses. Each work is a performance which remains in the memory like an infinite bridge between the static original and the mobile rubbing. While the work is in progress all senses of the sense-pyramid are alert, seeing and hearing, smelling and feeling, the pictures becoming projections in which she transforms the original using her touching sense, artistic technique and emotions. It is a careful procedure, always careful not to provoke attention or hurt feelings, which maintains the balance between a tender touch and pragmatic work accomplishment. To each selected stone or wall she gives a new meaning. The rubbing of a building is a function of the place, the religion, and becomes an ambassador. Each rubbing is something like a special formula. Every project follows an idea, which also arranges the world, differentiating and identifying all its parts. All surfaces are significantly different; some have become smoothed to touch or treatment, others have suffered abrasion by the weather or natural decomposition; some are bulky, some are fine, with geometric patterns, or simply reveal stone evolution. No two stones or rubbings are exactly the same, though similarities may develop over the centuries. The project and its progress honour religious buildings and civilizations, their history and presence, art and survival. The frottages show step by step, from sheet to sheet, absolutely individual patterns and reflect the surfaces of stones which have played a part in politics, economy, religion, transport and culture. It has therefore, become, as developed at St.Peters in Rome, a gathering of the spirits of buildings of the world, irrespective of location and ideology and preserving them two-dimensionally in order to overcome the impossible distances which reality imposes. Cologne cathedral in apparent close environment of the Moscow cathedral, the patriarchal home of Alekseev II and St.Peters within touching distance of the al-Azhar-mosque. Susanne Krell plans to take the rubbing of this mosque to the synagogue in Berlin. Perhaps this artistic vision of different references will resolve the contradictions. Her sharp work builds up her knowledge of every stone and its story. Number 100 is from Los Arcos in Spanish Camino; locality and directions, life profile, features and images are all carefully collected together and documented in her “findings book”.
Susanne Krell goes one step further by colouring the original rubbings in larger sizes. Colour and space, working together in their own specific dominance have been attracting her attention for a long time. In 1997, in the ruins of the monastery in Rommersdorf, she staged a long blue bench, and balancing the luminosity of the colours of the stone-shaded room in combination with yellow, she developed a sensual but powerful atmosphere which allowed lyrical and dynamic energy to escape and be observed. The experience she derived from these cold and warm signs have become a colour scheme of blue and yellow on which she has worked since the year 2000.
She has discovered endless possibilities, some of which are found in the colour layers of the stone pictures. 160 – 180 of these images have been produced so far in which blue and yellow have dominated or have shared in other combinations, proportions or variations. The valour works produce the spirit from several layers of paint which run down from light or shadow. They give each picture a certain character emanating from the artist’s memory of a situation and produced by the momentous act of painting.
The individual story of the stone meets the memory of the artist and the passionate stroke of the colour. The principle and freedom of the process are continuously challenged in the act of painting.
Two expressions appear under the paintworks which differ in their genesis: there is the pure rubbing and the works which are collages or compositions of stone rubbings;
those which exist as a genuine structure, and those which occur as repeated patterns; those which suggest informality, and those which imply ornamental painting.
Susanne Krell has also approached the process of tracing the original frottage and composition autonomously. She develops an almost automatic routine and appears to wander into a meditational flow. The memory of place and the moment of the original application stimulate the working process. The building process within this procedure allows time to pause and re-orientate.
The perception of reality, taking away original structures and dimensions, and the artistic re-composition as well as the gathering of stone profiles, are additionally influenced by her artistic "stoning". Original stone images become templates which are printed on cardboard and folded to the shape of stones which inevitably grow into buildings. Such buildings are the Pont du Gard, the cathedral of Verona, the Bonn Villa Hammerschmidt. You can build the whole world with these folded stones and develop new architectural ideas: a church made of the Cheops pyramid, the Kremlin, Louvre and mosque for example. Imagine the many ingenious perspectives.
The latest artworks such as the wallpiece "Erasmus" in St.Martins church of Linz/Rh (2004), earlier wallpieces in the Bonn Old Rotation (2002); in the Redoute of Bad Godesberg, or the pillar artworks from the cloister yard of the Bonn cathedral present parallel samples, of which, as in example of the farm of La Roche-sur-Grane, the rubbings of the original remain and again pose the question of the relationship between picture and image.
It is not lithomania which drives Susanne Krell, but her passionate search for art which is in effect spurred by spiritual ambition and forensic research, to bring into being the creations on which she is now working. Stones and their rubbings are, it appears, her close and her distant friends. With her intellectual power, her creative sense and care to travel light she tracks them down. To be convinced of a find, with each new trophy offering a new perspective, is pure evidence that her progress will continue without ever coming to a natural halt. So we expect Susanne Krell to live her life as an art nomad – to continue with the extraordinary temptation of talking to the stones and developing this experience in the creation of successful pictures.
Susanne Krell, in: ausgezeichnet, Künstlerinnen und Stifterin des Dr. Theobald Simon-Kunstpreises, Kat. Bonn 2005
Malerei und Frottage, in: Sammlung, Kat. Bonn 2005
...read
Dr. Irene Kleinschmidt-Altpeter
| Kunstmuseum Bonn
Malerei und Frottage: zur „Sammlung“ von Susanne Krell
in:
Sammlung, Kat. Bonn 2005
Als „Sammlung“ bezeichnet Susanne Krell ihre auf Zuwachs angelegten 120 farbigen kleinformatigen Leinwände (je 25 x 30 cm), die in den Jahren 2000 bis 2005 entstanden sind. Diese bedeuten für die Künstlerin so etwas wie ein selbst erarbeiteter Schatz oder ein Reservoir von Erprobungen und Recherchen, die jederzeit für neue Zielsetzungen nutzbar gemacht werden können.
Hierfür hat die Künstlerin umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Zur Spurensicherung gehören die Abreibungen ausgewählter Steine auf Papier oder Leinwand. Frau Krell führt sie auf eigenen Studienreisen durch oder bringt ausgewählte Steine mit ins Aegidienberger Atelier. Auch Steine, die Freunde von ihren Reisen offerieren, werden nicht verschmäht. Das Prinzip der Frottage ist uns durch die Vermittlung der Kunst der Surrealisten gegenwärtig. 1925 hat Max Ernst an einem verregneten Sommertag in der Bretagne der Holzmaserung eines Hotelfußbodens nachgespürt, indem er die Texturen durch Abrieb auf das Papier bannte. Es war seine Antwort auf die „écriture automatique“, die in der surrealistischen Literatur das Unbewusste freisetzte. Auch schon während des direkten Abpausens von pflanzlichen Blättern und Holzbohlen erfolgt ein Moment der Reflexion des Auswählens und des Positionierens, der in figürliche Darstellungen einmünden konnte. Ich denke dabei an den einzigartigen Zyklus von Max Ernsts „Histoire Naturelle“, 1926 in einer Auswahl als Lichtdruck erschienen. Susanne Krell hat nun das Mittel der Frottage in den Werkprozess ihrer „Sammlung“ integriert. Auf diese Weise kann sie den Moment des Zufall mit dem Ort der Erinnerung bündeln, und der Vorgang des Abreibens bleibt als Automatismus in seiner abstrakten Form erhalten.
Dies ist die eine Seite der kreativen Arbeit von Susanne Krell, die sie nicht nur für ihre „Sammlung“ verwendet, sondern auch für andere Gebiete, so unter anderem in Installationen. Aber da ist außerdem eine große Sensibilität für die Farbe und ihrer Wirkungsästhetik bei Susanne Krell. Schon in den neunziger Jahren entschied sie sich dazu, mit den Primärfarben Blau und Gelb kreativ umzugehen: Gelb als Farbe des Lichtes und Blau als meditative Farbe des Schwebens. Sie nutzte die spezifische Wirkungsweise der Farben auch für die Installation von 1997 in der Rommersdorfer Prämonstratenser-Abtei, die sie zusammen mit dem Künstler Manfred Bogner verwirklichte. Inspirierend war der genius loci, der eine besondere Raumwahrnehmung und -erfahrung ermöglichte. So produziert der Lichteinfall aus dem Obergaden-Fenster der Südwand auf dem Fußboden einen Hell-Gelb-Orangenen Lichtfleck, der mit der Sonne wandert. Von gleicher Farbigkeit waren die Wandkissen, die von den Besuchern zur Meditation genutzt werden durften, während die 24 Meter lange Ruhebank in der Mitte des Abteigebäudes mit Bluebox-Stoff in Königsblau bezogen war. Für den Besucher erschloss sich Materialität und Immaterialität insbesondere im Benutzen der Objekte.
Mit dem Wissen um die prozesshaften und malerischen Voraussetzungen erschließt sich die Genese der kleinformatigen Bilder. Erst die Experimente mit Blau und Gelb führten zu einer Farbigkeit von hoher Intensität, die auf den vorausgegangenen Arbeitsphasen mit Aquarellen nach Fotos sowie einer Anzahl von Blauvariationen aufbauen. Im ersten Arbeitsgang lässt Krell auf der grundierten Leinwand die Farben Gelb und Blau in starker Verdünnung ineinander fließen, in der zweiten Phase sucht die Künstlerin dann das, was der der Zufall herbeigeführt hat, zu verstärken. Auf diese Weise überlagern sich mehrere Farbschichten. Erst danach kommt die Frottage ins Spiel, die diese Farbschichten auch untereinander verbindet. Mit schwarzer Kreide „frottiert“ sie unmittelbar über den Acryl-Schichten, wofür sie vorher einen Stein ihrer Sammlung wählte.
Im Ergebnis kommt es zu einer erstaunlichen Varianz von Gelb und Blau sowie aus deren Mischung sich ergebenden Grüntönen. Durch die Integration der Frottage wird die Farbwirkung intensiviert und gleichzeitig erfahren die Farbmodulationen einen Halt. Die Steine, die die Künstlerin für ihre Frottagen verwendet, stammen aus aller Welt. So hat zum Beispiel eine Leinwand einen etruskischen Torbogen in Volterra berührt oder aber die Stein-Unterlage wurde aus „Dolmen Benzec“ mitgebracht. Kann es sein, dass etwas Magisches in den Bildprozess übergeht? Bekannterweise ist überliefert, dass christliche Devotionalien die Aufschrift „attigit“ (hat berührt) trugen, also die eigentliche Reliquie berührt hatten und somit die heilsbringende Kraft weitergeben konnten.
Der Betrachter kann über die jeweiligen Titel den Weg zurückverfolgen oder aber auch den Weg der inneren Konzentration in der Betrachtung gehen: Da die Leinwände erst nach Ende der intensiven Bearbeitung auf die 3,6 cm tiefen Keilrahmen gespannt werden, bewahren Sie den Moment der großen Konzentration als „all over“ oder als Objekt, das sich in der Meditation erschließt, und von seiner Entstehungsgeschichte berichtet.
Sichtbares bewußt machen – Unsichtbares sichtbar machen, in: Cover, Kat. art-in-situ, 2004
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Dr. Sabine Jung
| Leiterin des AsKI, Arbeitskreises selbständiger Kultur-Institute e.V., Bonn
Sichtbares bewußt machen – Unsichtbares sichtbar machen
in:
Cover, Kat. art-in-situ, 2004
Steine erzählen
Eine Maxime, die ganz besonders auf die Arbeiten der Künstlerin Susanne Krell zutrifft. Dabei gilt Steinen - seit Ende der 80er - ihr Hauptaugenmerk. Sie näherte sich dem Fazinosum Stein zunächst als Sammlerin. Keine magmatischen, metamorphe Gesteine auch keine Meteoriten im Geologische interessanten Rahmen, dafür Steine aus aller Welt - sammelten sich bei ihr, eher aus archäologischer und kultur-historischer Sicht - interessante Bruchstücke. Es entstand eine umfangreiche geradezu kaleidoskopische Sammlung, die aufgrund der natürlichen Sammlergrenze - dem Platz in den eigenen vier Wänden - in dieser Form endigte, jedoch als Frottagen ihre Fortsetzung findet.
So zogen 'Abdrücke' von Gemäuern, Gebäuden von Prophanem wie Sakralem in die Frottagen-Sammlung ein, als Abbilder unterschiedlicher Kulturräume und als Stellvertreter ihrer Ideengebäude ein: ob vom Roten Platz in Moskau oder der Chinesischen Mauer ob von einem Menhir in Carnac oder einem alten Gut in la Roche-sur-Grane.
Frottagen liefern Strukturen der Steinoberfläche, die auf einem Blatt Papier mit weichem Stift oder Kreide abgerieben besonders sichtbar werden. Diese 1924/25 von Max Ernst entwickelte graphische Technik eröffnet Susanne Krell immer wieder die Möglichkeit, ein Gebäude, seine Geschichte(n) für sich in Besitzzunehmen, und somit letztlich auch Geschichte sichtbar machen.
Dies geschieht dezent zurückhaltend, indem einzelne, meist von Menschenhand bearbeitet Steine, etwa als unscheinbarer Teil einer Mauer oder einer Hauswand innen oder außen mit dem gezeichneten Papier beklebt bleiben. Dabei verlieren die Steine ihre Schwere und gewinnen in den Abbildern ihrer Oberflächen die Leichtigkeit von Papierobjekten. Zudem erlangen sie eine neue optische Qualität und Haptik.
Diese so entstanden Bilder von Steinen erlauben einen Austausch besonderer Art. Der Reiz einer Wanderung, eines Tauschs, den Steine selbst nie in dieser Form erfahren, sie müssen am Ort verharren. Mit Blättern aus der Frottage-Sammlung der Künstlerin ist es möglich zu wandern. So kann ein Frottage - Blatt, abgenommen vom Stein einer moslemischen Moschee an einem christlichen Gemäuer hängen. Das verwebt Geschichte(n), liefert Denkanstöße und neue Sichtweisen auf vermeintlich Bekanntes. Dies geschieht zugleich mit einer Leichtigkeit des Temporären, einem charakteristischen Element der Arbeiten der Künstlerin.
In la Roche-sur-Grane sind es 19 Stationen, die den Besucher in unaufdringlicher Art und Weise um das Gebäude herumführen indem er die Frottage-Blättern sucht, gewahr wird und folgt. Sie machen Sichtbares bewusst und zugleich machen so ein Stückchen Leben eines anderen, eines Gewesenen sichtbar.
Sich ein Bild machen, in: Bildkörper, Kat. zur Ausstellungsreihe in RLP, 1996
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Dr. Ulrike Rein
| Pforzheim
Sich ein Bild machen
in:
Bildkörper, Kat. zur Ausstellungsreihe in RLP, 1996
”Sich ein Bild machen, eine Anschauung haben, macht uns zu Menschen - Kunst ist Sinngebung, Sinngestaltung, gleich Gottsuche und Religion. Wenngleich wir auch zu wissen vermögen, daß alle Sinngebung und Bildmachung künstlich und wie Illusion ist, können wir nie darauf verzichten. Denn das Glauben (Erdenken und Besinnen des Gegenwärtigen und Zukünftigen) ist unsere wichtigste Eigenschaft”. Gerade wenn wir diese Aussage Gerhard Richters ernst nehmen, gewinnen die Bilder von Susanne Krell an Gewicht. Wie sehr das Bildermachen zum Menschsein gehört, kann das Betrachten ihrer Arbeiten von Anbeginn an nachvollziehen. Und diese Anfänge nehmen ja Bezug auf Steine, die tatsächlich vorhanden sind, irgendwo greifbar, fühlbar und zu betasten. Greifbar sind auch die Bildkörper, die Susanne Krell zu Trägern ihrer Bildvorschläge macht, zu Flächen der Bilder, die sich andere machen wollen, zu Räumen von ahnendem Erkennen, und der sich stets erneuernden Aufforderung, Bilder zu entdecken. Dieses Bildersuchen, Bilderfinden, Bildermachen - mag es auch noch so abgründig sein - es ist eine Aufgabe, die niemals erledigt sein wird.
Archäologie des Leibes – Susanne Krells Frauenkörperbilder, in: Frauenbilder, Kat. Bad Honnef 1991
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Dr. Peter V. Brinkemper
Philosoph und Medienkritiker | Köln
Archäologie des Leibes – Susanne Krells Frauenkörperbilder
in:
Frauenbilder, Kat. Bad Honnef 1991
Das elektronische Zeitalter hat den schwerer industrieller Arbeit entledigten Körper neuen Zwängen unterworfen: Dem Aufzeichnungsdruck der Massenmedien. Photographische Blitzlichtgewitter sind von den zeitbeschleunigenden Cuts der Videoclips überholt worden; bis in die unbewusstesten Regungen schrumpfen Formen und Gesten des menschlichen Leibes zu reproduzierbaren Signalen, die gewinnträchtig um den Globus rasen. Die Mode ist längst unter die Haut gekrochen, nicht nur die Kleidung, die Körper wurden zu aggressiven Emblemen, die Aufmerksamkeit und Konsumverhalten des Publikums steuern sollen.
Susanne Krells Frauenbilder widerstehen der televisionären Versendung schnittiger Körperbilder und dem käuflichen Kult der lifegestylten aktive bodies. Sie präsentieren die Fragmente einer Erfahrung, die kein ganzheitlich zugespitzter Look erledigen kann. In ihnen sedimentieren sich Wahrnehmungen von Allmählichkeiten, sensible Abtastvorgänge, die in eine noch nicht von Scheinwerfern ausgeleuchtete Zone führen wollen. Das Undarstellbare nicht ins Schlaglicht zu zerren, sondern als sublime Möglichkeit anzusprechen, dazu bedarf es einer distanzierten Darstellungsfigur: Im Torso durchkreuzen sich Körperlichkeit, Natur, Kunst und Geschichte im vielfachen Sinne. Der Torso ist Ruine oder Fragment, archäologisches Bruchstück oder künstlerischer Entwurf, Mahn- und Wundmahl einer verloren geglaubten Zeit, oder Wegweiser einer zukünftigen Vision.
Graphisch oder plastisch - Krells Werke sind Torsi, verwitterte Ruinen und unfertige Fragmente in einem. Museal blicken sie auf imaginäre Vor- und Frühgeschichte zurück, weisen sie auf Funde und Befunde, auf Ausgrabungen zur Natur- und Kulturgeschichte des Körpers hin - und doch präsentieren sie zugleich, in experimentellen Techniken keramischer Brennkunst, graphischer Ätzung und gattungsübergreifender Assemblage, futuristische Einblicke in zugrundeliegende, unabgeschlossene, auch angehaltene Umgestaltungsprozesse. Susanne Krells Ästhetik des weiblichen Torsos nimmt den Frauenkörper nicht mehr als Ort und Topos des traditionell Schönen und Anmutigen im klassischen Sinne, als Verkörperung einer männlich-don-juanesken Geometrie von Form und Harmonie in Besitz. Vielmehr werden visuelle Standards als eingerahmt-austauschbarer Blickwinkel der Distanz kritisierbar, wenn die Körperlichkeit dem individuellen Fluß und den besonderen Beugungen des Materials selbst anvertraut wird, der Macht der Verhältnisse, dem Druck der Umstände, der Spannung der Proportionen, der Dynamik von Formung, Senkung, Deformierung der Terrakotta.
Daher sind die Torsi arbeitende, leidende, ins Netz der Geschichte verstrickte Körper - stellen sie diese nicht bloß, als Modelle oder Akteure, dar. Sie haben keine angegebene Rolle zu spielen, sie sind weder als identifizierbare Portraits, noch als deutbare ldeen- und Handlungsträger, noch als kopierbare Prototypen vorkonzipiert. In und mit den Körpern arbeitet das Material, kommt der Sedimentierungsprozeß der Stoffe zur Erscheinung, will der Ton in allen seinen Rissen und Sprüngen, seinen ungegenständlichen, ja organlos-antikörperlichen Tendenzen als illusionsloser Körper im Körper entdeckt werden.
Auf steinernem oder metallischen Untergrund gebannt, führt der archäologische Anblick der Frauenkörperbilder tief in die malerisch-expressive, plastische und installative Dimensionen eines offenen Kunstprozesses hinein, zielt er nicht auf abschließende Objektivation disziplinierter Körperlichkeit, sondern eröffnet er naturhaft die scheinlose Erfahrung leiblicher Existenz, Anstrengung und Konzentration.
Frauenbilder, in: Frauenbilder, Kat. Bad Honnef 1991